Ausgabe 120 • 3.11.2023

Anschlussüberstellung

Die Diskussion um die Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Kroatien reißt nicht ab. In dieser Woche weist etwa das VG Chemnitz auf eine interessante Inkonsistenz in der Argumentation kroatischer Behörden hin. Außerdem geht es unter anderem um die Unionsrechtskonformität von § 34a AsylG, die Zulässigkeit der Beschwerde beim Dublin-Eilrechtsschutz gegen Ausländerbehörden, die freiwillige Ausreise in andere EU-Staaten und um den Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts bei drohender Familientrennung. In der kommenden Woche wird ausnahmsweise kein Newsletter erscheinen, sondern erst wieder am 17. November 2023.

Neue Zweifel an Kroatiens Dublin-Konformität

Auf ein interessantes Detail in Zusammenhang mit Dublin-Überstellungen nach Kroatien weist das Verwaltungsgericht Chemnitz in seinem in einem Eilverfahren ergangenen Beschluss vom 25. Oktober 2023 (Az. 4 L 235/23.A) hin. Es bestünden zumindest Zweifel, ob Kroatien seinen Verpflichtungen aus der Dublin-III-Verordnung nachkomme, weil es im konkreten Verfahren seine Zuständigkeit ausdrücklich auf Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-Verordnung gestützt habe, obwohl das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf die Zuständigkeit Kroatiens aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin-III-Verordnung hingewiesen habe. Art. 18 Dublin-III-Verordnung setzt eine feststehende Dublin-Zuständigkeit voraus und verpflichtet den zuständigen Dublin-Staat unter anderem dazu, das Asylverfahren fortzuführen und abzuschließen, während Art. 20 Dublin-III-Verordnung von einer Situation ausgeht, in der der zuständige Dublin-Staat noch nicht feststeht und dementsprechend der Staat, der einen Schutzsuchenden im Wege einer Dublin-Überstellung wieder aufgenommen hat, möglicherweise nicht für die Durchfühung des Asylverfahrens zuständig ist.

Die Wahl einer falschen Rechtsgrundlage, so das Verwaltungsgericht, sei ein Indiz dafür, dass Kroatien versuche, seine Zuständigkeit und die damit einhergehenden Rechtspflichten zu unterlaufen, indem es ausführe, dass das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats fortgeführt werden müsse, obwohl sich wegen eines Eurodac-Treffers unter keinem Gesichtspunkt die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats als die Kroatiens ergeben könne. Es erscheine daher möglich, dass Kroatien eine Anschlussüberstellung nach Bosnien und Herzegowina anstrebe oder sich dies zumindest offenhalte. Auf die Argumentation Kroatiens mit einer falschen Rechtsgrundlage hatte bereits das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 28. Juni 2023 (Az. M 10 S 23.50657) hingewiesen.

§ 34a AsylG unionsrechtskonform

Das Oberverwaltungsgericht Koblenz versucht sich in seinem Beschluss vom 31. August 2023 (Az. 13 A 11158/22) an einer Auslegung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 22. September 2022 (Rs. C-245/21, C-248/21), in dem es um die Frage ging, unter welchen Voraussetzungen sich behördliche Aussetzungen von Dublin-Überstellungen auf den Lauf der Überstellungsfristen auswirken. Dieses Urteil, so das Oberverwaltungsgericht, führe nicht zur Unionsrechtswidrigkeit von § 34a AsylG. Der Europäische Gerichtshof habe lediglich entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine behördliche Aussetzung von Dublin-Überstellungen die Überstellungsfrist unterbreche. Eine nationale Aussetzungsentscheidung, die den Vorgaben des Unionsrechts nicht entspreche, unterbreche den Lauf der Überstellungsfrist eben nicht, sei deswegen aber auch nicht rechtswidrig.

