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Ausgabe 163 • 20.9.2024

Qualifizierter Eingriff

Die Richterinnen und Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind sich darin einig, dass Ungarn zweimal mehr menschenrechtswidrig gehandelt hat, nicht aber darin, wie intensiv der Gerichtshof nationale Ausweisungsentscheidungen nach Straftaten prüfen sollte; noch uneiniger sind sich im Moment deutsche Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe, wenn es um die Reichweite des Beschwerdeausschlusses in § 80 AsylG geht. Außerdem nimmt das Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise einmal ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse an, sind in Bayern sowohl die Amtsgerichte als auch die Verwaltungsgerichte für die Anordnung von Wohnungsdurchsuchungen zuständig und will das Oberlandesgericht Dresden einen Kriegsdienstverweigerer in die Ukraine ausliefern.

Menschenrechtsschutz

Ungarische Zurückschiebung nach Serbien menschenrechtswidrig

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 19. September 2024 (Az. 60778/19, M.D. u.a. gg. Ungarn) festgestellt, dass Ungarn mit der Zurückschiebung einer afghanischen Familie nach Serbien im Mai 2019 gegen Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK (Verbot der Kollektivausweisung) verstoßen hat, weil die Asylanträge der Familienmitglieder nicht individuell geprüft wurden. Ungarn hatte die Familie außerdem anscheinend vor die Wahl gestellt, „freiwillig“ nach Serbien auszureisen oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden, woraufhin jedenfalls einzelne Familienmitglieder ein Dokument unterzeichnet hatten, dass sie mit einer freiwilligen Ausreise nach Serbien einverstanden seien. Eine solche Zustimmung, so der Gerichtshof, sei keine bewusste und informierte Einwilligung und stelle keinen wirksamen Verzicht auf die von der EMRK gewährleisteten Rechte dar.

Menschenrechtsschutz

Ungarische Geheimverfahren menschenrechtswidrig

In einem weiteren Urteil vom 19. September 2024 (Az. 5488/22, Rapitsyna u. Isaeva gg. Ungarn) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass Ungarn durch seine Praxis von Ausweisungen aus Gründen der nationalen Sicherheit gegen das Recht der Beschwerdeführerinnen aus Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verstoßen hat. In dem Verfahren hatten ungarische Behörden den zwei Beschwerdeführerinnen ihre Aufenthaltstitel entzogen und sie ausgewiesen, weil ihr Aufenthalt in Ungarn eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle. Die Gründe für diese Entscheidung waren den Beschwerdeführerinnen nicht mitgeteilt worden, was zur Gefahr einer willkürlichen Entscheidung und damit zu einem Verstoß gegen Art. 8 EMRK führte. Bereits der Europäische Gerichtshof hatte diese ungarische Praxis von Geheimverfahren in seinem Urteil vom 25. April 2024 (Rs. C‑420/22 und C‑528/22) gerügt und dort einen Verstoß gegen Art. 20 AEUV und Art. 47 GRCh festgestellt (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 142).

Menschenrechtsschutz

EGMR bei Ausweisung nach Straftaten uneinig

In seinem Urteil vom 17. September 2024 (Az. 52232/20, P.J. u. R.J. gg. Schweiz) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Ausweisung zweier Ausländer aus der Schweiz nach ihrer Verurteilung wegen eines Drogendelikts einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) gesehen, allerdings argumentieren zwei Richter in einem Sondervotum, dass der Gerichtshof falsch entschieden habe. Die nationalen Behörden hätten Tatsachen sorgfältig geprüft sowie Bleibe- und Ausweisungsinteresse gegeneinander abgewogen und seien damit im Rahmen der Anforderungen geblieben, die der Gerichtshof für solche Fälle definiert habe. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, die Abwägung nationaler Behörden durch seine eigene Abwägung zu ersetzen.

