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Ausgabe 127 • 12.1.2024

Einheit der Rechtsordnung

In Nordrhein-Westfalen regt sich Widerspruch gegen die neueste Dublin-Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das derweil weitere Beschlüsse des OVG Münster aufhebt. Außerdem geht es in dieser Woche um die Anforderungen an die Annahme eines Untertauchens, subjektive Absichten bei einer Einreise und um die Frage, wann ein Aufenthaltstitel bekanntgegeben und damit rechtswirksam in der Welt ist.

Dublin-Verfahren usw.

Tatsächliche Verhältnisse in Italien Ausdruck systemischer Mängel

Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist offenbar nicht besonders amüsiert über die aktuelle Dublin-Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe unten), in der der Umgang der nordrhein-westfälischen Rechtsprechung mit Dublin-Überstellungen nach Italien in Frage gestellt wird. In seinem Beschluss vom 29. Dezember 2023 (Az. 1a L 1896/23.A) geht das Verwaltungsgericht auf einige der (im Wesentlichen gleichlautenden) Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts ein und liefert Argumente, warum die vom Bundesverwaltungsgericht angemahnte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen im Fall einer unterstellten Rücküberstellung nach Italien im Ergebnis zu keiner Änderung der Rechtsprechung führen würde.

Italien habe seine Entscheidung, keine Dublin-Überstellungen mehr aufzunehmen, ausschließlich mit fehlenden Kapazitäten in seinem Asylsystem begründet, was nur als Versuch gewertet werden könne, Verstöße gegen die sich aus der Dublin-III-Verordnung ergebenden Verpflichtungen und damit konkret eine aus italienischer Sicht offenbar beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu vermeiden. Die eigenen Angaben Italiens zur Unterbringungssituation müssten insofern auch jedenfalls als gewichtige Erkenntnisquelle den Ausgangspunkt für die Beurteilung der tatsächlichen Umstände bilden. Dass demgegenüber die Aufnahmekapazitäten derzeit wieder hinreichend wären, um davon ausgehen zu können, den Betroffenen stehe im Falle der Rücküberstellung tatsächlich eine Unterkunft zur Verfügung, ergebe sich auch aus den wenigen im Übrigen zugänglichen Informationen gerade nicht. Dabei dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass bei der hypothetischen Betrachtung nicht nur die hohe Zahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge, sondern zusätzlich auch eine Rücküberstellung der im vergangen Jahr nicht übernommenen Asylantragsteller in Blick genommen werden müsste.

Sofern nicht die bereits fehlende Unterbringung an sich die Annahme einer Art. 4 GRCh widersprechenden Behandlung zu tragen vermöge, sei in Ansehung der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in Italien überdies mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass es Betroffenen auch nicht anderweitig gelingen werde, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Die humanitären Bedingungen in Italien sowie die besonderen Beeinträchtigungen der Betroffenen, insbesondere ihre sprachlichen Probleme, trügen nicht die Annahme, dass es ihnen gelingen werde, eine legale Arbeit zu finden. Auch wenn sie auf eine Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ verwiesen werden würden, was das Gericht „aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung“ ablehne, bilde dies in Ansehung der in diesem Bereich anzutreffenden Bedingungen keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass diese Tätigkeit eine Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse gewährleisten könne.

Dublin-Verfahren usw.

OVG Münster lässt schon wieder Prüfung vermissen

In noch einem Verfahren (siehe schon HRRF-Newsletter Nr. 125 und Nr. 126) hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 13. November 2023 (Az. 1 B 31.23) einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster aufgehoben, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ging, die aufgrund einer Dublin-Zuständigkeit Italiens ergangen war, und hat das Verfahren gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das OVG Münster zurückverwiesen.

Asylverfahrensrecht

Anforderungen an Feststellung eines Untertauchens

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darf das Untertauchen eines Schutzsuchenden nur annehmen, und das Asylverfahren wegen Nichtbetreiben des Verfahrens nur dann gemäß § 33 Abs. 2 Nr. 2 AsylG einstellen, wenn es für eine solche Annahme eine Tatsachengrundlage gibt, meint das Verwaltungsgericht Weimar in seinem Beschluss vom 7. Dezember 2023 (Az. 4 E 1428/23 We). Lege die Mitteilung einer anderen Behörde ein Untertauchen nahe, ohne aber hinreichende Informationen über den tatsächlichen Sachverhalt zu enthalten, der Grundlage der Mitteilung sei, so gebiete nicht zuletzt der in § 24 Abs. 1 S. 1 VwVfG enthaltene Untersuchungsgrundsatz, dass das Bundesamt nur bei hinreichender Tatsachengrundlage von einer Unauffindbarkeit des Ausländers ausgehe. Im entschiedenen Verfahren beruhte die Feststellung, dass der Antragsteller als untergetaucht gelte, allein auf einer Mitteilung der zuständigen Ausländerbehörde, wobei die Ausländerakte nicht erkennen ließ, auf welcher Tatsachengrundlage die Mitteilung beruhte. Es sei darum offen geblieben, so das Verwaltungsgericht, ob der Antragsteller an seiner bis dato bekannten Wohnanschrift tatsächlich nicht mehr erreichbar sei, etwa weil Postsendungen nicht zugestellt werden konnten, oder ob er es lediglich versäumt habe, seine Aufenthaltsgestattung rechtzeitig verlängern zu lassen.

