Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg meint in seinem Beschluss vom 30. Mai 2023 (Az. 8 LA 76/22), dass sich ein Verfahrensbeteiligter, der an der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht teilgenommen hat, im Berufungszulassungsverfahren nicht darauf berufen kann, dass sein Prozessgrundrecht des rechtlichen Gehörs verletzt wurde. Die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und die Darlegung seines Rechtsstandpunktes im Rahmen der Erörterung des Sach- und Streitstandes gehörten zu den zumutbaren Pflichten des Verfahrensbeteiligten, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
Im entschiedenen Verfahren war der Vertreter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen, hatte keine Terminsverlegung beantragt und sein Nichterscheinen auch nicht entschuldigt.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 22. Juni 2022 (Rs. C-823/21) festgestellt, dass Ungarn gegen seine Verpflichtung aus Art. 6 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU verstoßen hat, indem es die Möglichkeit, in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, von der vorherigen Abgabe einer Absichtserklärung bei einer ungarischen Botschaft in einem Drittstaat und der Erteilung eines Visums zur Einreise nach Ungarn abhängig gemacht hat. Es ergebe sich aus Art. 6 der Asylverfahrensrichtlinie, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht habe, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, auch an den Grenzen eines Mitgliedstaats, indem er bei einer der in diesem Artikel genannten Behörden seine Absicht bekunde, internationalen Schutz in Anspruch zu nehmen, ohne dass die Bekundung dieser Absicht von irgendeiner Verwaltungsformalität abhängig gemacht werden dürfe. Dieses Recht sei ihm auch zuzuerkennen, wenn er sich illegal im Hoheitsgebiet aufhalte und ohne dass es auf die Erfolgsaussichten eines solchen Antrags ankomme. Außerdem werde Schutzsuchenden durch das ungarische Verfahren das Recht aus Art. 18 GRCh vorenthalten, tatsächlich um Asyl nachsuchen zu können.
Das Urteil des EuGH erging in einem von der Europäischen Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren. Ungarn hatte das Botschaftsverfahren 2020 als eine Art „Ersatz“ für die Transitzonen an den ungarischen Grenzen eingeführt; die Absicht zur Stellung eines Asylantrags konnte nur in den ungarischen Botschaften in Serbien oder in der Ukraine bekundet werden. Der Europäische Gerichtshof hat zu seinem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Einem gesunden tschetschenischen Mann droht in Russland Zwangsrekrutierung für einen völkerrechtswidrigen Kampfeinsatz in der Ukraine, sagt das Verwaltungsgericht Halle (Saale) in seinem Urteil vom 27. April 2023 (Az. 5 A 299/21 HAL), und hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Das Oberverwaltungsgericht Münster hat in seinem Beschluss vom 13. Juni 2023 (Az. 14 A 156/19.A) entschieden, dass einfachen Militärdienstentziehern im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Ebenso drohe Syrern im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung wegen des illegalen Verlassens des Landes, wegen eines gestellten Asylantrags und Aufenthalts im westlichen Ausland oder wenn sie aus einem (ehemaligen) Rebellengebiet stammen oder sich dort längere Zeit aufgehalten haben. Auch Kurden und Yeziden drohe in Syrien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den syrischen Staat oder den Islamischen Staat. Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, in denen eine Rückkehrgefährdung geschildert werde, seien wegen der geringen Zahl von dort untersuchten Einzelfällen nicht repräsentativ für alle Rückkehrer nach Syrien und nicht geeignet, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung von Rückkehrern abzuleiten.
Das Fehlen einer dauerhaften Unterkunft begründet typischerweise eine Situation extremer materieller Not, meint das Verwaltungsgericht Braunschweig in seinem Beschluss vom 15. Juni 2023 (Az. 2 B 140/23). Die Annahme einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung könne nicht verneint werden, indem anerkannte Schutzberechtigte darauf verwiesen würden, zeitweise Notschlafstellen in Anspruch zu nehmen oder in informellen Siedlungen zu kampieren.
Die Entscheidung des VG Braunschweig betrifft die Situation in Griechenland, ist vom Gericht aber sicherlich umfassender gemeint. Insbesondere setzt sich das Gericht ausführlich mit der gegenteiligen Ansicht des OVG Koblenz in seinem Italien betreffenden Urteil vom 27. März 2023 (Az. 13 A 10948/22) auseinander. Die Wertung durch das OVG Koblenz entbehre jeder sachlichen Grundlage und widerspreche der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Das OVG gehe offenbar davon aus, dass es anerkannten Flüchtlingen zumutbar sei, ein Leben auf der Straße zu führen, sofern sie die Nächte dabei gelegentlich in Notschlafstellen verbringen können. Im Übrigen hätte das OVG seiner Entscheidung eine unzutreffende Definition von Obdachlosigkeit zugrunde gelegt, denn diese sei, im Gegensatz zum weiteren Oberbegriff der Wohnungslosigkeit, davon gekennzeichnet, dass Menschen im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten müssten.
