Wie beim Europäischen Gerichtshof üblich stelle man sich ein etwas unübersichtliches aufenthaltsrechtliches Szenario vor, in dem zunächst der Asylantrag einer Ausländerin abgelehnt wird und gegen sie eine Rückkehrentscheidung – nach deutschem Verständnis eine Abschiebungsandrohung – ergeht. Die Ausländerin beantragt sodann einen humanitären Aufenthaltstitel. Das nationale Recht sieht vor, dass sie bis zur Entscheidung über ihren Antrag ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht erhält – so etwas wie eine Fiktionsbescheinigung. Irgendwann wird ihr Antrag auf einen humanitären Aufenthaltstitel abgelehnt. Darf das nationale Recht in einem solchen Szenario davon ausgehen, dass die ursprünglich ergangene Rückkehrentscheidung endgültig aus der Welt ist, oder muss sie wieder in Kraft treten? Muss sie nicht, meint der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. Oktober 2022 (Rs. C-825/21). Er habe das zwar mal so entschieden, nämlich in seinem Urteil vom 15. Februar 2016 (Rs. C‑601/15 PPU), das sei aber in einem anderen Kontext gewesen. Art. 6 Abs. 4 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG erlaube es den Mitgliedstaaten jedenfalls, eine Rückkehrentscheidung auch stillschweigend aufzuheben, wenn ein – auch nur vorübergehender – Aufenthaltstitel erteilt werde. In seinem Urteil von 2016 sei es dagegen nicht um einen Aufenthaltstitel gegangen, sondern um Asylfolgeanträge.
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