Kein Beschwerdeausschluss bei Dublin-Rechtsschutz gegen Ausländerbehörde

Der Beschwerdeausschluss nach § 80 AsylG greift nicht, wenn im Falle einer im Rahmen eines Dublin-Verfahrens ergangenen Abschiebungsanordnung effektiver Eilrechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung durch einen Antrag erreicht werden soll, der gegen den Rechtsträger der die Abschiebung vollziehenden Behörde gerichtet ist, meint der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 5. Oktober 2023 (Az. 11 S 884/23). Es handele sich nicht um eine Streitigkeit nach dem Asylgesetz, stattdessen sei unmittelbar Art. 19 Abs. 4 GG einschlägig und anwendbar.

Freiwillige Ausreise in anderen EU-Staat hat Vorrang vor Abschiebung

Verfügt ein Drittstaatsangehöriger, der sich in Deutschland aufhält, über einen Aufenthaltstitel in einem anderen EU-Mitgliedstaat, ist die Androhung seiner Abschiebung in diesen anderen EU-Mitgliedstaat rechtswidrig, wenn er nicht gemäß § 50 Abs. 3 S. 2 AufenthG zur freiwilligen Ausreise aufgefordert worden ist, sagt der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 10. Oktober 2023 (Az. 10 C 23.1719). Mit § 50 Abs. 3 S. 2 AufenthG sei die unionsrechtliche Verpflichtung aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG in deutsches Recht umgesetzt worden. Es spreche vieles dafür, dass diese Verpflichtung Vorrang vor einer Abschiebung habe und eine rechtmäßige Abschiebungsandrohung eine vorherige oder zumindest gleichzeitige Ausreiseaufforderung voraussetze.

Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts bei drohender Familientrennung

Das Verwaltungsgericht München ruft in seinem in einem Eilverfahren ergangenen Beschluss vom 16. Oktober 2023 (Az. M 3 E 23.51077) in Erinnerung, dass sich aus Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung in aller Regel ein Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts ergibt, wenn andernfalls eine Familientrennung droht. In dem Verfahren, in dem eine Dublin-Überstellung nach Kroatien im Raum stand, war die Überstellungsfrist für die meisten Familienangehörigen bereits abgelaufen, bezüglich des Familienvaters war dies unklar und behauptete die Ausländerbehörde überdies, dass er ledig und ohne Kinder sei. Eine Dublin-Überstellung nur des Familienvaters würde jedenfalls seine Rechte aus Art. 7 GrCh und Art. 8 EMRK verletzen, so das Verwaltungsgericht, und sei darum unzulässig. Es seien zwar Ausnahmen vom Anspruch aus Ausübung des Selbsteintrittsrechts denkbar, etwa bei „Rechtsmissbrauch“ durch bewusstes Untertauchen einzelner Familienmitglieder, diese seien aber im entschiedenen Verfahren nicht relevant.

Verfassungsbeschwerde gegen Ausländerzentralregistergesetz eingelegt

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte, PRO ASYL und der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) berichten am 31. Oktober 2023 in einer Pressemitteilung darüber, dass sie für betroffene Ausländer Verfassungsbeschwerde gegen die im November 2022 in Kraft getretene Novellierung des Ausländerzentralregisters erhoben haben. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich dagegen, dass Asylbescheide und Gerichtsentscheidungen im Ausländerzentralregister im Volltext gespeichert werden und dass Polizei und Geheimdienste uneingeschränkten Zugriff auf die Registerdaten erhalten.

Schutzsuchende nicht wegen Beihilfe zur illegalen Einreise strafbar

Die griechische NGO Human Rights Legal Project (HRLP) berichtet darüber, dass ein Gericht auf der griechischen Insel Samos am 23. Oktober 2023 in zwei Fällen entschieden hat, dass Schutzsuchende, die in Gruppen und ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach Griechenland einreisen, sich nicht wegen Beihilfe zur illegalen Einreise strafbar machen. Es handele sich um die ersten Gerichtsentscheidungen in Griechenland, die dies klarstellten und der behördlichen Praxis der Kriminalisierung von Schutzsuchenden etwas entgegensetzten. Eine der Entscheidungen kann auf der Website der NGO heruntergeladen werden.

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ISSN 2943-2871