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Ausgabe 112 • 8.9.2023

Besonnene Menschen

Mit Bezug zu Eritrea geht es in dieser Woche um besonnene, verständige, vernünftig denkende Menschen. Außerdem um eine (erfolglose) Klage gegen Frontex, Untiefen des Flughafenverfahrens, Kostenerstattung für Dokumentenbeschaffung und Übersetzungen im Asylverfahren und menschenrechtswidrige Wiedereinreisesperren.

Bewegung in der Eritrea-Rechtsprechung

In die deutsche obergerichtliche Rechtsprechung zur Menschenrechtssituation in Eritrea kommt Bewegung. Bereits in der vergangene Woche (siehe HRRF-Newsletter Nr. 111) wurde an dieser Stelle über das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 18. Juli 2023 (Az. 4 LB 8/23) berichtet, in dem bei drohender Einberufung in den eritreischen Nationaldienst subsidiärer Schutz angenommen wurde.

Das Oberverwaltungsgericht Greifswald fühlt sich nun in seinem Urteil vom 17. August 2023 (Az. 4 LB 145/20 OVG) bemüßigt, in einem Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt andere Maßstäbe anzulegen, und hat in dem Verfahren einer Berufung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge stattgegeben und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Struktur des Nationaldienstes in Eritrea begünstige zwar das Auftreten von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, so das OVG Greifwald, allerdings werde die Wahrscheinlichkeit des Auftretens solcher Behandlung dadurch gemindert, dass der eritreische Staat ein Interesse an der Aufrechterhaltung und Integrität des Nationaldienstes habe und dafür die Bedingungen im Nationaldienst verbessere. Außerdem sei davon auszugehen, dass die überwiegende Zahl der Dienstpflichtigen im zivilen Teil des Nationaldienstes eingesetzt werde, in dem eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung „weit weniger“ zu erwarten sei als im militärischen Teil.

In ausdrücklicher Abgrenzung zum o.g. Urteil des OVG Lüneburg führt das OVG Greifswald zum Thema der Reueerklärung aus, dass deren Abgabe eritreischen Staatsangehörigen flüchtlingsrechtlich nicht allgemein unzumutbar sein soll, weil sie keine Selbstbelastung im strafrechtliche Sinne darstelle. In dem Zwingen zu einem Reuebekenntnis liege zwar eine Herabsetzung des Unterzeichners, dabei müsse jedoch „jedem verständigen eritreischen Staatsangehörigen in der Position eines objektiven Dritten“ klar sein, dass ein solches Bekenntnis nicht ernst gemeint sei. Der abweichende rechtliche Maßstab, von dem das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil v. 11. Oktober 2022 (Az. 1 C 9.21) ausgegangen sei, lasse sich auf das vorliegende Verfahren nicht übertragen. Soweit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Annahme zugrunde liege, dass in der Abgabe der Reueerklärung neben einem Loyalitätsbekenntnis zugleich auch eine unzulässige Selbstbelastung liege, beruhe diese Annahme auf einer gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellung des Berufungsgerichts [nämlich wiederum des OVG Lüneburg], der sich das erkennende Gericht ausdrücklich nicht anschließe.

Demgegenüber bewegt sich das Oberverwaltungsgericht Bautzen eher auf der Lüneburger Linie und geht in seinem ausführlich begründeten Urteil vom 19. Juli 2023 (Az. 6 A 178/21.A) davon aus, dass bei drohender Einberufung in den militärischen Teil des Nationaldienstes die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vorliegen. Eritreer ohne ausländischen Pass oder gültige Aufenthaltserlaubnis im Ausland liefen bei Rückkehr nach Eritrea Gefahr, den von der Nationaldienstpflicht befreienden Diaspora-Status nicht zu erhalten und zur militärischen Ausbildung und nachfolgenden Ableistung des Nationaldienstes einberufen zu werden. Die im militärischen Teil des eritreischen Nationaldienstes verbreiteten Verletzungen der Menschenrechte aus Art. 3 EMRK seien geeignet, bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen, dem seine Einberufung drohe, Furcht vor einem ernsthaften Schaden hervorzurufen. In Anbetracht der unerträglichen Schwere der Maßnahme, ihrer willkürlichen Verhängung sowie auch der willkürlich langen und nicht berechenbaren Dienstdauer sei dem Kläger die Hinnahme des ihm dort drohenden realen Risikos unmenschlicher Behandlung und willkürlicher Anordnung von Folter nicht zumutbar, da auch ein verständiger Mensch in seiner Lage ein derartiges Risiko nicht außer Betracht lassen würde.

