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Ausgabe 50 • 17.6.2022

Keine Angaben

In einer Woche voller ungewöhnlicher Entscheidungen und Verfahren durchkreuzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Ruanda-Pläne der britischen Regierung, will ein Standesamt einen Vater aus dem Geburtenregister tilgen, soll eine unbegleitete Minderjährige auch nach ihrer Hochzeit noch unbegleitet sein, darf ein Anwalt ausnahmsweise weiterhin per Fax mit dem Gericht kommunizieren, wollen Bundestagsfraktionen die Regierung kontrollieren und sollen Klagen gegen § 1a AsylbLG stets Erfolgsaussichten haben. Außerdem ein syrischer Wehrdienstentzieher, Schwarzarbeit, Um- oder Rückverteilung, Vermischtes vom BGH und vom BVerwG und diverse Rechtsprechungsübersichten. Und, nicht zuletzt, ist das hier immerhin schon die 50. Ausgabe des HRRF-Newsletters 🥳.

K.N. gg. das Vereinigte Königreich

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Bestrebungen der britischen Regierung, Asylsuchende aus verschiedenen Ländern ohne Prüfung ihres Schutzersuchens nach Ruanda abzuschieben, durch eine am 14. Juni 2022 erlassene vorläufige Maßnahme (Az. 28774/22) verhindert, über die er in einer Pressemitteilung berichtet.

Der EGMR geht davon aus, dass Asylsuchende in Ruanda keinen Zugang zu einem fairen und umfassenden Asylverfahren haben werden und dass es keinen rechtlich verbindlichen Mechanismus gebe, Asylsuchende in Ruanda zu schützen und ihre Rückkehr in das Vereinigte Königreich sicherzustellen, sollten britische Gerichte später die Rechtswidrigkeit ihrer Abschiebung feststellen. Er bezog sich dabei insbesondere auf Einschätzungen des UNHCR, der die Pläne der britischen Regierung wenig überraschend rundheraus ablehnt, und hat am 15. Juni 2022 in einer weiteren Pressemitteilung über fünf weitere Anträge von Asylsuchenden berichtet, die ebenfalls nach Ruanda abgeschoben werden sollten.

Die britische Regierung denkt derweil zwar nicht ernsthaft über einen Ausstieg aus der Europäischen Menschenrechtskonvention nach, wohl aber darüber, vorläufigen Maßnahmen gemäß Art. 39 der EGMR-Verfahrensordnung künftig die innerstaatliche Geltung zu versagen.

EuGH-Generalanwalt: Unbegleitete Minderjährige auch nach Heirat noch unbegleitet

In der Rechtssache C-230/21 hat der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof in seinen Schlussanträgen am 16. Juni 2022 festgehalten, dass unbegleitete Minderjährige auch nach einer Heirat noch unbegleitet im Sinne der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG sind, so dass sie die privilegierte Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie weiterhin in Anspruch nehmen könnten: Hätte der europäische Gesetzgeber zu verstehen geben wollen, dass ein unbegleiteter Minderjähriger unverheiratet sein muss, so hätte er dies ausdrücklich angegeben.

Verfolgung eines syrischen Wehrdienstentziehers wegen einer ihm unterstellten politischen Haltung

Mit Urteil vom 23. März 2022 (Az. 1 LB 484/21) hat das Oberverwaltungsgericht Bremen entschieden, dass eine Militärdienstverweigerung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bei einem im minderjährigen Alter ausgereisten Syrer vorliegt, wenn dieser nach Erreichen des wehrpflichtigen Alters in Deutschland verbleibt, sich nicht bei den syrischen Behörden als Wehrpflichtiger meldet und keine Befreiung vom Wehrdienst erwirkt, weil er den Militärdienst nicht ableisten möchte. Die Ableistung des Militärdienstes durch einen einfachen syrischen Wehrpflichtigen, der seine Einheit, Funktion und seinen Einsatzort im Rahmen des Militärdienstes noch nicht kenne, würde in einem Konflikt stattfinden und sehr wahrscheinlich Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. Es bestehe eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bestrafung einfacher syrischer Wehrdienstentzieher in Form einer - kurzzeitigen - Inhaftierung vor ihrer Einberufung, die zu erwartende Bestrafung wegen der Militärdienstverweigerung i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG knüpfe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an eine dem syrischen Wehrdienstentzieher unterstellte politisch oppositionelle Haltung an.

