In seinem Urteil vom 30. November 2023 (Rs. C-228/21, u.a.) meint der Europäische Gerichtshof, dass die Gefahr einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots im Zielstaat einer Dublin-Überstellung die Überstellung nicht verhindert, sofern diese Gefahr nur im Einzelfall und nicht aufgrund systemischer Mängel droht. Unionsrecht beruhe auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teile, was die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten rechtfertige, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage seien, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der Grundrechte zu bieten.
Für die Überprüfung der Gültigkeit der Überstellungsentscheidung sei „im Prinzip“ nicht von Belang, dass die an einem Dublin-Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilten, über welchen Schutz ein Antragsteller gemäß Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie in seinem Herkunftsland verfügen könne und ob gemäß Art. 15 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestehe. Dass die Behörden und Gerichte der beiden betroffenen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Auslegung der sachlichen Voraussetzungen des internationalen Schutzes unterschiedliche Auffassungen verträten, bedeute auch nicht, dass systemische Schwachstellen vorlägen.
Die Dublin‑III-Verordnung verfolge die Ziele, eine klare und praktikable Methode der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einzuführen und Sekundärmigration der Asylbewerber zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern. Mit diesen Zielen wäre es nicht vereinbar, wenn der Richter, der eine Überstellungsentscheidung überprüft, eine inhaltliche Beurteilung der Gefahr der Zurückweisung im Fall der Überstellung vorzunehmen hätte. Er habe vielmehr davon auszugehen, dass die für Asylsachen zuständige Behörde des zuständigen Mitgliedstaats die Gefahr der Zurückweisung unter Einhaltung von Art. 19 GRCh richtig einschätzen und bestimmen werde und dass dem Drittstaatsangehörigen gemäß den Anforderungen von Art. 47 GRCh wirksame Rechtsbehelfe zuständen, um die Entscheidung, die die Behörde insoweit treffe, gegebenenfalls anzufechten.
In Hinblick auf das Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung bedeute dies, so der EuGH, dass ein Gericht, das über einen gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu entscheiden habe, „nicht zu prüfen“ habe, ob für den Betroffenen die Gefahr bestehe, dass der zuständige Dublin-Staat gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoße, solange Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in diesem Staat keine systemischen Schwachstellen aufwiesen. Das Gericht könne den Mitgliedstaat, in dem sich der Schutzsuchende befindet und in dem das Gericht Rechtsprechung ausübt, daher auch nicht „zwingen“, wegen einer im Dublin-Zielstaat bestehenden Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung von der Ermessensklausel des Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung Gebrauch zu machen.
Der EuGH widerspricht sich hier, wenn er einerseits ausführt, dass die Anwendung von Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung im Ermessen jedes Mitgliedstaats steht, aber andererseits betont, dass nationale Gerichte die korrekte Anwendung der Ermessensklausel nicht prüfen dürften. Der Umfang der Prüfungskompetenz nationaler Gerichte wird ja wohl auch eine Frage des nationalen Rechts sein (so noch ausdrücklich und auch ansonsten deutlich differenzierter die Schlussanträge der Generalanwältin vom 20. April 2023), es sei denn, umso schlimmer, der EuGH hätte andeuten wollen, dass Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung eine gerichtliche Kontrolle des den Mitgliedstaaten eingeräumten Ermessens grundsätzlich verbietet. Dieselbe Fragestellung ergibt sich unabhängig vom Selbsteintrittsrecht auch in Hinblick auf die allgemeinen Ausführungen des EuGH zur Nichtberücksichtigung einer (nur) im Einzelfall bestehenden Refoulement-Gefahr im Zielstaat einer Dublin-Überstellung.