Erneut Klage gegen Frontex abgewiesen

Das Gericht der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 6. September 2023 (Rs. T-600/21) eine zweite Klage gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex abgewiesen, in der es um die Beteiligung von Frontex an mutmaßlich rechtswidrigen Zurückschiebungen von Schutzsuchenden von Griechenland in die Türkei ging. In der Klage hatten Schutzsuchende Schadensersatzforderungen in Höhe von insgesamt mehr als 130.000 Euro geltend gemacht und argumentiert, dass Frontex im Rahmen der Beteiligung an den Zurückschiebungen Verpflichtungen im Bereich des Grundrechtsschutzes nicht beachtet habe und dies ursächlich dafür gewesen sei, dass die klagenden Schutzsuchenden letztlich rechtswidrig in die Türkei zurückgeführt worden seien und einen in Geld bezifferbaren Schaden erlitten hätten.

Anders als bei der ersten gegen Frontex erhobenen Klage, die das Gericht im April 2022 als unzulässig abgewiesen hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 44), hielt das Gericht diese Klage zwar für zulässig, allerdings für unbegründet. Frontex unterstütze Mitgliedstaaten wie Griechenland technisch und operativ, sei aber nicht für die Prüfung von Asylanträgen oder Rückkehrentscheidungen verantwortlich, so dass das Verhalten von Frontex nicht ursächlich für den Schaden sei, den die Kläger geltend gemacht hätten. Außerdem seien die geltend gemachten Schadenspositionen, darunter Kosten für Wohnungsmiete in der Türkei und im Irak und für an Schleuser gezahlte Beträge, jedenfalls keine direkt aufgrund des Verhaltens von Frontex entstandene Schäden, sondern bloße Aufwendungen, die die Kläger selbst veranlasst hätten, so dass sie schon deswegen nicht ersatzfähig seien.

Das Gericht hat zu seinem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsmittel zum Europäischen Gerichtshof eingelegt werden.

In den Untiefen des Flughafenverfahrens

Ein Asylverfahren ist gemäß § 18a Abs. 1 S. 2 AsylG unter anderem dann als Flughafenverfahren durchzuführen, wenn ein Schutzsuchender bei der Grenzbehörde auf einem Flughafen um Asyl nachsucht und sich dabei nicht mit einem gültigen Pass oder Passersatz ausweist. Was bei der Prüfung der Voraussetzungen dieser harmlos erscheinenden Vorschrift so alles schiefgehen kann, zeigt sehr schön der ausführlich begründete Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 17. August 2023 (Az. M 28 E 23.31592), der der Bundespolizei am Flughafen München drei unterschiedliche Rechtsanwendungsfehler nachweist.

Zunächst bedeute das „sich ausweisen“ nämlich nicht, dass der Schutzsuchende einen Pass oder Passersatz aktiv vorzeigen müsse, wie die Bundespolizei annahm, sondern sei es ausreichend, wenn der Pass oder Passersatz bei ihm gefunden werde, wie im entschiedenen Verfahren die türkische Identitätskarte in den Socken des Betroffenen. Sodann führe § 18a Abs. 1 S. 2 AsylG nur dann ins Flughafenverfahren, wenn Pass oder Passersatz nicht schon zum Zeitpunkt des Nachsuchens um Asyl vorlägen („dabei“), sondern erst später, was im gerichtlichen Verfahren allerdings nicht mehr aufgeklärt werden konnte. Das Argument der Bundespolizei, dass es sich bei der türkischen ID-Karte nicht um einen „Pass oder Passersatz“ im Sinne von § 18a AsylG handele, weil die türkische ID-Karte nicht in der Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern vom 6. April 2016 über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes aufgeführt sei, sei schließlich unbeachtlich. Es sei zwar richtig, so das Verwaltungsgericht, dass türkische ID-Karten dort nicht genannt würden, allerdings komme es darauf nicht an, weil die Türkei bei Rückführungen türkische ID-Karten als Identitäts- und Staatsangehörigkeitsnachweis akzeptiere und dieser Umstand dem Regelungszweck von § 18a AsylG ausreichend Rechnung trage.

