Je nach den Gegebenheiten in ihrem Herkunftsland können Frauen, die Staatsangehörige dieses Landes sind und als gemeinsames Merkmal ihre tatsächliche Identifizierung mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern teilen, zu der es im Zuge ihres Aufenthalts in einem EU-Staat gekommen ist, als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zugehörig angesehen werden und bei einer befürchteten Verfolgung im Herkunftsland wegen dieser Zugehörigkeit die Flüchtlingseigenschaft erhalten, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 11. Juni 2024 (Rs. C-646/21). Die tatsächliche Identifizierung einer (auch minderjährigen) Frau mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern könne als ein „Merkmal oder eine Glaubensüberzeugung“ (siehe Art. 10 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU) angesehen werden, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sei, dass die Betroffene nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Das ist eine relativ weite und großzügige Definition einer sozialen Gruppe, in dem konkreten Fall ging es um zwei junge Frauen aus dem Irak, die seit 2015 in den Niederlanden aufgewachsen waren und befürchteten, ihre westliche Lebensweise bei einer Rückkehr in den Irak nicht mehr leben zu können. Der EuGH hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Der Europäische Gerichtshof hat Ungarn in seinem Urteil vom 13. Juni 2024 (Rs. C-123/22) zu einer Strafzahlung in Höhe von 200 Millionen Euro sowie zu einem täglichen Zwangsgeld von einer Million Euro verurteilt, weil Ungarn das Urteil des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2020 (Rs. C-808/18) nicht umgesetzt habe, sondern bis heute jeden Zugang von Schutzsuchenden zu Verfahren auf internationalen Schutz systematisch verhindere. In dem Urteil aus dem Dezember 2020 hatte der EuGH zahlreiche Details des ungarischen Umgangs mit Schutzsuchenden für europarechtswidrig erklärt, unter anderem die ungarische Praxis, Schutzsuchende in Transitzonen an der Grenze festzuhalten, Asylanträge nur dort entgegenzunehmen und die Zahl der pro Tag entgegengenommenen Asylanträge drastisch zu beschränken. Dass ein Mitgliedstaat die Anwendung einer gemeinsamen Politik insgesamt bewusst umgehe, so der EuGH, stelle eine ganz neue und außergewöhnlich schwere Verletzung des Unionsrechts dar, die eine erhebliche Bedrohung für die Einheit dieses Rechts und den in Art. 4 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten darstelle. Über die außergewöhnliche Schwere der in Rede stehenden Vertragsverletzung hinaus sei als erschwerender Umstand zu berücksichtigen, dass von Ungarn wiederholt Verstöße ausgegangen seien, die zu verschiedenen sonstigen Verurteilungen im Bereich des internationalen Schutzes geführt hätten. Der EuGH hat zu diesem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hält in seinem in einem Eilverfahren ergangenen Beschluss vom 28. Mai 2024 (Az. 8 L 413/23) die aus § 15 Abs. 9 der nordrhein-westfälischen Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerwesen (ZustAVO NRW) folgende Zuständigkeit der Zentralen Ausländerbehörde Essen für rechtswidrig, so dass alle auf dieser Zuständigkeit beruhenden Aktivitäten dieser Behörde ebenfalls rechtswidrig sein dürften. Gemäß § 15 Abs. 9 ZustAVO NRW ist die Zentrale Ausländerbehörde Essen für alle gegenüber einem Ausländer ergriffenen aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen zuständig, wenn die oberste Ausländerbehörde (nämlich das für Ausländer- und Flüchtlingsangelegenheiten zuständige nordrhein-westfälische Flüchtlingsministerium, d.h. das MKJFGFI) im Einzelfall erklärt, dass die Zentrale Ausländerbehörde Essen die Zuständigkeit übernimmt. Es gebe keine gesetzliche Grundlage für eine solche einzelfallbezogene Übertragungskompetenz, so das Verwaltungsgericht, so dass die Vorschrift bereits gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verstoße, weil sie sich nicht innerhalb der vorgegebenen Grenzen der ihr zugrundeliegenden Verordnungsermächtigung halte. Darüber hinaus genüge die Vorschrift dem aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Bestimmtheitsgebot nicht, weil sie eine Mehrzahl unbestimmter Rechtsbegriffe verwende und es sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, objektiver Kriterien und damit einer zuverlässigen Grundlage für die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe nicht feststellen lasse, wann die oberste Ausländerbehörde die Zuständigkeit übertrage. Es gebe außerdem auch keine regelmäßige Verwaltungspraxis, durch die diese weite Übertragungskompetenz konkretisiert werde; unter diesen Umständen könne sich der Verordnungsgeber der ihm übertragenen Aufgabe der Zuständigkeitsbestimmung nach § 71 AufenthG nicht durch die Verwendung einer Mehrzahl unbestimmter Rechtsbegriffe entledigen und der Exekutive in Form einer Generalermächtigung überlassen. Vor dem Hintergrund der Pauschalität und Begründungslosigkeit im Einzelfall erfolgender Zuständigkeitserklärungen durch die oberste Ausländerbehörde liege zudem ein Verstoß gegen das der Verfassung immanente und dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG entspringende Willkürverbot vor, weil sich nachvollziehbare Kriterien für die Zuständigkeitsübertragung, die eine willkürliche Entscheidung ausschließen könnten, nicht feststellen ließen.
