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Nationale Gepflogenheiten

Es geht um Kroatien, Griechenland, die Ukraine, verzögerte Post, eine falsche Rechtsmittelbelehrung, ein Bleiberecht im erstinstanzlichen Verfahren, europäischen Familienflüchtlingsschutz und darum, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sich vielleicht nicht auf eine Gehörsverletzung berufen kann, wenn es nicht an einer mündlichen Verhandlung teilgenommen hat.

  • Keine Dublin-Überstellung nach Kroatien

    Das Verwaltungsgericht Ansbach ergänzt den bereits überaus bunten Reigen von Kroatien-Entscheidungen deutscher Verwaltungsgerichte um eine weitere Nuance und geht in seinem in einem Eilverfahren ergangenen Beschluss vom 8. November 2023 (Az. AN 14 S 23.50439) davon aus, dass Schutzsuchenden, die unter behandlungsbedürftigen Erkrankungen leiden, in Kroatien jedenfalls nach ihrer Anerkennung eine Verelendung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK droht. Anerkannte Schutzberechtigte würden seit 2021 vermehrt in kleineren Städten außerhalb des Ballungsraums Zagreb untergebracht, die oft nicht auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereitet seien. Nichtregierungsorganisationen, die Flüchtlinge bei Arzt- oder Behördenbesuchen unterstützen könnten, seien hier oft nicht verfügbar. In dieser Situation bestehe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Betroffene entweder bereits keinen Zugang zu einer notwendigen Behandlung und den notwendigen Medikamenten erhielten, oder aber, dass sie diesen Zugang zwar erhielten, ihnen die entsprechenden Kosten aber entgegen der kroatischen Rechtslage (zunächst) in Rechnung gestellt würden. Es bestünden erhebliche Zweifel daran, dass Betroffene ausreichend Einkommen zur Finanzierung nicht nur eines Existenzminimums, sondern zusätzlich dieser Behandlungs- und Medikamentenkosten erwirtschaften könnten.

  • Immer wieder Griechenland

    Ein nach wie vor düsteres Bild der Situation anerkannter Schutzberechtigter in Griechenland zeichnet der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2023 (Az. M 18 S 23.31864), in dem das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Ablehnung eines Asylantrags eines in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten angeordnet hat. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte in seinem Bescheid auf die erforderliche „Eigeninitiative“ des Antragstellers in Griechenland verwiesen, mit der der Betroffene vermeiden könne, in eine Situation extremer materieller Not zu geraten. Das Gericht führte demgegenüber aus, dass davon auszugehen sei, dass der Antragsteller im Falle der Rückkehr nach Griechenland für einen unbestimmten Zeitraum weder adäquate Unterkunft noch Arbeit finden werde, noch Zugang zu materiellen Unterstützungsleistungen finden könne.

    Es ist bezeichnend, dass das Gericht maßgeblich die Gewährung von Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen in Griechenland thematisiert und ausführt, dass sogar der Zugang zu Lebensmitteln, etwa durch die wenigen in Betrieb befindlichen Suppenküchen, „in der Praxis [..] eingeschränkt“ sei und dass das zur Verfügung gestellte Essen bei weitem nicht ausreiche, um alle Bedürftigen zu versorgen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamts scheint vor diesem Hintergrund weniger auf einer rechtlichen als vielmehr auf politischen Grundlage zu beruhen.

  • Keine Rückkehrentscheidung im erstinstanzlichen Asylverfahren

    Vor der erstinstanzlichen Entscheidung über einen Asylantrag darf keine Rückkehrentscheidung ergehen, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 9. November 2023 (Rs. C-257/22), und zwar unabhängig davon, auf welchen Aufenthaltszeitraum in der Rückkehrentscheidung Bezug genommen wird. Dies folge aus Art. 9 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU, die ein Bleiberecht während des erstinstanzlichen Asylverfahrens vermittele.

  • Kein europäischer Familienflüchtlingsschutz

    Der Europäische Gerichtshof hat in zwei Urteilen vom 23. November 2023 (Rs. C-374/22 und C-614/22) in Übereinstimmung mit seiner früheren Rechtsprechung (etwa Urteil vom 9. November 2021, Rs. C-91/20) noch einmal klargestellt, dass die EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU nicht zur Gewährung von Familienflüchtlingsschutz als solchem verpflichtet, d.h. zur Gewährung gerade von internationalem Schutz. Art. 23 der Richtlinie sehe zwar vor, dass die Familieneinheit gewahrt werden müsse und dass Familienangehörige von anerkannten Flüchtlingen Anspruch auf bestimmte Leistungen haben müssten, die der Wahrung des Familienverbands dienten, überlasse die Form der Gewährung dieser Ansprüche aber den Mitgliedstaaten.