Aufenthaltsrecht

Maßgeblichkeit subjektiver Absichten bei visafreiem Kurzaufenthalt

Um die (hier fehlende) Einheit der Rechtsordnung ging es letztlich auch in dem Verfahren, das der Verwaltungsgerichtshof Kassel mit seinem Beschluss vom 3. November 2023 (Az. 3 B 745/23) entschieden hat und in dem es um die Maßgeblichkeit subjektiver Absichten bei einer Einreise mit einem Aufenthaltstitel eines anderen Schengen-Staats ging. Der visafreie Kurzaufenthalt für Inhaber solcher Aufenthaltstitel eines anderen Schengen-Staats hänge gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG, § 15 AufenthV und Art. 21 Abs. 1 SDÜ davon ab, welche Absichten der Ausländer im Zeitpunkt seiner Einreise nach Deutschland habe. Beabsichtige er bereits zu diesem Zeitpunkt einen Daueraufenthalt, sei der Aufenthalt nicht rechtmäßig, weil Art. 6 Schengener Grenzkodex auf einen „geplanten“ Aufenthalt von nicht mehr als 90 Tagen abstelle. Wenn der Bundesgerichtshof für das Vorliegen eines unerlaubten Aufenthalts gerade nicht auf den individuell verfolgten Aufenthaltszweck abstelle, sondern ausschließlich auf objektive Kriterien (siehe zuletzt etwa Beschluss vom 24. März 2021, Az. 3 StR 22/21), dann gelte das ausschließlich für das Strafrecht, in dem andere Auslegungsmaßstäbe Anwendung fänden als bei einer „originär und ausschließlich aufenthaltsrechtlich[en]“ Auslegung.

Aufenthaltsrecht

Anforderungen an Bekanntgabe eines Aufenthaltstitels

Mit der überaus reizvollen Frage des Zeitpunkts der wirksamen Bekanntgabe eines Aufenthaltstitels hatte sich das Verwaltungsgericht Sigmaringen in seinem Beschluss vom 13. Dezember 2023 (Az. 1 K 2899/23) zu beschäftigen, in dem es um das Aufenthaltsrecht eines nigerianischen Staatsangehörigen ging, der sich bei Kriegsausbruch mit einem Studentenvisum in der Ukraine aufgehalten hatte und dann nach Deutschland geflohen war. Die zuständige Ausländerbehörde hatte für den Betroffenen einen elektronischen Aufenthaltstitel bei der Bundesdruckerei bestellt und ihn in einem automatisiert erstellten, individualisierten Informationsschreiben später darüber informiert, dass sein Aufenthaltstitel hergestellt und an die Behörde versandt worden sei. Noch etwas später, aber noch vor der Aushändigung des Aufenthaltstitels, änderte die Behörde nach Rücksprache mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Meinung. Sie argumentierte nun, dass für den Betroffenen eine sichere und dauerhafte Rückkehr nach Nigeria möglich sei und dass sie beabsichtige, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 AufenthG abzulehnen.

Das ginge so nicht, meinte das Verwaltungsgericht, weil der Aufenthaltstitel dem Betroffenen bereits durch das Informationsschreiben bekanntgegeben worden und das Verwaltungsverfahren damit abgeschlossen sei. Für den objektiven Empfänger beinhalte das an den Betroffenen versandte Schreiben nämlich die Information, dass das mit dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels angestoßene Verwaltungsverfahren abgeschlossen und die Prüfung der Erteilungsvoraussetzungen positiv verlaufen seien, weil andernfalls die Herstellung des den Titel verkörpernden Dokuments nicht erfolgt wäre. Das Verwaltungsgericht setzt sich in seinem Beschluss ausführlich mit der erstaunlich vielfältigen Meinungslage zu der Frage auseinander, wann und unter welchen Umständen ein Aufenthaltstitel bereits vor der Aushändigung des eigentlich Aufenthaltsdokuments bekanntgegeben werden kann.

Sonstiges

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Die HRRF-Monatsübersicht für Dezember 2023 ist zum Download verfügbar und bietet auf sechs Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Dezember 2023 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.