Die neue Textausgabe zum Deutschen Migrationsrecht ist da - jetzt herunterladen oder bestellen!
Ausgabe 178 • 10.1.2025

Grundrechtsfreundliche Auslegung

Auch wenn ein 2006 eingeleitetes Widerrufsverfahren über 16 Jahre liegengeblieben ist: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das Bundesamt keinen Widerrufsbescheid mehr erlassen wird, meint jedenfalls das Verwaltungsgericht Wiesbaden. Der Verwaltungsgerichtshof München hat derweil entschieden, dass aus einem Verantwortungsübergang für einen Flüchtling nach dem EÜÜVF ein automatischer Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis folgt, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland wegen eines Pushbacks in die Türkei verurteilt. Daneben geht es in dieser Newsletter-Ausgabe um den für die Beurteilung der Minderjährigkeit von Schutzsuchenden maßgeblichen Zeitpunkt, um die Frage des Beschwerdeausschlusses bei Wohnungsdurchsuchungen und um den Versuch einer Anordnung von Mitwirkungshaft ohne eine vorherige verständliche Belehrung.

Menschenrechtsschutz

Griechenland wegen eines illegalen Pushbacks verurteilt

In seinem Urteil vom 7. Januar 2025 (Az. 15783/21, A.R.E. gg. Griechenland) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland wegen eines illegalen Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze im Mai 2019 verurteilt. Griechische Behörden hätten damals eine aus der Türkei geflohene Beschwerdeführerin in Grenznähe aufgegriffen, sie festgenommen, ihr Asylgesuch ignoriert und sie noch am Tag ihres Aufgriffs in die Türkei zurückgeschoben, wo sie verhaftet wurde; die Festnahme und anschließende Zurückschiebung ohne Prüfung des Asylgesuchs der Betroffenen habe ihre Rechte aus Artt. 3, 5 und 13 EMRK verletzt. Außerdem gebe es starke Indizien, so der Gerichtshof, dass Griechenland in diesem Zeitraum systematisch Pushbacks praktiziert habe. In einem weiteren Urteil vom 7. Januar 2025 (Az. 15067/21, G.R.J. gg. Griechenland) hat der Gerichtshof eine Beschwerde zurückgewiesen, in der der dortige Beschwerdeführer geltend gemacht hatte, im September 2020 von griechischen Behörden im Wege eines Pushbacks in die Türkei zurückgeschoben worden zu sein. Er habe nicht nachweisen können, sich tatsächlich in Griechenland aufgehalten zu haben und tatsächlich von einem Pushback betroffen zu sein, was er trotz der Indizien für eine Praxis systematischer Pushbacks in Griechenland hätte tun müssen. Der Gerichtshof hat zu seinen Urteilen auch ausführliche Pressemitteilungen veröffentlicht (A.R.E. gg. Griechenland sowie G.R.J. gg. Griechenland).

Asylverfahrensrecht

Für Minderjährigkeit ist Zeitpunkt der Asylantragstellung maßgeblich

Für den Zeitpunkt der Minderjährigkeit von Schutzsuchenden ist jedenfalls im Rahmen von § 30 Abs. 2 AsylG, wonach ein Asylantrag eines unbegleiteten Minderjährigen nicht gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden darf, der Zeitpunkt der Antragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge maßgeblich, meint das Verwaltungsgericht Berlin in zwei Beschlüssen vom 27. November 2024 (Az. 4 L 726/24 A) und vom 12. Dezember 2024 (Az. 24 L 877/24 A). Dem Kindeswohl und dem Minderjährigenschutz entspreche es, auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Schutzsuchende diejenige Handlung vornehme, die zu der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG führe, was der Zeitpunkt der Äußerung des Asylgesuchs sei. Nur so sei gewährleistet, dass die Ablehnung eines Asylantrags als einfach unbegründet oder als offensichtlich unbegründet nicht davon abhänge, wann das Bundesamt die Anhörung durchführe. Außerdem könne die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgeblichen Zeitpunkt beim Familiennachzug auf die Auslegung von § 30 AsylG übertragen werden.

Asylverfahrensrecht

Keine Verwirkung der Widerrufsbefugnis nach 16 Jahren

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist nicht daran gehindert, ein im Jahr 2006 eingeleitetes Widerrufsverfahren erst 16 Jahre später, nämlich 2022, durch den Widerruf der Schutzgewährung abzuschließen, sagt das Verwaltungsgericht Wiesbaden in seinem Urteil vom 21. November 2024 (Az. 6 K 899/22.WI.A). Die Widerrufsbefugnis aus § 73 AsylG unterliege zwar der Verwirkung, die aber neben einem bloßen Zeitablauf zusätzlich das Eintreten von Umständen voraussetze, aus denen der Schutzberechtigte den Schluss ziehen könne, dass der gewährte Schutz nicht mehr widerrufen werde. Es sei aber im entschiedenen Verfahren weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass in der Zeit zwischen 2006 und 2022 Umstände eingetreten wären, aus denen der Kläger hätte schließen können, dass der Widerruf nicht mehr erfolgen würde. Auch sei nicht erkennbar, dass sich der Kläger im Vertrauen auf den Fortbestand seiner Asylberechtigung in einer Weise verhalten hätte, dass ihm durch den Widerruf ein unzumutbarer Nachteil entstünde.

