Wer kennt es nicht? Wenn eine Aufforderung eines UN-Ausschusses ins Haus flattert, dann muss man natürlich erst einmal die eigene Zuständigkeit prüfen, und das kann schon einige Wochen dauern. Ich halte es ehrlich gesagt für unwahrscheinlich, dass es so eine Situation, über die in dieser Newsletter-Ausgabe berichtet wird, in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben haben soll, so dass man Neuland betreten würde und tatsächlich wochenlang prüfen müsste. Schreiben Sie mir gerne, wenn Sie mehr wissen. Abgesehen davon geht es in dieser Newsletter-Ausgabe um Zurückweisungen an der deutschen Grenze, um Afghanistan und Syrien, um irreführende Hinweise des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und um die rechtliche Verschränkung von Rückkehrentscheidungen und Ausreisefristen.
Deutsche Behörden ignorieren UN-Sozialausschuss
Vor ziemlich genau vier Wochen hatte der UN-Sozialausschuss die deutsche Bundesregierung dazu aufgefordert, einem Schutzsuchenden in Thüringen soziale Leistungen zu gewähren, insbesondere Unterkunft, Gesundheitsversorgung und jedenfalls Leistungen, die dem Existenzminimum entsprechen, solange seine Individualbeschwerde vor dem UN-Ausschuss behandelt wird. Am 13. November 2025 berichtet die tagesschau, dass die zuständigen Behörden dieser Aufforderung bislang nicht gefolgt sind, der Beschwerdeführer vielmehr immer noch obdachlos und ohne jede Versorgung ist. Gleich mehrere Bundesministerien und das zuständige Landratsamt in Thüringen würden die Verantwortung für den Fall hin und her schieben, so die tagessschau.
Immerhin werden diverse Bundesministerien mit der Aussage zitiert, dass man den Fall „intensiv“ prüfe und sich austausche. Der Bericht ist lesenswert, weil er sich auch zur Frage äußert, wie rechtlich bindend so eine Aufforderung eines UN-Ausschusses für deutsche Behörden eigentlich ist.
Neues von den Zurückweisungen
Nachdem es eine Zeit lang eher ruhig um das Verfahren war, in dem eine minderjährige Somalierin im Sommer diesen Jahres im Eilverfahren erfolgreich gegen ihre Zurückweisung an der deutsch-polnischen Grenze geklagt hatte, kommt wieder Bewegung in die Sache. Medienberichten zufolge (siehe hier und hier) hat die Klägerin ihre Klage umgestellt und will im Hauptsacheverfahren jetzt die Feststellung erreichen, dass ihre Zurückweisung rechtswidrig war.
Die Medienberichte weisen zu Recht darauf hin, dass es in dem Verfahren nunmehr um eine Fortsetzungsfeststellungsklage gehen wird, d.h. um die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit eines mittlerweile erledigten behördlichen Handelns (nämlich der Zurückweisung an der deutschen Grenze), und dass eine solche Klage nicht ohne Weiteres zulässig ist, sondern nur bei Vorliegen eines besonderen Interesses der Klägerin an einer nachträglichen Feststellung. Die Rechtsprechung ist traditionell zurückhaltend, wenn es darum geht, ein solches Interesse anzuerkennen.
Afghanistan-Rückkehrgefährdung ohne familiäre Netzwerke?
Ist es Regelfall oder Ausnahme, dass „leistungsfähige erwachsene Rückkehrer“ nach Afghanistan dort über ein tragfähiges soziales oder familiäres Netzwerk verfügen, und welche Folgen hat die Beantwortung dieser Frage in die eine oder andere Richtung für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses? Das hat sich das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 23. Oktober 2025 (Az. 3 L 116/25.Z) gefragt und diese Fragen mit einem Rundgang durch aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung beantwortet. Während das Oberverwaltungsgericht Greifswald davon ausgehe, dass ein solches Netzwerk im Regelfall existiere, was gegen die Annahme eines Abschiebungsverbots nach Art. 3 EMRK spreche, sehe der Verwaltungsgerichtshof Mannheim es anders und solle ein solches Netzwerk im Regelfall nicht bestehen, was dann für eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK spreche. Ähnlich sehe es das Oberverwaltungsgericht Bautzen. Wenn vor diesem Hintergrund in einem Antrag auf Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung einer Rechtssache die Frage der Rückkehrgefährdung „leistungsfähiger erwachsener Rückkehrer“ gestellt werde, ohne das Vorhandensein eines familiären Netzwerks unmittelbar in die Fragestellung einzubeziehen, und wenn das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts von der Existenz eines solchen Netzwerks ausgegangen sei, dann sei die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich.
Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abgelehnt, letztlich weil die Frage der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aus Sicht des Gerichts nicht präzise genug herausgearbeitet wurde. Soweit das Gericht selbst auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein sozialer oder familiärer Netzwerke abstellt, scheint diese Differenzierung anderswo schon nicht mehr vorgenommen zu werden, siehe etwa das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald aus dem Juni 2025 (dort Rn. 228), in dem statt auf solche Netzwerke auf Rückkehrhilfen, Reintegrationsprogramme sowie auf die humanitären Bedingungen in Afghanistan abgestellt wurde (allgemein zu diesem Greifswalder Urteil siehe hier).