Berücksichtigung von Schwarzarbeit zur Existenzsicherung

Bestehen keine hinreichenden Erkenntnisse darüber, dass der Staat, in den ein Flüchtling rücküberführt werden soll, effektiv gegen Schwarzarbeit vorgeht und dass dem Flüchtling dort aus diesem Grund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht, kann er zur Existenzsicherung auch auf eine Tätigkeit im Bereich der sogenannten Schattenwirtschaft verwiesen werden, so das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 10. Juni 2022 (Az. 10 LA 77/22). Im entschiedenen Verfahren ging es um Italien.

BVerfG verhandelt über Informationspolitik in der Flüchtlingskrise

Das Bundesverfassungsgericht hat Medienberichten zufolge am 14. Juni 2022 über eine Klage der Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken verhandelt, in der es um eine Verletzung der Mitwirkungsrechte des Bundestags durch eine unzureichende Informationspolitik der Bundesregierung während der Flüchtlingskrise 2015 geht. Unter anderem ein Konzeptentwurf für die inzwischen ausgelaufene EU-Operation Sophia gegen Schleuser im Mittelmeer sowie ein Schreiben des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu an Kanzlerin Angela Merkel zum EU/Türkei-Gipfel Ende November 2015 seien Abgeordneten nicht oder nur mit Einschränkungen oder verspätet zugänglich gemacht worden. Die Entscheidung des BVerfG wird in einigen Monaten erwartet.

Übermittlung eines asylgerichtlichen Schriftsatzes per Fax

Wird ein Schriftsatz eines Verfahrensbevollmächtigten entgegen den zwingenden Vorgaben des § 55d S. 1 VwGO nicht als elektronisches Dokument, sondern als Telefax übermittelt, bleibt die Übermittlung gemäß § 55d Satz 3 VwGO ausnahmsweise nach den allgemeinen Vorschriften zulässig, wenn eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich ist, so der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 8. Juni 2022 (Az. 1 ZB 22.30532). Die vorübergehende Unmöglichkeit sei bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen. Dies sei hier geschehen, weil der Verfahrensbevollmächtigte des Klägers in dem als Telefax eingereichten Schriftsatz anwaltlich versichert habe, dass eine Übermittlung des Schriftsatzes per beA nicht möglich gewesen sei, da sein Kartenlesegerät die beA-Karte bei mehreren Versuchen, Schriftsätze mittels beA an Gerichte zu senden, nicht akzeptiert habe, und als Nachweis einen Screenshot der Fehlermeldung vorgelegt habe.

Zeitliche Grenzen der Um- oder Rückverteilung eines unerlaubt eingereisten Ausländers

Die Um- bzw. Rückverteilung eines unerlaubt eingereisten Ausländers nach § 15a Abs. 5 AufenthG ist nur möglich bis zur erstmaligen Erteilung einer Duldung oder eines Aufenthaltstitels bzw. bis zu seiner landesinternen Weiterverteilung, falls diese früher erfolgt, danach richten sich länderübergreifende Wohnsitzwechsel nach § 61 Abs. 1 Satz 2 und 3 oder Abs. 1d Satz 3 AufenthG, so das OVG Bremen in seinem Beschluss vom 1. Juni 2022 (Az. 2 B 440/21).