Aufenthaltsrecht

Anspruch auf Aufenthaltstitel bei Verantwortungsübergang

Aus dem Übergang der Verantwortung für einen Flüchtling gemäß Art. 2 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (EÜÜVF) folgt der automatische Zugang des Flüchtlings zu allen einem anerkannten Flüchtling in Art. 20 ff. der EU-Qualifikationsrichtlinie gewährten Rechten und folglich auch zum Recht auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, sagt der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Urteil vom 10. Dezember 2024 (Az. 19 B 24.666). Deutschland habe in § 60 Abs. 1 AufenthG von der nach Völker- und Unionsrecht bestehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, durch eine nationale Regelung den Anerkennungsentscheidungen anderer Staaten in begrenztem Umfang Rechtswirkungen auch im eigenen Land beizumessen. Es bestehe zwar kein Anspruch auf erneute Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, aber ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, nämlich im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung von § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG, die entgegen der in Ziffer III.3.3 der BMI/BAMF-Anwendungshinweise zum Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge geäußerten Ansicht möglich und geboten sei. In dem Verfahren ging es um eine äthiopische Staatsangehörige, der in Italien internationaler Schutz gewährt worden war und die sich seit 2019 in Deutschland aufhielt. Ein von ihr in Deutschland gestellter Asylantrag war als unzulässig abgelehnt worden, die Durchführung eines Dublin-Verfahrens führte nicht zu einer Überstellung nach Italien. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.

Aufenthaltsrecht

Immer noch kein Beschwerdeausschluss bei Wohnungsdurchsuchungen

Das Oberverwaltungsgericht Bremen vertritt in seinem Beschluss vom 20. Dezember 2024 (Az. 2 S 344/24) die Ansicht, dass die Beschwerde gegen die Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung zur Ergreifung einer Person, die aufgrund einer Abschiebungsandrohung des Bundesamts (§ 34 AsylG) abgeschoben werden soll, nicht nach § 80 AsylG ausgeschlossen ist. Der Wortlaut von § 80 AsylG lege eine Erstreckung auf Durchsuchungsanordnungen eher nahe, ohne sie allerdings eindeutig zu verlangen, während die Entstehungsgeschichte der Norm diesbezüglich unerheblich sei und eine teleologische Auslegung eher gegen eine Erstreckung des Beschwerdeausschlusses auf Durchsuchungsbeschlüsse spreche. Bei einem solchen Befund gebe der Gedanke einer grundrechtsfreundlichen Auslegung des einfachen Rechts den Ausschlag zugunsten eines Verständnisses, nach dem die Beschwerde nicht ausgeschlossen sei, weil sie jedenfalls der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG am besten und weitgehendsten gerecht werde. Hätte der Gesetzgeber für Durchsuchungsanordnungen zur Durchführung einer vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angedrohten Abschiebung ein niedrigeres Rechtsschutzniveau gewollt, so hätte er die Beschwerde für diese Fälle klar und eindeutig ausschließen müssen.

Abschiebungshaftrecht

Keine Mitwirkungshaft ohne Belehrung in verständlicher Sprache

Die nach § 62 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 AufenthG erforderliche Belehrung über die Möglichkeit einer Inhaftierung zur Vorführung bei ausländischen Botschaften muss wegen der damit verbundenen Warnfunktion in einer dem Ausländer verständlichen Sprache erfolgt sein, sagt das Amtsgericht Berlin-Tiergarten in seinem Beschluss vom 26. November 2024 (Az. 382 XIV 1096/24 B). Eine fehlerhafte Belehrung könne die von § 62 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 AufenthG intendierte Warnfunktion nicht erfüllen, was einen anschließenden Haftantrag unzulässig mache.

Sonstiges

Bundesregierung zur asylgerichtlichen Statistik

Mit Antwort vom 13. Dezember 2024 (BT-Drs. 20/14272) hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage im Bundestag beantwortet, in der es um Asylstatistik und asylgerichtliche Verfahren in den Monaten Januar bis Oktober 2024 geht. Wie üblich enthält die Antwort, diesmal auf 56 Seiten, zahlreiche (zahllose) statische Daten zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen. So hat etwa die „bereinigte Gesamtschutzquote“ in den ersten zehn Monaten des Jahres 2024 61,3% betragen (S. 5) und wurden 0,1% der Asylanträge weiblicher Schutzsuchender aus Afghanistan abgelehnt (S. 19). In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 betrug die durchschnittliche Dauer gerichtlicher Verfahren 16,9 Monate im Fall der Anfechtung negativer Behördenentscheidungen zu Erst- und Folgeanträgen sowie 30,3 Monate im Fall der Anfechtung von Widerrufsentscheidungen. 23,9% aller gerichtlichen Eilanträge in Dublin-Verfahren waren erfolgreich (S. 30), Eilanträge in Dublin-Verfahren gemäß § 123 VwGO dauerten durchschnittlich 25,2 Tage, während Eilanträge gemäß § 80 Abs. 5 VwGO durchschnittlich 50,1 Tage dauerten (S. 30). In 32,6% aller vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschiedenen Verfahren wurden Rechtsmittel eingelegt, was 74.661 neue asylgerichtliche Klagen bedeutet (S. 36). Mit Stand 15. November 2024 waren an deutschen Gerichten 128.252 asylgerichtliche Verfahren anhängig, davon 30 am Bundesverwaltungsgericht (S. 37). Die meisten Verfahren hatte wie üblich das Verwaltungsgericht Berlin zu bearbeiten, nämlich 10.871 Verfahren, gefolgt vom Verwaltungsgericht Düsseldorf (5.823 Verfahren) und vom Verwaltungsgericht München (5.594 Verfahren), die meisten zweitinstanzlichen Verfahren waren beim Oberverwaltungsgericht Münster anhängig (274 Verfahren), gefolgt vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit 98 Verfahren (S. 37f.).

Highlights aus dem HRRF-Shop

#3 • 28.10.2024

Deutsches Migrationsrecht November 2024

#2 • 07.06.2024

GEAS-Reform 2024

Die neuesten Newsletter

Die neuesten Monatsübersichten