Keine Zustellfiktion bei irreführender Belehrung
Die Zustellungsfiktion des § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbs. 2 AsylG greift nur dann ein, wenn der Antragsteller zuvor den Anforderungen des § 10 Abs. 7 AsylG entsprechend belehrt wurde, meint das Verwaltungsgericht Karlsruhe in seinem Beschluss vom 3. November 2025 (Az. A 13 K 10026/25). Dies sei nicht der Fall, wenn in den Belehrungsformularen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge irreführende Hinweise enthalten seien, etwa wenn der den Schreiben beigefügte deutschsprachige Gesetzesauszug eine bereits außer Kraft getretene Fassung des § 10 Abs. 4 Satz 4 Halbs. 2 AsylG enthalte.
Ohne Zustellung ist ein Bescheid nicht bekanntgegeben und damit nicht wirksam, was in dem entschiedenen Verfahren dazu führte, dass ein früheres Asylverfahren nie wirksam abgeschlossen wurde und ein erneut gestellter Asylantrag dementsprechend kein Folgeantrag sein konnte. Es kann sich also lohnen, die einem Bescheid beigefügten Dokumente sorgfältig zu lesen und zu prüfen.
Menschenrechtslage in Syrien klärungsbedürftig
Das Verwaltungsgericht Köln geht in seinem Beschluss vom 31. Oktober 2025 (Az. 27 L 2543/25.A) davon aus, dass es von den Besonderheiten des Einzelfalles abhängt, ob durch eine Abschiebung nach Syrien eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht oder nicht. Der Bürgerkrieg habe in Syrien zu einer sehr schlechten wirtschaftlichen Lage geführt, habe große Teile der Infrastruktur zerstört und eine Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung hervorgerufen. Trotz positiver Tendenzen nach dem Sturz des Assad-Regimes sei die Bevölkerung weiterhin massiv auf humanitäre Hilfe angewiesen und stehe vor großen Herausforderungen wie Wohnungsmangel, im Verhältnis zum Einkommen hohen Lebenshaltungskosten und einem sehr eingeschränkten Arbeitsmarkt. Zu den im Einzelfall zu würdigenden Umstände gehörten etwa Unterhaltsverpflichtungen, die Rückkehrregion, berufliche Erfahrungen, körperliche Einschränkungen, ein familiäres oder soziales Netzwerk und eine vorhandene Unterkunft.
Kläger und Antragsteller in dem Verfahren war ein 68 Jahre alter Syrer, gegen den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung erlassen hatte. Das Verwaltungsgericht äußerte ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, hat die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet und will im Hauptsacheverfahren aufklären, ob der Kläger in der Lage sein wird, in Syrien existentielle Gefahren abzuwenden, oder ob ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Betracht kommt.
Folgen der unionsrechtlichen Verschränkung von Rückkehrentscheidung und Ausreisefrist
Bei der Abschiebungsandrohung und der Bestimmung der Ausreisefrist (oder der Entscheidung darüber, eine solche nicht zu bestimmen) handelt es sich um mehrere Regelungen im Sinne des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts, die jedoch aufgrund der Besonderheiten des Aufenthaltsrechts so miteinander verschränkt sind, dass ihre jeweilige Rechtmäßigkeit die Existenz und Rechtmäßigkeit der jeweils anderen Regelung voraussetzt, sagt das Oberverwaltungsgericht Weimar in seinem Beschluss vom 17. Oktober 2025 (Az. 4 EO 334/25). Eine unterbliebene oder fehlerhaft bestimmte Ausreisefrist habe allerdings nur die Rechtswidrigkeit und nicht die Nichtigkeit der Rückkehrentscheidung zur Folge. Zwar habe der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. August 2025 (Rs. C-636/36 und C-637/23) ausdrücklich von einer „Nichtigkeit“ der Rückkehrentscheidung gesprochen, was jedoch (nur) dem Umstand geschuldet sei, dass nach dem vom vorlegenden Gericht anzuwendenden belgischen Verwaltungsprozessrecht für den Fall der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes nur eine Nichtigkeitsfeststellungsklage (und keine § 42 Abs. 1 VwGO vergleichbare Anfechtungsklage) vorgesehen gewesen sei.
Der HRRF-Newsletter hatte im August ausführlich über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs berichtet. Zur Heilung rechtswidriger Abschiebungsanordnungen führt das Oberverwaltungsgericht übrigens aus (Rn. 35ff.), dass das unkompliziert möglich sein soll, indem die Festlegung einer Ausreisefrist nachgeholt und der die Rückkehrentscheidung enthaltene Bescheid diesbezüglich ergänzt bzw. inhaltlich komplettiert wird. Der Kläger müsse einen solchen Änderungsbescheid dann ausdrücklich in ein laufendes gerichtliches Verfahren einbeziehen. Tue er dies nicht, so sei im Gerichtsverfahren in erster Linie die Existenz des Heilungs- bzw. Änderungsbescheides als Tatsache zu berücksichtigen und von Amts wegen die Frage zu beantworten, ob die heilende Regelung die schon gerichtlich streitgegenständliche Regelung konkludent aufgehoben und ersetzt hat und damit insoweit das Rechtsschutzinteresse der Anfechtungsklage hat entfallen lassen.
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