Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 26. Juni 2024 in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, dass die für das Individualbeschwerdeverfahren R.A. u.a. gegen Polen (Az. 42120/21) zuständige Kammer des EGMR ihre Zuständigkeit an die Große Kammer des EGMR abgegeben hat. In dem Verfahren geht es um eine Gruppe von 32 afghanischen Staatsangehörigen, die im Sommer 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze gestrandet war und unter anderem im Oktober 2021 von der polnischen Polizei im Wege eines Pushbacks zurück nach Belarus geschoben wurde. Der EGMR hatte in diesem Verfahren bereits mehrere vorläufige Maßnahmen gegen Polen erlassen (siehe etwa HRRF-Newsletter Nr. 10). Gemäß Art. 30 EMRK kann eine Kammer ihre Zuständigkeit auf die aus 17 Richterinnen und Richtern bestehende Große Kammer übertragen, wenn ein Verfahren eine „schwerwiegende Frage der Auslegung“ der EMRK oder ihrer Protokolle aufwirft oder wenn eine Entscheidung zu einer Abweichung von einem früheren EGMR-Urteil führen kann.
Das Verwaltungsgericht Hannover versucht sich in seinem lesenswerten Beschluss vom 13. Juni 2024 (Az. 10 B 1953/24) an der Auslegung des neuen § 30 Abs. 1 AsylG, der die Situationen definiert, in denen ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden kann. Zwar sei der Gesetzgeber bei der Neufassung von § 30 AsylG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz davon ausgegangen, dass die Neuregelung den Regelungsbereich von § 30 AsylG lediglich ausweiten würde, tatsächlich sei aber das Gegenteil der Fall. So sei etwa eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein aufgrund einer gesteigerten Überzeugungsgewissheit der entscheidenden Stelle über die (fehlenden) Erfolgsaussichten des Asylbegehrens nach der neuen Regelung nicht mehr möglich, sondern müssten die Angaben des Antragstellers nach § 31 Abs. 1 Nr. 1 AsylG entweder offensichtlich „banal“ oder nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offensichtlich unglaubhaft sein.
Seit dem Inkrafttreten des Rückführungsverbesserungsgesetzes soll nach Stellung eines Folgeantrags ein neues Asylverfahren gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG u.a. nur noch dann durchgeführt werden, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit „erheblicher Wahrscheinlichkeit“ zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen. Dieser Begriff müsse eng ausgelegt werden, meint das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 12. Juni 2024 (Az. M 13 E 24.30922). Die Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig und damit die Nichtdurchführung eines neuen Asylverfahrens stelle nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nämlich eine Ausnahme von der Pflicht der Mitgliedstaaten dar, einen Antrag in der Sache zu prüfen, weshalb die Gründe, aus denen ein Antrag als unzulässig abgelehnt werden könne, eng auszulegen seien. Dies ergebe sich ebenso aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein Folgeantrag nur dann als unzulässig abgelehnt werden dürfe, wenn die neuen Tatsachen „von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet“ seien, um zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu führen. Ein neues Element bzw. eine neue Erkenntnis trage darum bereits dann mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung bei, wenn das neue Element bzw. die neue Erkenntnis lediglich „möglicherweise“ entscheidungserheblich sei.
§ 71 Abs. 5 AsylG erlaubt seit seiner Neufassung durch das Rückführungsverbesserungsgesetz einfacher als bislang die Abschiebung, wenn nach Stellung eines Folgeantrags kein neues Asylverfahren durchgeführt wurde. Wie genau in dieser Situation gerichtlicher Eilrechtsschutz zu beantragen und ggf. zu gewähren ist, nämlich entweder nach § 80 Abs. 5 VwGO oder nach § 123 VwGO, ist seitdem Gegenstand einer lebhaften Debatte unter deutschen Verwaltungsgerichten (siehe etwa HRRF-Newsletter Nr. 139, Nr. 142 und Nr. 143). Das Verwaltungsgericht Freiburg versucht nun in seinem Beschluss vom 17. Juni 2024 (Az. A 10 K 2227/24), es gewissermaßen allen recht zu machen: In den in § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG geregelten Missbrauchsfällen sei ein Antrag nach § 123 VwGO zu stellen, während in allen übrigen Fällen, d.h. nach § 71 Abs. 5 Satz 3 AsylG, ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG statthaft sei.
Wenn in einem Asylfolgeantrag „die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens“ beantragt wird, dann muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge diesen Antrag zumindest als unzulässig ablehnen, so das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 14. Juni 2024 (Az. 7 L 1452/24.A). Wenn das Bundesamt stattdessen irrtümlich von einem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ausgehe und allein die Abänderung der Feststellungen zu Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ablehne, dann sei das schon deswegen rechtswidrig, weil damit die vom Gesetzgeber angeordnete Vorgreiflichkeit der Entscheidung über die Streitgegenstände Asyl und internationaler Schutz verletzt werde.
Die überlange Dauer eines Beschwerdeverfahrens gegen die Anordnung von Sicherungshaft verstößt gegen das Beschleunigungsgebot und verletzt das Grundrecht Betroffener auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 9. April 2024 (Az. XII IZB 7/22). In dem Verfahren hatte das Beschwerdegericht angenommen, dass das Beschleunigungsgebot nur für am Verfahren beteiligte Behörden gelte, nicht aber auch für die mit der Haftanordnung und Haftprüfung befassten Gerichte. Das sah der BGH anders, weil die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der (deutschen) Grundrechte heranzuziehen seien. Art. 5 Abs. 4 EMRK schreibe vor, dass bei einer Freiheitsentziehung ein Gericht auf Antrag der betroffenen Person „innerhalb kurzer Frist“ über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheiden müsse; das gelte auch für eine Rechtsmittelinstanz. In Rechtsmittelverfahren wie dem deutschen Haftbeschwerdeverfahren seien nach der Rechtsprechung des EGMR allerdings (erst) Verzögerungen von mehr als drei bis vier Wochen geeignet, die Frage nach einer Verletzung des Erfordernisses einer Entscheidung „innerhalb kurzer Frist“ aufzuwerfen. In seinem Leitsatz zu dieser Entscheidung spricht der BGH übrigens vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) statt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Auslegung der EMRK heranzuziehen sei, das ist vermutlich (hoffentlich) ein redaktionelles Versehen.
Die HRRF-Monatsübersicht für Juni 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf acht Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Juni 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.