Mal wieder eine Dublin-Woche im HRRF-Newsletter, in der darum geht, ob die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils einem neuen Dublin-Bescheid im Wege steht (ja), ob Dublin-Überstellungsfristen durch gerichtlichen Eilrechtsschutz unterbrochen werden (man ist sich nicht einig) und ob Schutzberechtigten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen (man ist sich ebenfalls nicht einig). Außerdem geht es um die Anforderungen an die Annahme einer außergewöhnlichen Härte, eine Verwechslung von Guinea mit Guinea-Bissau, die Geltung des Rückwirkungsverbots auch bei der Anwendung der Rückführungsrichtlinie und um die Errichtung einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Nordwestmecklenburg (wo immerhin „die Seele lächelt“).
Rechtskraft verhindert neuen BAMF-Bescheid
Wenn ein Verwaltungsgericht einen Bescheid mit einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge rechtskräftig aufgehoben hat, darf das Bundesamt danach, etwa im Nachgang zu den Griechenland-Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts im April 2025, einfach einen neuen Bescheid erlassen, wo wieder eine Unzulässigkeitsentscheidung drinsteht? Aber nein, meint das Verwaltungsgericht Aachen in seinem Beschluss vom 22. Mai 2025 (Az. 10 L 449/25.A), weil dem die Rechtskraft (§ 121 VwGO) der alten Gerichtsentscheidung im Wege steht: Die im Vorprozess unterlegene Behörde sei bei unveränderter Sach- und Rechtslage daran gehindert, einen neuen Verwaltungsakt aus den vom Gericht missbilligten Gründen zu erlassen. Das gelte unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt habe oder unrichtig sei. Lediglich bei einer nachträglichen entscheidungserhebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage könne die Rechtskraft durchbrochen werden, was aber im Hinblick auf die Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland nicht der Fall sei. Dabei liege eine solche erhebliche Änderung der Sachlage jedenfalls im Asylrecht nur dann vor, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten seien, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterschieden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt sei.
Das Verwaltungsgericht meint, dass sich die Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland seit dem Zeitpunkt seiner ersten (und rechtskräftigen) Entscheidung im Sommer 2024 nicht wesentlich verändert hat. Das griechische Programm HELIOS+ sei zwar neu, habe aber keine erhebliche Änderung der Lage für nach Griechenland zurückkehrende international Schutzberechtigte bewirkt. Die Griechenland-Urteile des Bundesverwaltungsgerichts gingen von einer identischen Sachlage aus und hätten dieselben Tatsachen lediglich abweichend gewürdigt.
Neue Dublin-Uneinigkeit in Nordrhein-Westfalen 🍿
Im Prinzip (siehe Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO) unterbricht gerichtlicher Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheide den Lauf der Dublin-Überstellungsfrist, so dass die Frist nach Ende des gerichtlichen Verfahrens von vorne zu laufen beginnt (was für Betroffene nicht so gut ist). Das Oberverwaltungsgericht Münster meinte Anfang Mai, dass das unabhängig davon gilt, wie genau ein Verwaltungsgericht die Gewährung von Eilrechtsschutz (d.h. die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage) begründet hat. Das hält die 22. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf für falsch und bleibt in ihrem Urteil vom 17. Juni 2025 (Az. 22 K 7976/24.A) bei ihrer Ansicht, dass es schon auf die Begründung ankommt: Wenn die aufschiebende Wirkung nur für die (im Dublin-Bescheid enthaltene) Abschiebungsanordnung angeordnet wird und nicht auch im Hinblick auf die (im Dublin-Bescheid ebenfalls enthaltene) Unzulässigkeitsentscheidung, dann soll die Dublin-Überstellungsfrist weiterlaufen. Außerdem meint das Verwaltungsgericht, ebenfalls anders als das Oberverwaltungsgericht, dass eine Abschiebungsanordnung nur dann rechtmäßig sein kann, wenn die Dublin-Überstellung auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist. Dies sei für Italien nicht der Fall.