In seinem Urteil vom 13. Juni 2024 (Rs. C-563/22) klärt der Europäische Gerichtshof zwei Dinge: Zum einen, dass bei der Prüfung der Begründetheit eines Folgeantrags nicht nur neue Umstände zu berücksichtigen sind, sondern auch bereits in einem früheren Asylverfahren vorgebrachte Umstände, wenn nur die Zulässigkeit des Folgeantrags festgestellt wurde. Zum anderen, dass ein von der UNRWA betreuter Flüchtling Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes in der EU hat, wenn die UNRWA aus „irgendeinem Grund“ nicht länger in der Lage ist, diesem Flüchtling am Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts, etwa im Gazastreifen, gemäß ihrem Auftrag menschenwürdige Lebensbedingungen zu gewährleisten. Der Flüchtling muss nicht nachweisen können, dass er spezifisch betroffen ist, sondern nur, dass er überhaupt betroffen ist, nämlich dass er sich im Falle einer Rückkehr in einer „sehr unsicheren persönlichen Lage“ befinden würde. Die EuGH-üblichen Schachtelsätze im Tenor des Urteils sind in der deutschen Sprachfassung etwas sehr unübersichtlich geraten; die Definition, wann die UNRWA „nicht länger“ in der Lage ist, Schutz zu gewähren, ist kaum verständlich („auf den Zeitpunkt [..] auf den Zeitpunkt“), die englische Sprachfassung immerhin etwas klarer formuliert („at the time from [..] to that [time]“).
Auch das Verwaltungsgericht Hamburg geht in seinem Gerichtsbescheid vom 3. Juni 2024 (Az. 14 A 789/24) davon aus, dass im Gazastreifen derzeit keine vorübergehend ungewisse Lage im Sinne von § 24 Abs. 5 AsylG besteht. Aufgrund der anhaltenden Dauer der Kampfhandlungen, ihrer Schwere und mangels Absehbarkeit einer Beendigung sowie aufgrund des hohen Zerstörungsgrades der relevanten Infrastruktur lägen für Asylsuchende aus dem Gazastreifen gegenwärtig regelmäßig die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes vor. Selbst wenn die Kampfhandlungen enden sollten, dürfte eine Rückkehr aufgrund des hohen Zerstörungsgrades des Gazastreifens für längere Zeit nicht in Betracht kommen, insofern dürften jedenfalls auch Abschiebungsverbote in Betracht kommen. Ohnehin könne das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Aussetzung einer Entscheidung über einen Asylantrag nicht auf § 24 Abs. 5 Satz 1 AsylG stützen, wenn es entgegen den Vorgaben des § 24 Abs. 5 Satz 2 AsylG keine regelmäßigen Überprüfungen der Lage in dem Herkunftsstaat aktenkundig mache.
Auf eine Berufung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge hin hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 13. Februar 2024 (Az. OVG 3 B 22/23) ein erstinstanzliches Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem August 2017 (!) aufgehoben, in dem einem Schutzsuchenden aus Syrien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, weil ihm aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung in Syrien Verfolgung drohte. Es lasse sich nicht plausibel feststellen, so das Oberverwaltungsgericht, dass ein Wehrdienst in Syrien gegenwärtig zur Begehung von Kriegsverbrechen führen würde. Eine etwaige aus einem Wehrdienst resultierende Verfolgungshandlung des syrischen Regimes, etwa Inhaftnahme, Misshandlung oder Folter, sei außerdem nicht mit einem Verfolgungsgrund, etwa der (unterstellten) politischen Überzeugung des Schutzsuchenden verknüpft.