  • Nichtteilnahme an mündlicher Verhandlung führt zu Rechtsnachteilen

    Nimmt ein Beteiligter an der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht nicht teil und begibt er sich dadurch der Möglichkeit, einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör durch das Verwaltungsgericht abzuwenden, kann dies der Zulassung der Berufung wegen des Verfahrensfehlers der Verletzung des rechtlichen Gehörs entgegenstehen, sagt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 9. November 2023 (Az. A 4 S 1097/23). Ein Prozessbeteiligter könne sich nur dann auf einen Verfahrensfehler berufen, wenn er alle zumutbaren und nach Lage der Dinge abzuverlangenden Anstrengungen unternommen habe, um sich Gehör zu verschaffen und einen drohenden Gehörsverstoß abzuwenden. Das beklagte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe in der Begründung seines Zulassungsantrags zwar ausgeführt, dass das Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung keine Hinweise in Hinblick auf die Nichtberücksichtigung seines Vortrags erteilt habe, es sei aber unklar, auf welcher Information diese Behauptung beruhe, weil für das Bundesamt in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen sei.

  • Gleichstellung nichtehelicher Lebensgemeinschaften beim vorübergehenden Schutz

    Der Verwaltungsgerichtshof München korrigiert in seinem Beschluss vom 31. Oktober 2023 (Az. 10 C 23.1793) das Verwaltungsgericht München wegen eines allzu konservativen Verständnisses von rechtlich schützenswerten Lebensgemeinschaften. In dem Verfahren ging es inhaltlich um den Anspruch eines drittstaatsangehörigen nichtehelichen Lebenspartners einer ukrainischen Staatsangehörigen auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG. Das Verwaltungsgericht sah keine Erfolgsaussichten für ein solches Ansinnen, weil nach Art. 2 Abs. 4 lit. a) Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 unverheiratete Lebenspartner einer schutzberechtigten Person nur dann schutzberechtigt seien, sofern unverheiratete Paare nach den nationalen ausländerrechtlichen Rechtsvorschriften oder den „Gepflogenheiten“ des betreffenden Mitgliedstaats verheirateten Paaren gleichgestellt seien. Das deutsche Aufenthaltsrecht sehe aber einen Familiennachzug nur zu Ehepartnern und Lebenspartnern im Sinne des LPartG vor, Art. 6 GG schütze nur Ehe und Familie und eine Gleichstellung unverheiratet zusammenlebender Paare mit verheirateten Paaren finde nach dem deutschen Aufenthaltsrecht eben nicht statt. Der Verwaltungsgerichtshof fand das offenbar etwas undifferenziert und verwies auf den Beschluss des Bundesministeriums des Innern vom 14. März 2022. Wenn das Bundesinnenministerium darin den Kreis der begünstigten Angehörigen entsprechend der Regelung in § 1 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. c) FreizügG/EU auf Lebensgefährten von ukrainischen Staatsangehörigen erstrecke, könne hierin eine „Gepflogenheit“ im Sinne des Art. 2 Abs. 4 Buchst. a) Alt. 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 liegen, die auch Personen wie dem Kläger einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vermittele. Jedenfalls sei diese Frage bislang in der Rechtsprechung soweit ersichtlich ungeklärt und nicht ohne Weiteres anhand des Gesetzes zu beantworten, sodass die Erfolgsaussichten der Klage zumindest offen seien.

  • Wiedereinsetzung bei Postverzögerung

    Der Absender einer Briefsendung darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Sendung den Empfänger spätestens am zweiten Werktag nach dem Einwurf in einen Briefkasten erreicht, wenn der Briefkasten nach dem Einwurf noch am selben Tag gelehrt wird, sagt das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil vom 13. Oktober 2023 (Az. M 31 K 19.34719).

    Nach den in § 2 Nr. 3 Satz 1 der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) niedergelegten Qualitätsmerkmalen in der Briefbeförderung würden von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen im Jahresdurchschnitt mindestens 80% an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95% bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert. Werde die Postsendung später als zwei Werktage nach Einlieferung zugestellt, treffe den Absender kein Verschulden an einer etwaigen Fristversäumung und sei Wiedereinsetzung zu gewähren.

  • Beschwerdeausschluss trotz gegenteiliger Rechtsmittelbelehrung

    Die Frage der Reichweite des von § 80 AsylG angeordneten Beschwerdeausschlusses „in Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz“ ist ein steter Quell der Freude. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg geht in seinem Beschluss vom 6. November 2023 (Az. 2 OA 92/23) wie bislang davon aus, dass der Beschwerdeausschluss nicht vom anwaltlichen Vergütungsrecht (insbesondere von § 1 Abs. 3 RVG) verdrängt wird. Das sei auch dann nicht anders, wenn eine Rechtsmittelbelehrung fälschlicherweise von einer Beschwerdemöglichkeit ausgehe, weil ein durch Gesetz nicht vorgesehenes Rechtsmittel auch durch richterliche Entscheidung nicht zugelassen werden könne. Andere Gerichte, etwa das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 19. September 2019, Az. 3 L 112.19), sehen das mit der Reichweite des Beschwerdeausschlusses übrigens anders.

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ISSN 2943-2871