Prüfzuständigkeit für Abschiebungsverbote im Rahmen eines Ausweisungsverfahrens

In seinem Urteil vom 26. Juli 2022 (Az. OVG 2 B 2/20) hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren entschieden, dass Gefahren im Herkunftsstaat, die die Schwelle zu einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG überschreiten würden, bei einer Ausweisung im Rahmen der Interessenabwägung auch dann nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn in dem Verfahren keine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge besteht.

Das OVG will die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach solche Gefahren im Ausweisungsverfahren jedenfalls dann nicht berücksichtigt werden dürfen, wenn eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des BAMF besteht (siehe Urteil vom 16. Februar 2022, Az. 1 C 6.21), offenbar auch in Verfahrenskonstellationen anwenden, in denen der Ausländer weder in der Vergangenheit ein Asylverfahren durchlaufen noch aktuell sinngemäß ein Asylbegehren anhängig gemacht hat. Statt einer bloßen Beteiligung des BAMF gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG soll der Ausländer insgesamt auf die Durchführung eines Asylverfahrens verwiesen werden.

Nach der Systematik des Aufenthaltsgesetzes, so das OVG, sei zwischen Aufenthaltsrechten einerseits und Vollzugshemmnissen andererseits zu unterscheiden, wobei bloße Vollzugshemmnisse grundsätzlich keine Berechtigung zum Aufenthalt begründeten. Es würde zu einer unklaren Durchbrechung dieser aufenthaltsrechtlichen Systematik führen, wenn lediglich zeitweilig vollzugshemmende Hindernisse bereits bei der Ausweisung und nicht erst bei der Frage der Abschiebung berücksichtigt würden, zumal anerkannt sei, dass der Zweck einer Ausweisung auch in der bloßen Verschlechterung der aufenthaltsrechtlichen Position eines Ausländers liegen könne. Gegen die Berücksichtigung der genannten Gefahren im Herkunftsstaat auch in Fällen der vorliegenden Art spreche zudem, dass es der Ausländer anderenfalls in der Hand hätte, selbst den gerichtlichen Umfang der rechtlichen Überprüfung einer Ausweisungsverfügung zu bestimmen, indem er einen Asylantrag stelle oder von der Stellung eines solchen Asylantrags gerade absehe.

Das OVG hat in seinem Urteil außerdem ausgeführt, dass eine Ausweisung gemäß §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aus generalpräventiven Gründen nur in Betracht komme, wenn bei der jeweils in Rede stehenden Straftat nach der Lebenserfahrung damit zu rechnen sei, dass sich andere Ausländer von einer Ausweisung beeindrucken lassen. Daran fehle es regelmäßig etwa bei Anlasstaten, denen keine übergreifende Bedeutung beizumessen sei, namentlich bei Hang- oder Leidenschaftstaten, denen kein rational gesteuertes Verhalten zugrunde liege.

Das OVG hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

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ISSN 2943-2871