Dublin-Überstellungen nach Italien und die nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte, das ist eine fast schon unendliche Geschichte von vielfältigen und in der Regel divergierenden Rechtsmeinungen, im Augenblick eskaliert es anscheinend gerade wieder. In Anbetracht dessen, dass das Oberverwaltungsgericht sich unlängst so klar positioniert hat, ist es nur konsequent, dass das Verwaltungsgericht die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen hat. Mal sehen, welche Rechtsmeinung dort vertreten wird.
Rückführung von Schutzberechtigten nach Griechenland (nicht) rechtmäßig
Bei einer Rückkehr nach Griechenland bestehen für die Personengruppe der männlichen, jungen, alleinstehenden, erwerbsfähigen und gesunden anerkannt Schutzberechtigten grundsätzlich keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig, sagt die 34. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin in ihrem Beschluss vom 23. Juni 2025 (Az. 34 L 246/25 A) und gibt damit ihre bisherige Rechtsprechung auf. Genau anders herum sieht es die 15. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover in ihrem Beschluss vom 5. Mai 2025 (Az. 15 B 2836/25), wonach nach wie vor ernstliche Zweifel daran bestehen, dass nicht vulnerablen Begünstigten internationalen Schutzes bei einer Rückführung nach Griechenland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erniedrigende oder unmenschliche Lebensbedingungen drohen.
Die Beurteilung der Situation von Schutzberechtigten in Griechenland ist auch nach den Griechenland-Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts im April 2025 uneinheitlich. Anlass der Einführung der Tatsachenrevision (§ 78 Abs. 8 AsylG), in deren Rahmen das Bundesverwaltungsgericht die Lage in Griechenland in seinen Urteilen bewertet hat, war ausweislich der Begründung des Gesetzgebers übrigens das Fehlen einer höchstrichterlichen Tatsachenwürdigungskompetenz, was „besonders im Asylrecht zu einer Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung“ führe (BT-Drs. 20/4327, S. 43). Hat ja bislang nicht so gut geklappt mit der Vereinheitlichung der Rechtsprechung.
Außergewöhnliche Härte bei Pflegebedürftigkeit
Eine Aufenthaltserlaubnis kann sonstigen Familienangehörigen gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer „außergewöhnlichen Härte“ erforderlich ist. Eine solche Härte kann bei Pflegebedürftigkeit des Familienangehörigen vorliegen, sagt das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 12. Juni 2025 (Az. 2 M 46/25), wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint.
Das Gericht hat sich ausführlich mit der Frage beschäftigt, welche Anforderungen im Rahmen von § 36 Abs. 2 AufenthG an ärztliche Atteste zu stellen sind. § 60a Abs. 2c AufenthG regelt die Anforderungen an ärztliche Atteste bei der Geltendmachung von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen, diese Vorschrift gilt jedenfalls auch für zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (siehe § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG) und wird von der Rechtsprechung bei der Prüfung der Unmöglichkeit der Ausreise (§ 25 Abs. 5 AufenthG) und der Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens (§ 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG) analog angewendet. Ob die Vorschrift auch für die Prüfung der Voraussetzungen von § 36 Abs. 2 AufenthG anwendbar ist oder ob es insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke im Gesetz fehlt (die Voraussetzung für eine analoge Anwendung wäre), scheint weniger klar zu sein; das Gericht hat die Frage letztlich offengelassen.
Guinea versus Guinea-Bissau
Eine in französischer Sprache angegebene Staatsangehörigkeit „guinéenne“ verweist auf Guinea, aber eine in portugiesischer Sprache angegebene Staatsangehörigkeit „guineense“ auf Guinea-Bissau, erklärt das Verwaltungsgericht Hamburg in seinem Beschluss vom 23. Mai 2025 (Az. 5 AE 2747/25), und hat die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Asylentscheidung angeordnet, in der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die beiden Staaten durcheinandergebracht hatte.
In dem Verfahren vor dem Bundesamt hatte der Antragsteller angegeben, Staatsangehöriger lediglich von Guinea-Bissau zu sein, und hatte ein Sprachmittler festgestellt, dass der Antragsteller wie eine Person aus Guinea-Bissau spreche. Das Bundesamt hätte nicht undifferenziert übersetzen dürfen, so das Verwaltungsgericht, sondern zusätzlich die Ursprungssprachen sowie den im Nationalpass eingetragenen Ländercode berücksichtigen müssen.
