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Verwaltungsgerichtliche Willkürkontrolle

Es geht viel um Afghanistan in dieser Newsletter-Ausgabe, das Verwaltungsgericht Berlin hat nämlich über weitere Eilanträge zu Aufnahmezusagen entschieden, das Oberverwaltungsgericht die Vollziehung jedenfalls eines Beschlusses des Verwaltungsgerichts aber ausgesetzt. In weiteren Verfahren ging es um den Widerruf einer Aufnahmeerklärung und um Abschiebungsschutz für Afghanen. Nicht mit Bezug zu Afghanistan geht es unter anderem um strategische Prozessführung, um ein Strafverfahren gegen einen Asylrichter und um die Anforderungen an die Beantragung von Mitwirkungshaft. Einige für den 1. August 2025 erwartete EuGH-Urteile zu sicheren Herkunftsstaaten und zur Aufnahmesituation von Schutzsuchenden in Irland haben es nicht mehr in diesen Newsletter geschafft, dazu aber gerne mal auf der HRRF-Website nachsehen, wo zeitnah berichtet wird.

  • OVG Berlin-Brandenburg stoppt Afghanistan-Aufnahmen

    Nachdem mehrere Kammern des Verwaltungsgerichts Berlin den Eilanträgen einer Reihe afghanischer Staatsbürger auf Visumerteilung im Kontext von Afghanistan-Aufnahmezusagen überwiegend stattgegeben hatten (siehe unten), hat die Bundesregierung Beschwerde vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt und dort jetzt einem Medienbericht vom 31. Juli 2025 zufolge in jedenfalls einem Verfahren einen Aufschub erhalten. Das Oberverwaltungsgericht hat dem Bericht zufolge einen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. Juli 2025 einstweilen ausgesetzt, um zu verhindern, dass vor einer im Laufe des Monats Augusts erwarteten endgültigen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts „Fakten geschaffen würden“.

  • Afghanistan-Aufnahmezusagen: Spitze des Eisbergs

    In der vergangenen Woche wurde an dieser Stelle im Kontext der Afghanistan-Aufnahmezusagen über einen Beschluss der 37. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin berichtet. Die 37. Kammer hält es für rechtlich zulässig und zumutbar, dass afghanische Staatsangehörige, denen die Bundesrepublik die Aufnahme in Deutschland zugesagt hat, ihre Klage auf Visumerteilung von Pakistan aus verfolgen, weil die Gefahr einer Abschiebung der Betroffenen von Pakistan nach Afghanistan während des laufenden Klageverfahrens jedenfalls nicht glaubhaft gemacht worden sei. Die beiden derzeit öffentlich bekannten aktuellen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin zu Afghanistan-Aufnahmezusagen (nämlich der ablehnende Beschluss der 37. Kammer sowie der stattgebende Beschluss der 8. Kammer von Anfang Juli) sind aber sozusagen nur die Spitze des Eisbergs: Offenbar liegen inzwischen mindestens zwölf stattgebende Beschlüsse von mindestens fünf verschiedenen Kammern des Gerichts vor, während die 37. Kammer in ihrer Ablehnung allein geblieben ist. Das nächste Wort wird der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg haben.

    Ein weiterer Aspekt der Afghanistan-Aufnahmezusagen, der hier in der letzten Woche nicht thematisiert wurde, weil er in den vom Verwaltungsgericht Berlin entschiedenen Eilverfahren nicht relevant war, ist der Unterschied zwischen nach § 22 S. 2 AufenthG und nach § 23 Abs. 2 AufenthG erteilten Aufnahmezusagen: Aufnahmezusagen auf Grundlage von § 23 Abs. 2 AufenthG sind gruppenbezogen (siehe den Wortlaut der Norm: „[..] Ausländer[n] aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmte[n] Ausländergruppen [..]“) und sollen darum eine „mittelbare Außenwirkung“ entfalten und einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Gleichbehandlung mit anderen von der Aufnahmezusage erfassten Ausländern vermitteln. Es ist demgegenüber unklar, ob dies bei den gemäß § 22 S. 2 AufenthG erteilten Aufnahmezusagen ebenso der Fall ist, weil diese Art von Aufnahmezusagen nicht gruppenbezogen ist, sondern die Aufnahme jeweils nur im Einzelfall zugesagt wird. Auch hier wird zum Teil eine Selbstbindung der Verwaltung angenommen, die sich zu einem Anspruch auf Erteilung einer Aufnahmezusage verdichten kann, was das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg aber aktuell ablehnt, weil die Erklärung über eine solche Aufnahme bloßen „innerdienstlichen Charakter“ habe und einer gerichtlichen Überprüfung entzogen sei.

