Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 4. Mai 2023 (Az. 4289/21), A.C. u. M.C. gg. Frankreich die neuntägige Inhaftierung eines siebeneinhalb Monate alten Kindes mit seiner Mutter in französischer Dublin-Überstellungshaft als mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar betrachtet. Die Dauer der Inhaftierung habe bezüglich des Kindes und seiner Mutter zu einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und bezüglich des Kindes außerdem zu einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 5 EMRK geführt.
Die Entscheidung ist unter anderem deswegen lesenswert, weil Richterin Elósegui in einem Sondervotum einerseits den Versuch unternimmt, die Dogmatik des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK im Fall der Inhaftierung eines Elternteils mit seinem Kind zu schärfen. Sie schlägt vor, weniger an die „untrennbaren Bindungen zwischen der Mutter und ihrem Kind und die Emotionen, die sie teilen“ anzuknüpfen, sondern stattdessen auf das Kindeswohl abzustellen, das unter anderem in der UN-Kinderrechtskonvention als Maßstab verwendet wird. Andererseits fällt das Sondervotum mit der wenigstens sonderbaren Argumentation auf, dass die Inhaftierung der Mutter das Ergebnis ihres eigenen Fehlverhaltens sei, nämlich ihrer Weigerung, den Überstellungsflug anzutreten. Sie könne darum vom Staat keine Haftbedingungen verlangen, die hohen Standards entsprechen, was in Bezug auf die von ihr behauptete Verletzung von Artikel 3 EMRK umso mehr gelten müsse.