Kein rückwirkender Opt-Out von der Rückführungsrichtlinie
Deutschland hat Anfang 2024 mit dem durch das Rückführungsverbesserungsgesetz neugefassten § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der EU-Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Rückführungsrichtlinie nicht (mehr) auf Personen anzuwenden, deren Ausreisepflicht aus einer strafrechtlichen Verurteilung folgt. Das kann aber nur für Ausländer gelten, so jetzt der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 27. Mai 2025 (Az. 10 ZB 25.793), die erst nach Inkrafttreten der Neuregelung ausreisepflichtig werden. Der Europäische Gerichtshof habe bereits 2013 klargestellt, dass ein Mitgliedstaat, der erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie von der Opt-out-Klausel der Richtlinie Gebrauch mache, sich nicht rückwirkend auf diese Ausnahmeregelung berufen könne, da sich die Situation für diejenigen Personen, die bereits zuvor in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie gefallen seien, nicht verschlechtern dürfe.
In dem Verfahren hatte die beklagte Behörde eine vor Inkrafttreten des Rückführungsverbesserungsgesetzes erlassene Abschiebungsandrohung später, d.h. nach dem Inkrafttreten des Gesetzes, auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und gleichzeitig eine neue Abschiebungsandrohung erlassen, und wollte so den durch die Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie gewährten Schutz umgehen. Das fand der Verwaltungsgerichtshof nicht überzeugend: Wenn der Schutz der Rückführungsrichtlinie schon nicht durch eine mitgliedstaatliche Opt-out-Erklärung allgemein rückwirkend beseitigt werden kann, dann muss das erst Recht für entsprechende Handlungen der Verwaltung im Einzelfall gelten.
Befreiung vom Bebauungsplan bei temporärer Gemeinschaftsunterkunft
In seinem Beschluss vom 19. Juni 2025 (Az. 2 B 1214/25 SN) erläutert das Verwaltungsgericht Schwerin einer mecklenburgischen Gemeinde, dass der Landkreis sich über bestimmte Festsetzungen in Bebauungsplänen hinwegsetzen darf, wenn er eine temporäre Gemeinschaftsunterkunft für Schutzsuchende errichten will. Die betroffene Gemeinde hatte sich in ihrer Planungshoheit verletzt gesehen und diverse andere Hinderungsgründe vorgebracht.
Die Gemeinde war in ihrer Argumentation gegen die Errichtung der Gemeinschaftsunterkunft recht kreativ und äußerte etwa, dass die Schutzsuchenden durch den Lärm eines benachbarten Sportplatzes gestört würden. Außerdem würden im Landkreis gar keine Plätze für die Unterbringung von Flüchtlingen benötigt, weil aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen mit einer restriktiveren Handhabung des Asylrechts und mit einer rigideren Praxis bei Abschiebungen zu rechnen sei und sich voraussichtlich rasche Entwicklungen in Bezug auf eine Beendigung des Krieges in der Ukraine abzeichneten, so dass Geflüchtete möglicherweise alsbald in ihre Heimat zurückkehren könnten.
Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Volltexte von zwei seiner Entscheidungen bereitgestellt, über die hier bereits berichtet wurde, nämlich seinen Beschluss vom 27. Februar 2025 (Az. 1 C 18.23), da ging es um einen Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV zur Reichweite der Freizügigkeitsberechtigung von EU-Doppelstaatern, und sein Urteil vom 24. März 2025 (Az. 1 C 5.24) zu den Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen EU-Mitgliedstaat für das deutsche Asylverfahren.
In zwei weiteren Verfahren hat das Bundesverwaltungsgericht Nichtzulassungsbeschwerden der Kläger zurückgewiesen. Es ging einmal (Beschluss vom 13. Mai 2025, Az. 1 B 35.24) um ein Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV, und einmal (Beschluss vom 14. Mai 2025, Az. 1 B 34.24) um die Zwangsrekrutierung von Wehrpflichtigen in Tschetschenien.
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