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Ausgabe 37 • 18.3.2022

Qualifizierte Inaugenscheinnahme

Gäbe es ein Wörterbuch abstruser Rechtsbegriffe, so wäre der Begriff der qualifizierten Inaugenscheinnahme, der dem aufenthaltsrechtlichen Jugendhilferecht entstammt, dort sicherlich zu finden. Immerhin geht es in dieser Newsletter-Ausgabe um ihn, außerdem um die Aufnahme von Schutzsuchenden aus griechischen Flüchtlingslagern, Pushbacks aus Griechenland, Flüchtlingsschutz für eine Afghanin, die Auswirkungen einer freiwilligen Ausreise auf Dublin-Entscheidungen und um die Unzulässigkeit einer teilweisen Aufhebung von Abschiebungsandrohungen.

EGMR: Vorläufige Maßnahme gegen Griechenland

Die griechische NGO HumanRights360 hat erreicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 16. März 2022 eine einstweilige Maßnahme gegen Griechenland erlassen hat (Az. 13624/22), die Griechenland dazu verpflichtet, insgesamt 30 syrische Flüchtlinge zunächst bis zum 30. März 2022 nicht aus Griechenland abzuschieben und ihnen angemessene Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Die Flüchtlinge befinden sich anscheinend auf einer Insel im Grenzfluss Evros, von dem regelmäßig Pushbacks berichtet werden.

Keine Alleingänge bei Landesaufnahmeanordnungen

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 15. März 2022 in dem Verfahren um die vom Land Berlin im Jahr 2020 angestrebte Aufnahme von 300 Flüchtlingen aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria entschieden (Az. 1 A 1.21), dass das gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG erforderliche Einvernehmen des Bundes bei der Einrichtung des Berliner Landesaufnahmeprogramms rechtmäßig verweigert wurde. Die Entscheidung über das Einvernehmen diene der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit und sei an diesem Zweck auszurichten. Habe der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, dürfe er einem Landesaufnahmeprogramm zudem bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe bezogenen Maßnahmen das Einvernehmen verweigern. Der Volltext des Urteils liegt noch nicht vor, aber eine Pressemitteilung des Gerichts.

Flüchtlingsanerkennung für wegen Ehebruchs verfolgte Afghanin

Mit Urteil vom 5. November 2021 (Az. 6 K 2518/17.A) hat das Verwaltungsgericht Cottbus das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, einer afghanischen Asylsuchenden die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie in Afghanistan wegen Ehebruchs mit Verfolgung rechnen müsse. Die Klägerin gehöre zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, denen eine außereheliche Beziehung (Zina) zur Last gelegt werde, was in Afghanistan drakonisch bestraft werde; auf eine inländische Fluchtalternative könne die Klägerin nicht verwiesen werden. Siehe zu dieser Entscheidung auch eine Zusammenfassung durch den Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel - KOK e.V..

Erledigung der Unzulässigkeitsentscheidung eines Dublinbescheids

Durch Rückreise in den Heimatstaat und dortigen Aufenthalt von über drei Monaten erledige sich die Unzulässigkeitsentscheidung eines Dublinbescheids, nicht hingegen schon durch die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat, wobei eine solche Überstellung jedoch bereits zur Erledigung der ihr zugrundeliegenden Abschiebungsanordnung führe, so der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Urteil vom 24. Februar 2022 (Az. A 4 S 162/22). Das Eintreten einer solchen Erledigung hat Auswirkungen auf die Zulässigkeit einer Anfechtungsklage, weil die Umstellung der Klage auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage ein Feststellungsinteresse voraussetzt, dessen Vorliegen der VGH im entschiedenen Fall ebenso verneinte wie die Gefahr einer drohenden menschenrechtswidrigen Behandlung in Bulgarien.

Keine isolierte Fortgeltung von Staatenbezeichnung in Abschiebungsandrohung

Als fester Bestandteil der Abschiebungsandrohung teile die Bezeichnung des Staates, in den ein Ausländer nicht abgeschoben werden dürfe, das rechtliche Schicksal der Abschiebungsandrohung, die Bezeichnung könne deshalb nicht isoliert von der Abschiebungsandrohung im Übrigen Bestand haben, so das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Urteil vom 3. Februar 2022 (Az. 1 LB 6/21). Das OVG Schleswig gibt damit seine bisherige anderslautende Rechtsprechung (siehe etwa Beschluss vom 3. Februar 2020, Az. 1 LB 24/19) auf. Es hat die Revision zugelassen, weil, so das OVG, eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit im allgemeinen Interesse liege.

Anforderungen an Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen

Ein unbegleiteter Minderjähriger müsse gemäß § 42f Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bereits im Vorfeld einer qualifizierten Inaugenscheinnahme so rechtzeitig über die Möglichkeit informiert werden, eine Vertrauensperson hinzuziehen, dass ihm die Wahrnehmung dieses Rechts tatsächlich effektiv möglich sei, so das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Beschluss vom 24. Februar 2022 (Az. 2B456/21). Geschehe dies nicht, sei der Verstoß gegen diese Verpflichtung nicht nach § 42 Satz 1 SGB X unbeachtlich, wenn der Betroffene sich in schlechtem psychischen Zustand befand und die Vertrauensperson auf die Würdigung dieses Umstandes durch die Jugendamtsmitarbeiter hätte hinwirken können.

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

In acht weiteren Verfahren, in denen es um die Frage der Zulässigkeit von Dublin-Abschiebungen nach Italien ging, hat das Bundesverwaltungsgericht die Nichtzulassungsbeschwerden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gegen Urteile des OVG Münster mit Beschlüssen vom 19. Januar 2022 (Az. 1 B 84.21), 20. Januar 2022 (Az. 1 B 87.21, 1 B 1.22 und 1 B 5.22) und vom 27. Januar 2022 (Az. 1 B 92.21, 1 B 2.22, 1 B 3.22 und 1 B 10.22) zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 27. Januar 2022 hat das BVerwG eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OVG Lüneburg vom 7. Dezember 2021 (Az. 10 LB 268/20) zurückgewiesen, in dem das OVG die Rückführung nach Bulgarien von alleinstehenden, nicht vulnerablen Personen, die in Bulgarien internationalen Schutz erhalten haben, für zulässig gehalten hatte.

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