98

Gute Integration

Kurze Wochen wie diese sind auch undankbare Wochen, weil die Veröffentlichungstätigkeit von Gerichten jedenfalls gefühlt fast zum Stillstand kommt. Gleichwohl geht es in dieser Woche immerhin noch um Pushbacks in Kroatien, die Bedeutung von Schweigen in Dublin-Verfahren, die Irrelevanz eines Gehörsverstoßes für die Berufungszulassung, die Einstellung von EGMR-Verfahren gegen Belgien, die Täuschung aufgrund einer vorherigen Täuschung und abschiebungshaftrechtliche Verfahrenskostenhilfe.

  • Keine Pushback-Gefahr in Kroatien für Dublin-Rückkehrer (sonst schon)

    Für Dublin-Rückkehrer besteht in Kroatien grundsätzlich keine reale Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, auch nicht in Hinblick auf Pushbacks oder Kettenabschiebungen, sagt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Urteil vom 11. Mai 2023 (Az. A 4 S 2666/22). Dem Gericht sei durchaus bewusst, dass es in einigen Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen nach zahlreichen Berichten immer wieder zu Pushbacks kommen solle, gerade auch in Kroatien, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Praxis bereits als menschenrechtswidrig beanstandet habe. Die Problematik von Pushbacks an den EU-Außengrenzen sei allerdings als solche nicht entscheidungserheblich. Vielmehr stehe im Zentrum die Frage, ob rechtswidrige Pushbacks oder Kettenabschiebungen bzw. Verstöße gegen den Non-Refoulement-Grundsatz auch von Dublin-Rückkehrern nach Rückführung oder freiwilliger Rückkehr nach Kroatien zu erwarten seien. Hierfür fehlten nach Überzeugung des Gerichts tragfähige Erkenntnismittel, insbesondere würden die vom Verwaltungsgericht Braunschweig (Urteil vom 24. Mai 2022, Az. 2 A 26/22) und im Anschluss daran vom Verwaltungsgericht Freiburg (Beschluss vom 26. Juli 2022, Az. A 1 K 1805/22) aufgeführten Erkenntnismittel die aus dem unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens folgende Vermutung einer ordnungsgemäßen Behandlung von Asylantragstellern in Kroatien nicht widerlegen.

  • Schweigen ist (manchmal) keine Dublin-Zustimmung

    Das Verwaltungsgericht Hamburg geht in seinem Beschluss vom 14. April 2023 (Az. 7 AE 1475/23) davon aus, dass Schweigen eines Dublin-Staats auf ein Selbsteintrittsersuchen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO keine Zustimmung bedeutet und somit auch keinen Dublin-Zuständigkeitsübergang auslöst. Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO sehe zwar eine Zweimonatsfrist zur Beantwortung eines solchen Ersuchens vor, enthalte aber keine Stattgabefiktion. Eine ergänzende Anwendung der in Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO enthaltenen Stattgabefiktion auf Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO verbiete sich nicht nur wegen des Wortlauts von Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO, sondern auch aus systematischen Gründen und mit Blick auf den jeweiligen Zweck der Regelung. Die Stattgabefiktion sei Teil der Bestimmungen zum Aufnahmeverfahren (Kapitel VI), das sich auf die materiellen Zuständigkeitskriterien in Kapitel III beziehe und diese um die zur praktischen Anwendung erforderlichen Verfahrensvorschriften ergänze. Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung stehe hingegen sowohl nach der textlichen Gliederung (in Kapitel IV) als auch nach seinem Inhalt selbständig neben diesen Zuständigkeitskriterien und neben dem zugehörigen Verfahren.

  • Keine Berufungszulassung trotz Gehörsverstoßes

    Ein Antrag auf Zulassung der Berufung kann trotz eines Gehörverstoßes im Einzelfall ohne Erfolg bleiben, wenn der Verstoß ausnahmsweise mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleibt und sich auf das Ergebnis der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt auswirkt, meint der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 20. April 2023 (Az. 24 ZB 23.30078). Der VGH folgert dies aus einer analogen Anwendung von § 144 Abs. 4 VwGO, die allerdings nur ausnahmsweise in Betracht kommen solle, da andernfalls eine Entwertung der Verfahrensgarantien drohe. Gerechtfertigt sei die Anwendung der verfahrensökonomischen Zielsetzung des § 144 Abs. 4 VwGO jedoch, wenn der Verstoß mit Sicherheit für das endgültige Ergebnis bedeutungslos bleiben werde. Dies sei der Fall, wenn der Gehörsverstoß erstens nur einzelne Feststellungen und nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens betreffe und es zweitens auf diese Feststellungen für die Entscheidung und nach der dafür maßgeblichen Sachlage nicht oder nicht mehr ankomme. In dem entschiedenen Verfahren hatte das Verwaltungsgericht aus Sicht des VGH eine rechtswidrige Überraschungsentscheidung getroffen, weil es das Ergebnis einer von ihm initiierten Prüfung, ob der dem Kläger in Rumänien gewährte internationale Schutz noch fortbestand oder nicht, nicht abgewartet habe.

