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Dogmatisch trennscharf

Strukturelle Nahrungsmitteldefizite verhindern Abschiebungen nicht, Anhörungsmängel im Asylverfahren führen nicht reflexartig zu Gehörsverletzungen und ein Berufungsgericht darf auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Außerdem in dieser Ausgabe ein Kommunikationsverbot und ein wenig Abschiebungshaft.

  • Keine generellen Abschiebungsverbote für Gambia

    Die humanitären Verhältnisse in Gambia rechtfertigen bei einem erwerbsfähigen, jungen und gesunden Mann regelmäßig nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK, meint der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Urteil vom 24. April 2024 (Az. A 13 S 1931/23). Gambia zähle zwar zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt und habe mit strukturellen Nahrungsmitteldefiziten zu kämpfen, dies bedeute aber noch nicht, dass deshalb Rückführungen nach Gambia, insbesondere in die Hauptstadt Banjul, in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wären. Vielmehr sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wie sehr die allgemeine Lage in Gambia den jeweiligen Kläger persönlich betreffen würde. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Urteil außerdem zur Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung oder Inhaftierung wegen Desertion geäußert, die bei Militärangehörigen, die vor dem Machtwechsel 2017 aus dem Militärdienst desertiert seien, nach gegenwärtiger Erkenntnislage ohne das Hinzutreten besonderer Umstände nicht beachtlich sei.

  • Anhörungsmangel nicht stets auch Gehörsverletzung

    Das Oberverwaltungsgericht Koblenz sieht sich in seinem Beschluss vom 18. April 2024 (Az. 13 A 10157/24.OVG) dazu bemüßigt, erneut „dogmatisch trennscharf“ zwischen den verwaltungsverfahrensrechtlichen und speziellen asylverfahrensrechtlichen Regelungen zur Anhörung eines Betroffenen einerseits sowie der Pflicht des Verwaltungsgerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG andererseits zu unterscheiden. Eine fehlerhafte oder gar unterbliebene Anhörung eines Betroffenen im behördlichen Asylverfahren führe nicht – gewissermaßen reflexartig – zu einer Gehörsverletzung auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, sondern allenfalls zu einer formellen Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheides, was zu dessen Aufhebung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO führen könne. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass eine Anhörung im behördlichen Verfahren überhaupt vorgeschrieben sei, dies sei etwa in einem Widerrufsverfahren gemäß § 73b Abs. 6 Satz 1 AsylG nicht der Fall, weil dem Ausländer die beabsichtigte Entscheidung über einen Widerruf oder eine Rücknahme schriftlich unter Angabe der Gründe mitzuteilen und ihm lediglich Gelegenheit zu einer mündlichen oder schriftlichen Äußerung zu geben sei.

  • Vereinfachtes Berufungsverfahren in Bulgarien-Fällen rechtmäßig

    Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen beiden Beschlüssen vom 5. April 2024 (Az. 1 B 7.24 und 1 B 15.24) keine Zweifel, dass die Durchführung von vereinfachten Berufungsverfahren gemäß § 130a VwGO durch das Oberverwaltungsgericht Münster in zwei Verfahren rechtmäßig war, in denen es um Anerkannten-Fälle mit Bulgarien-Bezug ging. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung im Berufungsverfahren verstoße weder gegen Art. 6 EMRK, der auf asylrechtliche Verfahren gar nicht direkt anwendbar sei, noch gegen Art. 47 GRCh, der im Sinne von Art. 6 EMRK auszulegen sei. Ein Verstoß gegen Art. 46 Abs. 3 der EU-Asylverfahrensrichtlinie liege ebenso nicht vor, weil das Gericht die Entscheidung treffen dürfe, den Antragsteller im Rahmen des Rechtsbehelfs nicht anzuhören und von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, wenn es der Auffassung sei, dass es seiner Verpflichtung zur umfassenden Prüfung des Rechtsbehelfs allein auf der Grundlage des Akteninhalts einschließlich der Niederschrift oder des Wortprotokolls der persönlichen Anhörung des Antragstellers nachkommen könne.