Vor dem Hintergrund, dass das Urteil inhaltlich außer einer in Hinblick auf den Gleichlauf von EU-Grundrechtecarta und Europäischer Menschenrechtskonvention potentiell problematischen Relativierung früherer EuGH-Rechtsprechung (insbesondere des Urteils vom 16. Februar 2017, Rs. C-578/16 PPU) an sich nichts wirklich Neues bringt, ist weder ersichtlich noch verständlich, warum der EuGH die bestehende Rechtslage mit einer solchen Vehemenz erläutert hat. Der EuGH hat sich in dem Urteil ansonsten auch noch zur Reichweite der Pflicht zur Information von Schutzsuchenden aus Art. 4 Dublin-III-Verordnung und zur Reichweite des Rechts auf eine persönliche Anhörung aus Art. 5 Dublin-III-Verordnung geäußert und hat zu dem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Im allersten HRRF-Newsletter wurde über das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. Juni 2021 (Az. 11 K 8652/17) berichtet, in dem AfD mit ihrem Versuch gescheitert war, sich in die Hamburger Härtefallkommission einzuklagen. Bereits im Dezember 2020 war die AfD vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gescheitert (Urteil vom 16. Dezember 2020, Az. 14/18), in dem es ebenfalls um Härtefallkommissionen gemäß § 23a AufenthG ging, im September 2023 auch vor dem Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 14. September 2023, Az. 2 BvR 107/21, siehe HRRF-Newsletter Nr. 116). Nun hat es die AfD auch vor dem Oberverwaltungsgericht Hamburg nicht geschafft, sich in die Hamburger Härtefallkommission einzuklagen. Das OVG hat es mit Beschluss vom 28. November 2023 (Az. 3 Bf 250/21.Z) abgelehnt, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts von 2021 zuzulassen, und hat zu seinem Beschluss auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Laut dem Beschluss des OVG verletze die Hamburgischen Bürgerschaft durch die Nichtwahl von AfD-Abgeordneten in die Härtefallkommission nicht das Recht der AfD-Bürgerschaftsfraktion auf gleiche Teilhabe am parlamentarischen Willensbildungsprozess. Das Hamburger Härtefallkommissionsgesetz begründe keinen von der Wahl losgelösten Anspruch auf Stellung eines Mitglieds in der Härtefallkommission. Der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit, wonach Ausschüsse bzw. Kommissionen regelmäßig so zu besetzen seien, dass darin das parlamentarische Kräfteverhältnis des Plenums abgebildet werde, gelte nicht. Nach dem Härtefallkommissionsgesetz bestehe auch keine Verpflichtung, eine Wahlentscheidung zu begründen. Selbst wenn das von der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg gewährleistete Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung auf die Wahl zur Härtefallkommission Anwendung fände, bliebe die Klage der AfD‑Bürgerschaftsfraktion ohne Erfolg. Verfassungsrechtlich stünde das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung der AfD-Bürgerschaftsfraktion nämlich unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten. Wahlen zeichneten sich gerade durch Wahlfreiheit aus.
In seinem Urteil vom 25. Oktober 2023 (Az. 18 K 191/21 A) erläutert das Verwaltungsgericht Berlin ausführlich, wie sich höchstrichterliche Rechtsprechung auf bestandskräftige Ablehnungen von Asylanträgen in Deutschland auswirken kann. Danach liege regelmäßig weder in der Klärung einer Rechtsfrage durch höchstrichterliche Rechtsprechung noch einer Änderung dieser Rechtsprechung eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. VwVfG. Ein unionsrechtlich gebotener Ausnahmefall könne sich zwar auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 14. Mai 2020, Rs. C-924/19) ergeben, aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020, Rs. C-238/19 folge aber nicht automatisch eine Unionsrechtswidrigkeit von bestandskräftigen Ablehnungen der Anträge syrischer Wehrdienstverweigerer auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Ist eine Wiedereinreise eines (im entschiedenen Verfahren staatenlosen) Ausländers in einen Zielstaat wegen fehlender Übernahmebereitschaft oder fehlender Übernahmeverpflichtung dieses Staats nicht möglich, so kann auch keine Abschiebungsandrohung in den Staat ergehen, sagt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss vom 2. November 2023 (Az. 16 L 171/23 A). Die mit der Abschiebungsandrohung verbundene Aufforderung zur freiwilligen Ausreise ginge in diesem Fall ins Leere.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf berichtet in einer Pressemitteilung vom 22. November 2023 über sein Urteil vom selben Tag (Az. 7 K 193/22, der Volltext liegt noch nicht vor), in dem es einer Klage des ehemaligen Guantánamo-Gefangenen Mohamedou Ould Slahi gegen ein im Jahr 2000 von der Ausländerbehörde Duisburg verhängtes Einreise- und Aufenthaltsverbot stattgegeben hat. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot, das nach einer Verurteilung wegen Sozialleistungsbetruges verhängt worden war, könne nicht wegen eines Terrorismusverdachts aufrechterhalten, verlängert oder neu erlassen werden, der nicht Gegenstand der ursprünglichen Ausweisungsentscheidung gewesen sei.
