An einer gewissen Relativierung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (Rs. C-484/22), wonach vor Erlass einer Rückkehrentscheidung auch familiäre Belange und insbesondere das Kindeswohl geprüft werden müssen, versucht sich der Verwaltungsgerichtshof Kassel in seinem Beschluss vom 18. März 2024 (Az. 3 B 1784/23). Eine von der Ausländerbehörde unterlassene umfassende konkret-individuelle Beurteilung der familiären Situation des Ausländers oder eine fehlerhafte Bewertung der familiären Belange führe nämlich nicht per se zur Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung, weil es sich bei der Verpflichtung zur umfassenden Berücksichtigung familiärer Belange vor Erlass einer Abschiebungsandrohung um eine materiell-rechtliche Vorgabe handele. Der Behörde stehe im Rahmen der Prüfung familiärer Belange kein Ermessensspielraum zu, der nur eingeschränkt justiziabel sei, vielmehr könne im Rahmen der uneingeschränkten gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung seitens des Verwaltungsgerichts festgestellt werden, ob die Abschiebungsandrohung mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie in Einklang stehe. Stünden die geltend gemachten familiären Belange einer Abschiebung nicht entgegen, so führe ihre Nichtberücksichtigung durch die Ausländerbehörde im Rahmen der Androhung der Abschiebung daher nicht zur Rechtswidrigkeit der Rückführungsentscheidung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat sich außerdem ausführlich zur Neuregelung von § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz geäußert, wonach dem Erlass einer Abschiebungsandrohung Abschiebungsverbote, das Kindeswohl, familiäre Bindungen oder der Gesundheitszustand des Ausländers nicht entgegenstehen, wenn der Ausländer auf Grund oder infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausreisepflichtig ist oder gegen ihn ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Die Neuregelung sei zwar nicht rückwirkend auf am Tag ihres Inkrafttretens bereits wirksam gewordene Abschiebungsandrohungen anzuwenden, sei aber im Übrigen europarechtskonform, weil der Gesetzgeber damit von der Opt-out-Klausel des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der EU-Rückführungsrichtlinie Gebrauch gemacht habe. Nach dieser Norm hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu beschließen, die Richtlinie auf Drittstaatsangehörige nicht anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig seien oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig sei. Zwar müsse gemäß den Vorgaben der Europäischen Kommission aus den nationalen Rechtsvorschriften explizit oder implizit klar hervorgehen, ob und in welchem Umfang ein Mitgliedstaat die Ausnahmeregelung anwende, dazu genüge aber wie hier auch eine eindeutige Erklärung in der Gesetzesbegründung, aus der sich ergebe, ob und in welchem Umfang die Ausnahmeregelung angewendet werden solle.
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