  • Willkürkontrolle bei Widerruf einer Aufnahmeerklärung

    Mit dem formlosen verwaltungsinternen Widerruf einer Aufnahmeerklärung gemäß § 22 S. 2 AufenthG hatte sich das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 14. Juli 2025 (Az. 24 K 98/24 V) zu beschäftigen, in dem es annahm, dass auf einen solchen Widerruf zwar die Vorgaben für die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten gemäß §§ 48 und 49 VwVfG nicht anwendbar sind, dass aber eine einmal erteilte Aufnahmeerklärung einen Vertrauenstatbestand schafft, so dass in Hinblick auf die Begründung und die Nachvollziehbarkeit des Verwaltungshandelns jedenfalls eine verwaltungsgerichtliche Willkürkontrolle stattfinden muss. Willkürlich sei eine Verwaltungsentscheidung dann, wenn sie schlichtweg unvertretbar erscheine, weil für sie keinerlei nachvollziehbaren Gründe ersichtlich seien.

    Das Urteil half der Klägerin im Ergebnis nicht, weil das Verwaltungsgericht den Widerruf der sie betreffenden Aufnahmeerklärung nicht als willkürlich betrachtete, nachdem die Klägerin im „Sicherheitsinterview“ geäußert hatte, sich nach der Aufnahme in Deutschland bei der Bundeswehr für einen Kampfeinsatz in Afghanistan ausbilden lassen zu wollen, damit sie den Tod ihrer Freunde rächen könne. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatte im Juni 2025 für Aufnahmeerklärungen gemäß § 22 S. 2 AufenthG eine Willkürkontrolle abgelehnt, dort gab es aber, anders als im jetzt vom Verwaltungsgericht entschiedenen Verfahren, noch keine Aufnahmeerklärung und damit auch keinen Vertrauenstatbestand.

  • Kein Afghanistan-Abschiebungsschutz in Greifswald

    Das Verwaltungsgericht Greifswald geht in seinem Urteil vom 26. Juni 2025 (Az. 1 A 1230/25 HGW) davon aus, dass der Abschiebung eines alleinstehenden Mannes nach Afghanistan keine rechtlichen Hindernisse im Wege stehen. Die humanitären Bedingungen vor Ort führten unabhängig vom Vorliegen eines familiären Netzwerks nicht zu einer Situation extremer materieller Not oder zu einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, außerdem gebe es Rückkehrhilfen und Reintegrationsprogramme. In einem Leitsatz führt es aus, dass es nicht die Aufgabe des Tatsachengerichts sei, dem Asylkläger nachzuweisen, dass er in der Lage sein werde, seinen existentiellen Lebensunterhalt sichern zu können. Vielmehr trage der Schutzsuchende die materielle Beweislast für die ihm günstige Behauptung, dass ihm Verelendung drohe, und gehe eine Nichterweislichkeit zu seinen Lasten.

    Das Urteil referiert seitenlang über die humanitäre Situation in Afghanistan, ohne daraus jedoch ein Abschiebungsverbot abzuleiten. Stattdessen deutet es eine Beweislastentscheidung an, weil der Kläger nicht bewiesen habe, dass ihm Verelendung drohe (Rn. 77f.). So funktioniert das mit dem Amtsermittlungsgrundsatz aber nicht, weil eine Beweislastentscheidung nur in Betracht kommt, wenn das Gericht ansonsten keine Prognoseentscheidung treffen kann. Eine solche Prognoseentscheidung gibt es auch, nur etwas versteckt (Rn. 228). Insofern hätte es die Ausführungen zur Beweislast gar nicht gebraucht.

  • Grenzen der strategischen Prozessführung

    Über den enttäuschenden Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12. Juni 2025 (Az. 21660/18, S.S. u.a. gg. Italien) hatten wir bereits berichtet: In dem Beschluss hatte der Gerichtshof eine gegen Italien erhobene Beschwerde wegen eines Pullbacks nach Libyen im November 2017 als unzulässig zurückgewiesen, weil Italien dabei keine Hoheitsgewalt im Sinne von Art. 1 EMRK ausgeübt habe.