Art. 11 der EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG über die maximale Länge der Befristung von Einreise- und Aufenthaltsverboten gelte auch für Altfälle und bestimme, dass die Dauer eines Einreiseverbots grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten dürfe. Anderes gelte zwar dann, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstelle, für diese Prognoseentscheidung sei aber nur auf die Gefahr abzustellen, die mit der ursprünglichen Ausweisung bekämpft werden sollte. Andere oder später eintretende Umstände, die nicht Gegenstand der Ausweisungsverfügung gewesen seien, könnten im Rahmen der Befristungsentscheidung nicht berücksichtigt werden.
Das Verwaltungsgericht hat die Berufung zum Oberverwaltungsgericht sowie die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
In einer Pressemitteilung vom 28. November 2023 berichtet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über eine von ihm im Verfahren I.A. gg. Frankreich (Az. 40788/23) erlassene vorläufige Maßnahme, die die Auslieferung eines in Frankreich als Flüchtling anerkannten russischen Staatsangehörigen aufgrund eines russischen Auslieferungsersuchens einstweilen verhindern soll. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Rechte des Betroffenen aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) und Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) des Betroffenen im Falle seiner Auslieferung nach Russland irreparabel verletzt würden.
Der Vollzug von Abschiebungshaft in einer griechischen Polizeistation über einen Zeitraum von 18 Monaten in den Jahren 2013 und 2014 verstößt gegen Art. 3 und Art. 5 EMRK, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 23. November 2023 (Az. 44312/13), Mirzai u.a. gg. Griechenland. In zwei weiteren Entscheidungen vom 23. November 2023 (Az. 8386/20, M.L. gg. Griechenland und 8389/20, M.B. gg. Griechenland) hat der EGMR festgestellt, dass die Aufnahmebedingungen im Registrierungszentrum auf der griechischen Insel Samos im Jahr 2020 die Rechte zweier schwangerer Schutzsuchender aus Art. 3 EMRK verletzt haben, in einer weiteren Entscheidung vom 23. November 2023 (Az. 47287/17, A.T. u.a. gg. Italien), dass die Aufnahmebedingungen im italienischen Hotspot-Zentrum in Taranto gegen Art. 3 und Art. 5 EMRK verstoßen haben.
Das gesetzgeberische Ziel des § 25a Abs. 1 AufenthG, wonach der Bezug öffentlicher Leistungen durch einen in Ausbildung befindlichen Jugendlichen während der Ausbildungszeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Eltern nicht entgegenstehen soll, kann nur erreicht werden, wenn der betreffende Jugendliche aus der Bedarfsgemeinschaft herausgenommen wird, für die der Lebensunterhalt durch eigenständige Erwerbstätigkeit der Eltern gesichert sein muss, sagt das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in seinem Beschluss vom 7. November 2023 (Az. 2 A 229/22). Ansonsten liefe die Privilegierung des § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG jedenfalls teilweise ins Leere, was dem Schutzgedanken des Art. 6 GG widersprechen würde.