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Ausgabe 62 • 9.9.2022

Gegenseitiges Vertrauen

Um den innerhalb der Europäischen Union jedenfalls abstrakt Geltung beanspruchenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (auf einen rechtmäßigen und menschenwürdigen Umgang mit Schutzsuchenden) geht es in dieser Woche in einer EuGH-Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts und in drei verwaltungsgerichtlichen Dublin-Entscheidungen. Außerdem geht es in dieser sehr vielfältigen Newsletter-Ausgabe um eine Montagsregelung, eine Zeugenvernehmung per WhatsApp, ein nicht entscheidungserhebliches EuGH-Verfahren, eine zu Unrecht erteilte Fiktionsbescheinigung, eheliche Untreue und einen islamischen Prediger.

Anrufung des EuGH zu den Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen EU-Mitgliedstaat für das deutsche Asylverfahren

Mit Beschluss vom 7. September 2022 (Az. 1 C 26.21), über den es in einer Pressemitteilung vom selben Tag berichtet, hat das Bundesverwaltungsgericht den Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Frage angerufen, ob die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem EU-Mitgliedstaat einen anderen EU-Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten weiteren Antrag auf internationalen Schutz in einem Fall ergebnisoffen zu prüfen, in dem der Flüchtling nicht in den ersten EU-Mitgliedstaat überstellt werden darf. Der Klägerin in dem Verfahren wurde in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und ihr droht dort gemäß der rechtskräftigen Entscheidung eines Verwaltungsgerichts unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh. Nun geht es darum, ob die griechische Flüchtlingsanerkennung auch das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bindet, oder ob es den in Deutschland gestellten Asylantrag ablehnen darf.

Keine Dublin-Überstellung nach Portugal

In einem von Rechtsanwalt Markus Wild erstrittenen Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 22. August 2022 (Az. 29 K 1634/21.A) hat das VG die Dublin-Überstellung einer syrischen Familie nach Portugal für unzulässig erklärt, weil die Familie in Portugal unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten würde und ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte. Der Familie drohe in Portugal insbesondere Obdachlosigkeit, weil sie zwar einen gesetzlichen Anspruch auf eine Unterbringung habe, angesichts des extremen Mangels an Sozialwohnungen aber eine private Unterkunft anmieten müsste. Dies werde voraussichtlich daran scheitern, dass die Familie nicht in der Lage sein werde, die Miete auf Dauer zu zahlen.

Dublin-Überstellung nach Litauen zulässig

In seinem Beschluss vom 26. August 2022 (Az. 29 L 1620/22.A) geht das Verwaltungsgericht Düsseldorf davon aus, dass Dublin-Rückkehrern im Fall einer Überstellung nach Litauen keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK drohe. Zwar habe der litauische Gesetzgeber die Rechte von Schutzsuchenden wegen des „Massenzustroms“ von Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze erheblich beschnitten, der Europäische Gerichtshof habe jedoch zwischenzeitlich die Unvereinbarkeit dieser Regelungen mit europäischem Recht festgestellt (nämlich in seinem Urteil vom 30. Juni 2022, Rs. C-72/22. Zwar habe der litauische Gesetzgeber die europarechtswidrigen Regelungen des litauischen Ausländergesetzes bislang nicht aufgehoben und den Ausnahmezustand verlängert, es sei wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens jedoch davon auszugehen, dass diese Regelungen von den Behörden nicht weiter angewandt werden bzw., falls dies doch geschehen sollte, ein Ausländer jedenfalls erfolgreich um gerichtlichen Rechtsschutz nachsuchen könne. Ob das Vertrauen des Verwaltungsgerichts nicht enttäuscht wird, bleibt abzuwarten. Das Verwaltungsgericht Hannover hat in seinem Beschluss vom 23. Februar 2022 (Az. 12 B 6475/21) jedenfalls nicht vertraut, sondern eine Dublin-Überstellung nach Litauen für unzulässig erklärt.

Konkludenter Dublin-Selbsteintritt durch Sachentscheidung

Wenn ein Gericht damit argumentiert, ein Rechtsgrundsatz sei „allgemein anerkannt“, wird es meistens etwas unübersichtlich. So auch im Fall des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 25. August 2022 (Az. AN 17 S 22.50044), in dem das VG sich mit einem Sachverhalt herumschlagen musste, in dem ein Dublin-Staat (Frankreich) seine Dublin-Zuständigkeit wohl versehentlich angenommen und einen Asylantrag in der Sache entschieden hatte, obwohl an sich ein anderer Dublin-Staat (Italien) zuständig gewesen wäre, bevor der Betroffene anschließend einen weiteren (dritten) Asylantrag in Deutschland stellte, und überdies zu Beginn seines Aufenthalts in der EU einen ersten Asylantrag in Deutschland gestellt hatte. In der Sachentscheidung eines an sich unzuständigen Staats könne eine Art konkludenter Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO gesehen werden, meint das VG, weil mit einer inhaltlichen Entscheidung die Zuständigkeit des entscheidenden Dublin-Staats verbindlich feststehe. Dies ergebe sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Dublin-III-VO, aber aus ihrer Zielsetzung, und sei eben auch allgemein anerkannt. Unabhängig davon komme es beim Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23ff. Dublin-III-VO gar nicht darauf an, ob der ersuchte Dublin-Staat tatsächlich zuständig sei, was sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 2. April 2019 (Rs. C-582/17, C-583/17) ergebe. Dies hat der EuGH so jedoch nur für den Fall des Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO entschieden, nicht jedoch auch für Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-III-VO, der hier aber einschlägig war. Es hätte hier vermutlich zwischen der Durchführung eines Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens einerseits und der Ermittlung des aufgrund eines solchen bereits durchgeführten Verfahrens zuständigen Dublin-Staats andererseits differenziert werden müssen.