Da das Bundesamt den Asylantrag im entschiedenen Verfahren als offensichtlich unbegründet abgelehnt hatte, war für den Erfolg des vom Betroffenen beantragten einstweiligen Rechtsschutzes gemäß §§ 18a Abs. 4 S. 6, 36 Abs. 4 AsylG noch erforderlich, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der inhaltlichen Ablehnung des Asylantrags bestanden. Die hatte das Verwaltungsgericht.

Kostenerstattung für Dokumentenbeschaffung im Herkunftsland und Übersetzung

Kosten für die Beauftragung einer Rechtsanwältin im Herkunftsland des Asylklägers zur Beschaffung von Dokumenten sowie für die Übersetzung von nicht in deutscher Sprache abgefassten Dokumenten sind erstattungsfähig, wenn sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, meint das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 31. Juli 2023 (Az. 26 K 424/20.A), in dem es diese Voraussetzungen für das entschiedene Verfahren bejaht hat. Die Beauftragung einer Rechtsanwältin in der Türkei sei notwendig gewesen, um amtliche Dokumente aus Ermittlungsverfahren gegen den Kläger zu beschaffen, die auf anderem Weg nicht zu erlangen gewesen wären. Die Relevanz der Unterlagen für die Begründung der Klage sei dadurch bestätigt worden, dass das Gericht das stattgebende Urteil entscheidend unter Bezugnahme auf diese Dokumente begründet habe.

Ein Kläger dürfe die Vorlage einer Übersetzung von in einer anderen Sprache abgefassten Dokumenten, auf die er seine Klage maßgeblich stütze, außerdem regelmäßig für erforderlich halten, da er auch unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes ansonsten das Risiko eingehe, dass die Dokumente wegen der deutschen Gerichtssprache unbeachtet blieben. Die Übersetzung durch „Laienübersetzer“ aus dem Umfeld des Klägers wäre demgegenüber nicht geeignet gewesen, um das Gericht zuverlässig und präzise über den Inhalt der Dokumente zu informieren, weil die Übersetzung die Gewähr dafür bieten müsse, dass sie im Detail mit dem Original übereinstimme, damit eine Entscheidung des Gerichts darauf gestützt werden könne.

Menschenrechtswidrige Wiedereinreisesperren in Dänemark

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in zwei Urteilen vom 5. September 2023 (Az. 44810/20, Noorzae gg. Dänemark, sowie Az. 31434/21, Sharifi gg. Dänemark) festgestellt, dass Dänemark die Rechte der beiden Beschwerdeführer aus Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt hat, indem es sie nach ihrer Verurteilung wegen in Dänemark verübter Straftaten ausgewiesen und zusätzlich eine jeweils zwölfjährige Wiedereinreisesperre verhängt hatte. Die Beschwerdeführer seien in Dänemark aufgewachsen, stellten keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, außerdem sei ihnen die Ausweisung nicht angedroht worden und seien die wegen ihrer strafrechtlichen Verurteilungen verhängten Strafen relative milde ausgefallen. Vor diesem Hintergrund sei die Verhängung einer zwölfjährigen Wiedereinreisesperre unverhältnismäßig gewesen.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

Mit Beschluss vom 1. August 2023 (Az. 1 C 11.22) hat das Bundesverwaltungsgericht ein weiteres Revisionsverfahren unter Verweis auf die beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsverfahren C-123/23 (Khan Yunis) und C-202/23 (Baabda u. a.) ausgesetzt. In den vor dem EuGH anhängigen Verfahren geht es darum, ob § 71a Abs. 1 AsylG mit der EU-Asylverfahrensrichtlinie vereinbar ist, wenn ein Asylantrag als Zweitantrag mit der Begründung abgelehnt wird, dass bereits in einem anderen EU-Staat außer Dänemark oder Irland ein Asylverfahren durchgeführt wurde (siehe auch HRRF-Newsletter Nr. 109 mit einer ausführlichen Darstellung).