Klagen gegen § 1a AsylbLG haben stets Erfolgsaussichten

Rechtsanwalt Volker Gerloff berichtet auf Twitter über einen Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. Mai 2022 (Az. L 8 AY 38/19 (PKH)), wonach ungeachtet des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Leistungseinschränkung wegen mangelnder Mitwirkung in Verfahren nach § 1a Abs. 3 AsylbLG in Rechtsprechung und Literatur bislang ungeklärt sei, ob die Rechtsfolge dieser Vorschrift mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sei; allein dies rechtfertige schon die Gewährung von Prozesskostenhilfe.

Anerkennung der Vaterschaft nach Aussetzung der Beurkundung

Wird die Beurkundung der Anerkennung einer Vaterschaft gemäß § 1597a Abs. 2 S. 1 BGB ausgesetzt, erfolgt dann aber während der Aussetzung eine Beurkundung vor einer dritten Stelle, so wird die Anerkennung mit der Verfahrenseinstellung nach § 85a Abs. 1 S. 3 AufenthG wirksam, so das Kammergericht in seinem Beschluss vom 2. Juni 2022 (Az. 1 W 226/21). In dem entschiedenen Verfahren hatte das zunächst involvierte Jugendamt die Beurkundung ausgesetzt und gemäß § 85a AufenthG die Ausländerbehörde zur Prüfung einer möglichen missbräuchlichen Anerkennung der Vaterschaft eingeschaltet. Die Betroffenen hatten die Anerkennung der Vaterschaft daraufhin von einem Notar beurkunden lassen, das Standesamt die Vaterschaft sodann zunächst ebenfalls beurkundet und in das Geburtenregister eingetragen. Nachdem das Jugendamt das Standesamt über die Aussetzung des Verfahrens informiert hatte, versuchte das Standesamt, den Eintrag zum Vater im Geburtenregister mit einem gerichtlichen Antrag gemäß § 48 PStG in „keine Angaben“ ändern zu lassen, weil die Anerkennung vor dem Notar gemäß § 1597a Abs. 3 Abs. 1 BGB unwirksam sei. Dies wies das KG zurück, weil die Ausländerbehörde ihr Prüfverfahren zwischenzeitlich eingestellt habe. Die Beurkundung vor einem Notar sei lediglich schwebend unwirksam gewesen und lebe ohne weiteres Zutun wieder auf.

Vermischtes vom BGH

In zwei Beschlüssen vom 25. April 2022 (Az. XIII ZB 34/21 und XIII ZB 55/20) hat der Bundesgerichtshof Abschiebungshaft für rechtswidrig gehalten, die unter Verletzung des Grundsatz des fairen Verfahrens (XIII ZB 34/21) bzw. ohne zulässigen Haftantrag (XIII ZB 55/20) angeordnet wurde.

Vermischtes vom BVerwG

Mit Beschlüssen vom 2. Mai 2022 (Az. 1 B 39.22) und vom 4. Mai 2022 (Az. 1 B 17.22) hat das Bundesverwaltungsgericht in zwei ausländerrechtlichen Verfahren Nichtzulassungsbeschwerden zurückgewiesen. Im Verfahren 1 B 39.22 ging es um Fragen des Assoziationsrechts, im Verfahren 1 B 17.22 um die Frage der Zumutbarkeit der Beantragung eines eritreischen Nationalpasses.

EUAA-Rechtsprechungsübersicht

Die Europäische Asylagentur (EUAA) hat Ausgabe 02/2022 ihres vierteljährlichen, thematisch gegliederten Updates zur Asylrechtsprechung in der Europäischen Union veröffentlicht, das den Zeitraum März bis Mai 2022 abdeckt.

Übersicht zur griechischen Asylrechtsprechung zu besonderen Verfahrensgarantien

Die griechische NGO Refugee Support Aegean (RSA) hat aktuelle griechische Rechtsprechung zur Anwendung des Konzepts der Gewährung besonderer Verfahrensgarantien gemäß Art. 24 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU in einem 21-seitigen Bericht Ειδικές διαδικαστικές εγγυήσεις στη διαδικασία ασύλου (in griechischer Sprache) zusammengefasst und analysiert.