„Montagsregelung“ im asylrechtlichen Flughafenverfahren

Das Verwaltungsgericht Frankfurt/Main hat in seinem Beschluss vom 16. August 2022 (Az. 5 L 2069/22.F.A) unter Bezugnahme auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Kassel vom 22. Januar 2019 (Az. 5 A 1223/18.Z) entschieden, dass im asylrechtlichen Flughafenverfahren für die Berechnung der zweitägigen Frist, innerhalb der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 18a Abs. 2 Nr. 2 AsylG über den Asylantrag zu entscheiden hat, § 31 Abs. 3 Satz 1 VwVfG anwendbar ist und es daher auf den Ablauf des nächstfolgenden Werktags ankommt, wenn die Frist an einem Wochenende oder Feiertag endet. Das hat die praktische Folge, dass das Bundesamt über Asylanträge, die im Flughafenverfahren an einem Donnerstag, Freitag oder Samstag gestellt werden, allesamt spätestens am darauf folgenden Montag entscheiden muss.

Keine Zeugenvernehmung durch WhatsApp-Videocall

Das Oberverwaltungsgericht Bautzen gibt sich in seinem Beschluss vom 22. August 2022 (Az. 6 A 122/20.A) altmodisch und hält im asylgerichtlichen Verfahren eine Zeugenvernehmung durch ein „foto- oder videographisches“ WhatsApp-Telefonat für unzulässig. Ein solches Telefonat entspreche nicht den Anforderungen des Beweismittels einer Zeugenvernehmung. Zwar erlaube § 102a VwGO die Vernehmung eines Zeugen in einer Videokonferenz, dies setze aber „wohl“ voraus, dass jeder jeden anderen jederzeit sehen und hören könne. So ganz überzeugt diese Argumentation nicht und geht es dem OVG wohl eher darum, den „erheblichen technischen Aufwand“ zu vermeiden, der dadurch entstehe, dass das Gericht entsprechend sicherstellen müsse, dass sich jeder Anwesende stets im Aufnahmebereich einer Kamera befinde. Ach ja, und der böse Datenschutz wird auch ins Feld geführt, wenn das OVG davon ausgeht, dass durch eine gerichtliche Bereitstellung von Videokonferenztechnik datenschutz- und datensicherheitsrechtlichen Mindestanforderungen Rechnung getragen werde, was bei einer Nutzung von mobilen Applikationen auf Smartphones, Tablets oder Notebooks „möglicherweise“ nicht der Fall sei.

EuGH-Verfahren zur Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung in der Regel nicht entscheidungserheblich

Mit Beschluss vom 8. Juni 2022 (Az. 1 C 24/21) hatte das Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob die nach deutschem Recht erst nach Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung erfolgende Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse mit Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vereinbar sei. Das Oberverwaltungsgericht Münster hält diese Frage in seinem Beschluss vom 29. August 2022 (Az. 19 A 1540/22.A) in asylgerichtlichen Verfahren für in der Regel nicht entscheidungserheblich, sofern das Verwaltungsgericht solche inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse einzelfallbezogen geprüft und verneint habe.

Kein Vertrauensschutz bei zu Unrecht erteilter Fiktionsbescheinigung

Eine entgegen der Rechtslage ausgestellte Fiktionsbescheinigung könne die Wirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht konstitutiv hervorrufen, weil sie unrichtig sei, meint das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in seinem Beschluss vom 1. September 2022 (Az. 2 B 154/22), stattdessen sei auf die tatsächliche, durch das Gesetz vermittelte Rechtslage zurückzugreifen. Der Ausländer könne sich daher nicht mit Erfolg auf einen „Vertrauensschutz“ auf den Bestand der ihm zu Unrecht erteilten Fiktionsbescheinigung berufen.

Eheliche Untreue begründet keine besondere Härte

Eine besondere Härte im Sinne von § 31 Abs. 2 AufenthG, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des ausländischen Ehepartners schon vor Ablauf des dreijährigen Bestehens einer ehelichen Lebensgemeinschaft begründet, liegt grundsätzlich nicht schon dann vor, wenn der deutsche Ehepartner „eheliche Untreue“ begeht, auch dann nicht, wenn der deutsche Ehepartner sich endgültig einem anderen zugewandt hat und mit diesem eine nichteheliche Lebensgemeinschaft führt, so das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in seinem Beschluss vom 26. August 2022 (Az. 2 B 128/22). Zwar verwendeten § 31 Abs. 2 AufenthG und § 1565 Abs. 2 BGB die von der Bedeutung her vergleichbaren unbestimmten Rechtsbegriffe der „besonderen Härte“ und der „unzumutbaren Härte“, dienten aber völlig unterschiedlichen Zwecken, und reiche das bloße Scheitern der Ehe ohnehin nicht aus, um eine unzumutbare Härte im Sinne von § 1565 Abs. 2 BGB anzunehmen.

Doch keine Ausweisung eines Predigers

Das Verwaltungsgericht Bremen weist in seiner Pressemitteilung vom 1. September 2022 auf sein Urteil vom 1. Juli 2022 (Az. 2 K 1260/21) hin, in dem es die gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2, 5 AufenthG erfolgte Ausweisung eines islamischen Predigers aufgehoben hat. Die Aussagen des Predigers in seinem Predigten gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht, sondern bewegten sich im Rahmen der Meinungs- und Glaubensfreiheit.