  • Ehemaliger IS-Chef: Eilantrag gegen Ausweisung teilweise erfolgreich

    Das Verwaltungsgericht Düsseldorf berichtet in einer Pressemitteilung vom 13. Mai 2024 („Ehemaliger IS-Chef: Eilantrag gegen Ausweisung weitgehend erfolglos“) über seinen Beschluss vom selben Tag (Az. 27 L 2717/23), in dem es einem Eilantrag des derzeit noch in Deutschland inhaftierten ehemaligen Deutschland-Chefs der Terrorgruppe IS gegen eine gegen ihn erlassene Abschiebungsandrohung stattgegeben hat. Zwar dürfte sich die auf § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung zum Entscheidungszeitpunkt als rechtmäßig erweisen, so das Verwaltungsgericht, jedoch überwiege ungeachtet dessen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, da er trotz fehlender Aufenthaltsgestattung aufgrund der Stellung seines Asylfolgeantrags derzeit nicht in den Irak abgeschoben werden dürfe. § 71 Abs. 5 Satz 3 AsylG sehe vor, dass die Abschiebung eines Ausländers nach der Stellung eines Asylfolgeantrages im Allgemeinen erst nach Ablauf der Frist des § 74 Abs. 1, 2. Hs. AsylG und im Fall eines innerhalb der Frist gestellten Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO erst nach der gerichtlichen Ablehnung dieses Antrags vollzogen werden dürfe. Selbst im Fall der Ablehnung dieses Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Ziffer 5 AsylG dürfe eine Abschiebung des Antragstellers mithin nicht vor Bekanntgabe der Entscheidung des Bundesamtes über seinen Asylfolgeantrag und bei Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes vor der Entscheidung im gerichtlichen Eilverfahren vollzogen werden.

    An der Ausweisung des Antragstellers hatte das Verwaltungsgericht dagegen nichts auszusetzen, auch falls ihm im Irak konkret Todesstrafe, Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würden, weil diese Aspekte im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG keine Berücksichtigung finden könnten. Insoweit bestehe nämlich gemäß § 6 Satz 1 und § 42 AsylG eine Bindung der Ausländerbehörde und des Gerichts an die bisherigen negativen Feststellungen des Bundesamtes, so dass der Antragsteller mit seinem diesbezüglichen Vorbringen auf das zwischenzeitlich angestrengte weitere Asylverfahren zu verweisen sei. Auch eine tägliche Meldepflicht sowie ein Verbot, EDV-gestützte Kommunikationsmittel, Mobiltelefone aller Art, öffentliche und private Fernsprecher aller Art sowie Faxgeräte aller Art mit Ausnahme eines nicht-internetfähigen Mobiltelefons zu nutzen, seien rechtmäßig, weil diese Beschränkungen zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die innere Sicherheit und Leib und Leben Dritter notwendig seien. An der Verhältnismäßigkeit solcher intensiven gefahrenabwehrrechtlichen Eingriffe in Verfahren mit Terrorismusbezug haben andere Verwaltungsgerichte durchaus gelegentlich Zweifel (so etwa das Verwaltungsgericht Augsburg in seinem Urteil vom 28. März 2023, Az. VG 1 K 22.2156), offenbar nicht dagegen das Verwaltungsgericht Düsseldorf.

  • Gruppenanhörung ist stets rechtswidrig

    Eine gemeinsame persönliche Anhörung von Betroffenen, gegen die jeweils Haft zur Sicherung der Abschiebung beantragt worden ist, verstößt gegen die für die richterliche Anhörung vorgeschriebene Nicht-Öffentlichkeit gemäß § 170 GVG und begründet einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund, der zur Rechtswidrigkeit der auf Grund dieser Anhörung angeordneten Haft führt, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 26. März 2024 (Az. XIII ZB 29/21). In dem Beschluss hat der Bundesgerichtshof außerdem festgehalten, dass die öffentliche Zustellung eines Ausweisungsbescheids unwirksam ist, wenn in dem Aushang ein unzutreffendes Datum des Bescheids angegeben wird.

  • Keine Anhörung per Videokonferenz

    Mit Beschluss vom 26. März 2024 (Az. XIII ZB 34/22) hat der Bundesgerichtshof erneut festgestellt, dass eine Haftanhörung nur im absoluten Ausnahmefall als Videoanhörung stattfinden darf. § 420 Abs. 2 FamFG, der eine persönliche Anhörung für entbehrlich erkläre, wenn der Betroffene an einer übertragbaren Krankheit leide, sei in Hinblick auf den schwerwiegenden Grundrechtseingriff einer Freiheitsentziehung einschränkend auszulegen.

  • Ausländerbehörde darf irren

    In einem Beschluss vom 20. Februar 2024 (Az. XIII ZB 29/22) geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Freiheitsentziehungssachen nicht vorliegt, wenn die Ausländerbehörde in der unzutreffenden Annahme, eine Abschiebung zu einem früheren Zeitpunkt durchführen zu können, zunächst eine objektiv zu kurze Haft beantragt und später deren Verlängerung erwirken muss.

  • Materielle Rechtskraft hat Grenzen

    Einem nach Erledigung als Feststellungsantrag weiterverfolgten Haftaufhebungsantrag steht die materielle Rechtskraft der Entscheidung des Landgerichts über die Beschwerde gegen die Haftanordnung nicht entgegen, wenn darin nicht über einen Feststellungantrag entschieden wurde, sagt der Bundesgerichtshof in einem weiteren Beschluss vom 20. Februar 2024 (Az. XIII ZB 42/21).

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ISSN 2943-2871