  • EGMR hebt vorläufige Maßnahmen gegen Belgien auf

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte berichtet in einer Pressemitteilung vom 1. Juni 2023 darüber, dass er in 1350 Verfahren vorläufige Maßnahmen aufgehoben hat, die er im Zeitraum zwischen Oktober 2022 und April 2023 gegen Belgien erlassen hatte, weil Asylsuchende in Belgien keine Unterkunft und Verpflegung erhalten hatten. In diesen 1350 Verfahren hätten die Antragsteller die Verfahren nicht weiter verfolgt, in weiteren 312 Verfahren blieben die vorläufigen Maßnahmen jedoch in Kraft.

  • Täuschung rechtfertigt keine Täuschung

    Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg meint in seinem Beschluss vom 24. April 2023 (Az. 2 M 16/23), dass ein volljähriger Ausländer, der ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet anstrebt, eigene Täuschungshandlungen grundsätzlich nicht mit Täuschungshandlungen seiner Eltern und sich daraus für ihn ergebenden Zwängen rechtfertigen kann. „Gute Integration“ setze nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Akzeptanz der hiesigen Rechtsordnung und Kultur voraus, dazu gehörten insbesondere wahrheitsgemäße Angaben über die eigene Identität. Täuschungshandlungen eines Heranwachsenden könne ein geringeres Gewicht beizumessen sein, nämlich insbesondere dann, wenn der Heranwachsende noch mit seinen Eltern zusammenlebe. Dies gelte nach Vollendung des 21. Lebensjahres aber jedenfalls nicht mehr.

  • Erledigung eines haftrechtlichen Verfahrenskostenhilfeantrags

    Ein Verfahrenskostenhilfeantrag im Haftbeschwerdeverfahren erledigt sich, wenn und soweit die Rechtsbeschwerde erfolgreich ist, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 4. April 2023 (Az. XIII ZB 79/20), weil dem Betroffenen dann ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Körperschaft zusteht, deren Behörde die Haft beantragt hat. Einer solchen Erledigung stehe nicht entgegen, dass dem Kostenerstattungsanspruch des Betroffenen aufrechenbare Gegenforderungen der Körperschaft gegenüberstehen könnten, auch wenn das im Ergebnis dazu führe, dass der Rechtsanwalt mit seiner Vergütung ausfalle. Es stehe dem Betroffenen frei, die Rechtsbeschwerde oder die Begründung der Rechtsbeschwerde von der Gewährung von Verfahrenskostenhilfe abhängig zu machen; in diesem Fall sei über den Verfahrenskostenhilfeantrag vorab zu entscheiden.

Die Kommentarfunktion findet sich bei den einzelnen Beiträgen: Einfach auf die Überschrift klicken, um zum jeweiligen Beitrag zu gelangen.

Neueste Newsletter

  • Verbleibende Spielräume

    Der in dieser Einleitung zur Verfügung stehende Platz soll heute ausnahmsweise nicht dazu verwendet werden, um auf die (zahlreichen) wichtigen Entscheidungen der Woche hinzuweisen. Stattdessen geht es um die HRRF-Website, die in dieser Woche nicht nur sozusagen runderneuert wurde, damit sie noch mehr Inhalte und viele…

    Weiterlesen..

  • Herausragende Bedeutung

    Das Bundesverfassungsgericht legt nach und rügt erneut einen Grundrechtsverstoß bei der Anordnung von Abschiebungshaft, während der Bundesgerichtshof bei der Anordnung von Abschiebungshaft in einem anderen Verfahren eher großzügige Standards anwendet. Daneben geht es in dieser Woche um eine willkürliche Kostenentscheidung eines Sozialgerichts, ein beim Europäischen Gerichtshof…

    Weiterlesen..

  • Rechtsstaatliche Gesichtspunkte

    In den HRRF-Newsletter haben es diese Woche gleich drei aktuelle Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts geschafft, in denen es um rechtswidrige Abschiebungen und verweigerte Akteneinsicht, um gerichtliche Benachrichtigungspflichten bei der Anordnung von Abschiebungshaft und um die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Eilverfahren geht. Der Verwaltungsgerichtshof München nimmt derweil…

    Weiterlesen..

  • Praktische Wirksamkeit

    So richtig viel war nicht los in der flüchtlingsrechtlichen Rechtsprechung in dieser Woche (bitte senden Sie gerne aktuelle Entscheidungen ein!), ein wenig dann aber doch. Es geht unter anderem um die nunmehr vom Europäischen Gerichtshof entschiedene Frage, ob ein aus dem EU-Primärrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht von der…

    Weiterlesen..

  • Kompetentes Personal

    Der Europäische Gerichtshof hat es schon wieder getan und räumt mit der Gewohnheit offenbar vieler nationaler Asylbehörden auf, die Fristen zur Entscheidung über Asylanträge fast schon regelhaft von sechs auf 15 Monate zu verlängern. Das Verwaltungsgericht Stade mahnt derweil eine qualifizierte Auseinandersetzung mit ausländischen Flüchtlingsanerkennungen an,…

    Weiterlesen..

ISSN 2943-2871