Das Oberverwaltungsgericht Münster geht in seinem Beschluss vom 7. Juni 2023 (Az. 11 A 2343/19.A) davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien derzeit systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-Verordnung aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden seit nunmehr einem halben Jahr nicht bereit sind, Dublin-Rückkehrer (wieder)aufzunehmen und ihnen somit den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigern.
Die Tatsache, dass Italien nach dem Vortrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in anderen Verfahren weiterhin Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteile, führe ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung, denn diese Erklärungen hätten offensichtlich keinen Einfluss auf die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens. Wenn in anderen Verfahren ausgeführt werde, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien nicht ausgelastet seien, spreche das letztlich dafür, dass die Begründung für die Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben sei.
Soweit in der Rechtsprechung zum Teil davon ausgegangen werde, dass die Nichtübernahme durch die italienischen Behörden zum Ablauf der Überstellungsfrist und damit zum Zuständigkeitsübergang auf Deutschland führen werde, dies aber den Schutzsuchenden ausschließlich zum Vorteil gereiche, mit anderen Worten keine Rechtsverletzung vorliegen solle, werde übersehen, dass die Kläger im Falle der Klageabweisung aufgrund der dann bestandskräftigen Ablehnung ihres Asylantrags zur Ausreise verpflichtet wären.
Das Verwaltungsgericht München hält in seinem Beschluss vom 15. Juni 2023 (Az. M 10 S 23.50591) das Argument, dass Dublin-Rückkehrer nach Kroatien von Pushbacks und Kettenabschiebungen nicht betroffen seien, für jedenfalls zweifelhaft. Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räume Schutzsuchenden keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern sie seien gemäß Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung wie Erstantragsteller zu behandeln. Es wäre nur dann gerechtfertigt, die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, wenn es gelänge, positiv zu beweisen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren nicht drohen, denen sämtliche anderen Schutzsuchenden in Kroatien ausgesetzt seien.
Die Erteilung einer Verfahrensduldung und die mögliche Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts kommen auch dann in Betracht, wenn ein Ausländer in der Vergangenheit über seine Identität getäuscht hat, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 1. Juni 2023 (Az. 2 M 49/23). § 104c Abs. 1 Satz 2 AufenthG setze voraus, dass die Abschiebung aus Gründen, die im Verantwortungsbereich des Ausländers liegen, nicht durchgeführt werden könne. Eine Falschangabe oder Täuschung müsse daher kausal für die aktuelle Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung sein; das sei dann nicht der Fall, wenn der Ausländer eine in der Vergangenheit liegende Identitätstäuschung aufgegeben und seine Identität offenbart habe.
Der Europäische Gerichtshof hält in seinem Urteil vom 22. Juni 2022 (Rs. C-711/21 und C-712/21) zwei vom belgischen Conseil d’État eingereichte Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil die vorgelegten Fragen offenbar nicht mehr entscheidungserheblich seien, nachdem den betroffenen Ausländern von nationalen belgischen Behörden zwischenzeitlich ein Aufenthaltsrecht erteilt wurde. Soweit der Conseil d’État darauf hingewiesen habe, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens umstritten sei, ob das Rechtsschutzinteresse der betroffenen Ausländer entfallen sei, reiche eine solche bloße Bezugnahme auf den Standpunkt einer Partei des Ausgangsverfahrens nicht aus, um die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen zu erhalten. Wenn nämlich das vorlegende Gericht lediglich die Argumente einer Partei anführe, gebe dies keinen Aufschluss darüber, inwieweit es sich diese Argumente zu eigen machen wolle und ob es aus diesen Argumenten folgere, dass eine Beantwortung der gestellten Frage für den Erlass seiner Entscheidung erforderlich sei.
Eine Anordnung von Ausreisegewahrsam ist nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 25. April 2023 (Az. XIII ZB 7/21). Im entschiedenen Verfahren habe der Haftrichter sein Ermessen überhaupt nicht ausgeübt, der Haftbeschluss enthalte weder Ausführungen zur Interessenabwägung noch Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit des Ausreisegewahrsams. Dieser Mangel habe im Beschwerdeverfahren nicht mehr geheilt werden können, weil die hierfür erforderliche persönliche Anhörung des Betroffenen nicht mehr nachgeholt werden konnte.