Ein Kläger muss das Fehlen eines Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung in Asylverfahren als möglichen Verfahrensfehler rechtzeitig rügen, andernfalls ist er damit ausgeschlossen, sagt das Verwaltungsgericht Kassel in seinem Urteil vom 29. April 2024 (Az. 7 K 1100/22.KS.A). Bei der Rüge eines Verfahrensfehlers wie dem Fehlen eines Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung in Asylverfahren müsse ein Kläger ähnlich einer Gehörsrüge substantiiert darlegen, welcher entscheidungserhebliche Vortrag ansonsten gehalten worden wäre. Ziehe das Bundesamt keinen Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung in Asylverfahren bei, bedeute das außerdem nicht, dass der Anhörer über keine besondere Sachkunde verfüge, vielmehr sei es Aufgabe der Klägerseite, eine mögliche mangelnde Sachkunde nachzuweisen.
Hat ein Gericht gemäß § 80 Abs 5 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Bescheid angeordnet und wird der Bescheid danach, etwa zur Korrektur gerichtlich beanstandeter Fehler, durch die Behörde im Kern wesentlich geändert, so wird der Gerichtsbeschluss gegenstandslos und entfällt die Bindungswirkung analog § 121 Nr 1 VwGO, meint der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 18. April 2024 (Az. 11 S 236/24). Im entschiedenen Verfahren hatte die beteiligte Behörde eine vom Gericht gerügte Fristsetzung zur Ausreise durch eine neue Fristsetzung ersetzt, was dem Verwaltungsgerichtshof bereits genügte, um von einem „im Kern“ geänderten Bescheid auszugehen, obwohl die Abschiebungsandrohung als solche unverändert neu erlassen wurde. Fristsetzung und Abschiebungsandrohung bildeten einen einheitlichen Verwaltungsakt, der infolge der neuen Fristsetzung eine wesentliche Änderung erfahren habe.
Gilt infolge einer fehlerhafter Rechtsmittelbelehrung in einem verwaltungsgerichtlichen Urteil die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO und berichtigt das Verwaltungsgericht diesen Fehler unter Rückgriff auf § 118 VwGO, wird dadurch die bei ordnungsgemäßer Belehrung geltende kürzere Frist nachträglich nicht stets in Gang gesetzt, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen, sagt der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 3. Juni 2024 (Az. 14 ZB 23.30043). Es müssten nämlich alle in § 118 VwGO genannten Voraussetzungen vorliegen und müsste außerdem die Berichtigung dergestalt erfolgen, dass den Beteiligten nicht nur der Berichtigungsbeschluss zugestellt werde, sondern auch die Entscheidung insgesamt in der berichtigten Fassung, wobei die Rechtsmittelbelehrung gemäß § 117 Abs. 2 Nr. 6 VwGO notwendiger Urteilsbestandteil sei.
Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 13. Juni 2024 über sein noch nicht im Volltext vorliegendes Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 5.23), in dem es entschieden hat, dass ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht neben einem anderweitigem Aufenthaltsrecht bestehen kann. Das abgeleitete Freizügigkeitsrecht, das ein drittstaatsangehöriger Elternteil eines Unionsbürgerkindes unter bestimmten Voraussetzungen aus Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union herleiten könne, setze nicht voraus, dass diesem kein anderweitiges Aufenthaltsrecht zustehe. Insbesondere stehe der Besitz eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts als türkischer Arbeitnehmer dem Erwerb oder Fortbestand des Freiheitszügigkeitsrechts nicht entgegen.
Das Bundesministerium der Justiz hat am 13. Juni 2024 ein Eckpunktepapier für eine Novellierung der Verwaltungsgerichtsordnung vorgestellt, mit der unter anderem asylgerichtliche Verfahren beschleunigt werden sollen. Speziell für asylgerichtliche Verfahren wird der Einsatz von Proberichtern als Einzelrichter ohne Sperrfrist und der Einsatz originärer Einzelrichter in Hauptsacheverfahren vorgeschlagen. Außerdem soll das System des verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes insgesamt reformiert werden, dabei sollen etwa gerichtliche Hängebeschlüsse gesetzlich geregelt werden und soll die Möglichkeit geschaffen werden, Eilanträge abzulehnen, dem Antragsgegner (etwa einer Ausländerbehörde) aber gleichwohl gerichtliche Auflagen aufzuerlegen (etwa die Vorgabe bestimmter Abschiebungsbedingungen).