    Paolo Biondi argumentiert nun bei EU Law Analysis, dass das Verfahren sich womöglich gar nicht so sehr für eine Beschwerde vor dem Gerichtshof geeignet habe, weil die Beteiligung Italiens an dem Pullback nur sehr schwach ausgeprägt gewesen sei. Stattdessen hätte besser ein anderer Pullback im Mittelmeer ausgewählt werden sollen, bei dem die italienische Rettungsleitstelle aktiver in das Geschehen auf See eingebunden gewesen sei. Die Entscheidung sei insofern eine Erinnerung daran, dass strategische Prozessführung vor allem strategisch sein müsse: Ein gerechtes Anliegen, überzeugende rechtliche Argumente und politische Aktualität seien nicht ausreichend, wenn die Fakten des Einzelfalls nicht dazu passten.

  • Doch kein Strafverfahren gegen Asylrichter

    Medienberichten vom 25. Juli 2025 zufolge (siehe etwa hier oder hier) hat das Landgericht Gera die Eröffnung eines strafrechtlichen Hauptverfahrens gegen einen Verwaltungsrichter aus Thüringen abgelehnt, dem die Staatsanwaltschaft Volksverhetzung vorgeworfen hatte. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts eingelegt.

  • Mitwirkungshaft ist Abschiebungshaft

    Auch bei Beantragung von Mitwirkungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG muss die Behörde im Haftantrag etwas zur Verlassenspflicht des Betroffenen und zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung schreiben, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 14. Juli 2025 (Az. XIII ZB 24/24). Die in Absatz 6 des insgesamt mit „Abschiebungshaft“ überschriebenen § 62 AufenthG geregelte Mitwirkungshaft stelle, wie bereits aus der Gesetzessystematik des § 62 AufenthG folge, einen Unterfall der Abschiebungshaft dar. Dieses Verständnis entspreche auch dem Willen des Gesetzgebers, der eine hinreichende Aussicht auf Abschiebung als Voraussetzung für die Anordnung von Mitwirkungshaft angesehen habe. In dem Verfahren hatte die Behörde Mitwirkungshaft beantragt, weil der Betroffene einer Anordnung nicht gefolgt war, zum Zwecke der Beschaffung eines Passersatzpapiers bei einer Botschaft persönlich zu erscheinen. Die Behörde hatte in ihrem Haftantrag keine Ausführungen dazu gemacht, ob und in welchem Zeitraum eine Abschiebung möglich sei.

    Die Auswirkungen dieses Beschlusses sollten nicht überbewertet werden. Zwar müssen Behörden bei der Beantragung von Mitwirkungshaft etwas zur Möglichkeit einer Abschiebung schreiben, die inhaltlichen Anforderungen sollen sich aus Sicht des Bundesgerichtshofs aber danach richten, welche Erkenntnisse die Behörde in dem konkreten Verfahrensstadium hat. Soll die Haft etwa überhaupt erst der Klärung der Nationalität des Betroffenen dienen, so soll es ausreichen, wenn die Behörde mehr oder weniger pauschal erklärt, dass keine Hindernisse bekannt sind, die eine Abschiebung des Betroffenen verhindern oder in Frage stellen würden, wenn sich seine vermutete Nationalität bestätigt und die Behörden seines Herkunftslandes ein Passersatzpapier für ihn ausstellen.

  • Keine Afghanistan-Abschiebung in Leipzig

    Das Verwaltungsgericht Leipzig hat einem Bericht des RAV zufolge am 30. Juli 2025 die Abschiebung eines Mannes nach Afghanistan vorläufig untersagt, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Folgeantrag abgelehnt und der sächsische Innenminister zuvor von Rechtsmissbrauch gesprochen hatte.

  • Potsdamer Eilbeschluss verhindert Abschiebung nicht

    Ein Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam konnte am 22. Juli 2025 die laufende Abschiebung einer jesidischen Familie aus Brandenburg in den Irak nicht mehr verhindern, weil das Flugzeug bereits gestartet war.

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind noch nicht mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem…

  • Monatsübersicht Mai 2025

    Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:

  • Monatsübersicht April 2025

    Die HRRF-Monatsübersicht für April 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf sechs Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat April 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:

ISSN 2943-2871