Aufenthaltsrecht

Neues zur Reichweite des Beschwerdeausschlusses

Es ist immer wieder erfrischend, wie eine einzige unüberlegte Formulierung des Gesetzgebers zu äußerst lebhafter und sehr grundsätzlicher Debatte unter betroffenen Gerichten Anlass gibt. Zur Reichweite des durch das Rückführungsverbesserungsgesetz neugefassten Beschwerdeausschlusses in § 80 AsylG hält der 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs München in seinem Beschluss vom 1. August 2024 (Az. 10 CE 24.1299) an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, dass die zweite Alternative in § 80 AsylG gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Rechtsmittelklarheit verstößt und damit insbesondere in Verfahren nicht anwendbar ist, in denen es um die Erteilung einer Verfahrensduldung geht. Sowohl der Verwaltungsgerichtshof Kassel (Beschluss vom 17. September 2024, Az. 3 B 1689/24) als auch das Oberverwaltungsgericht Münster (Beschluss vom 27. August 2024, Az. 18 B 626/24) sehen das aber anders und wollen den Beschwerdeausschluss auch auf solche Fallkonstellationen anwenden, jeweils mit einem bunten Strauß von Argumenten. Ebenso sehen es wohl das Oberverwaltungsgericht Hamburg (Beschluss vom 23. Juli 2024, Az. 6 Bs 36/24), der 19. Senat des Verwaltungsgerichtshofs München (Beschluss vom 30. April 2024, Az. 19 CE 24.661) und der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (Beschluss vom 13. März 2024, Az. 11 S 402/24), anders wiederum der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (Beschluss vom 5. Juli 2024, Az. 12 S 821/24). Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des VGH Kassel (a.a.O., Rn. 15), dass der Gesetzgeber den Streit um die Reichweite des Beschwerdeausschlusses durch die Neuformulierung von § 80 AsylG beendet habe, möglicherweise etwas voreilig.

Aufenthaltsrecht

Covid-Einreiseverweigerung rechtmäßig, immerhin Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann einem Freizügigkeitsberechtigten unabhängig von einer individuellen Gefahrenprognose die Einreise aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes verweigert werden, wenn es sich um eine Krankheit mit epidemischem Potenzial handelt und eine tatsächliche Gesundheitsgefahr durch das Risiko einer weiteren Ausbreitung der Krankheit vorliegt, sagt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. Juni 2024 (Az. 1 C 2.23), zu dem es auch eine Pressemitteilung veröffentlicht hat. Interessant ist an der Entscheidung vor allem, dass das Bundesverwaltungsgericht das Bestehen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) bejaht hat: Es setze in Fällen sich wie hier typischerweise kurzfristig erledigender Maßnahmen einen „qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen oder schwerwiegenden) Eingriff“ in ein Grundrecht oder eine unionsrechtliche Grundfreiheit voraus. Angesichts der Bedeutung des primärrechtlich in Art. 21 AEUV garantierten Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger stelle die Einreiseverweigerung bereits für sich genommen einen solchen qualifizierten Eingriff dar.

Aufenthaltsrecht

Gespaltener bayerischer Rechtsweg für die Anordnung von Wohnungsdurchsuchungen

Für die richterliche Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung zum Auffinden von Unterlagen gemäß § 48 Abs. 3 AufenthG sind in Bayern nicht die Verwaltungsgerichte zuständig, sondern die ordentlichen Gerichte, sagt das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 2. September 2024 (Az. M 4 X 24.5176). Die in Art. 4 des bayerischen AGAufenthG angeordnete Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte beziehe sich nur auf Wohnungsdurchsuchungen gemäß § 58 Abs. 6 AufenthG, deren Zweck die Ergreifung eines abzuschiebenden Ausländers zur Durchführung der Abschiebung sei. Aus §§ 48 Abs. 3 S. 3, § 58 Abs. 9a S. 1 AufenthG folge darum die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte.

Aufenthaltsbeendigung

Auslieferung soll trotz drohenden Kriegsdienstes zulässig sein

Das Oberlandesgericht Dresden will von einer älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 24. Mai 1977, Az. 4 ARs 6/77) abweichen, wonach die Auslieferung eines Kriegsdienstverweigerers nur zulässig ist, wenn er nicht gegen seinen Willen zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen wird, und hat den BGH mit Beschluss vom 9. August 2024 (Az. OAus 174/24) gemäß § 42 IRG in einem Verfahren angerufen, in dem es um einen ukrainischen Kriegsdienstverweigerer geht. Der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 3 GG sei auf die nach deutschem Recht Wehrpflichtigen beschränkt, so dass sich auszuliefernde Ausländer nicht auf das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung berufen könnten. Es wäre außerdem widersprüchlich, einerseits Asylanträge von vor einem Krieg und einer eigenen Beteiligung daran flüchtenden Personen abzulehnen, weil die dem Gewissen folgende Kriegsdienstverweigerung und die dafür zu erwartende Bestrafung flüchtlingsrechtlich nicht relevant sei, andererseits aber anzunehmen, dass dieselbe tatsächliche Verweigerungssituation und drohende Bestrafung einer Auslieferung von zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung gesuchten Verfolgten entgegenstünde.

Sonstiges

Bundesregierung sieht nach EuGH-Urteil keinen Handlungsbedarf

In ihrer Antwort vom 5. September 2024 (BT-Drs. 20/12827) auf eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag erläutert die Bundesregierung nicht nur ausführlich, wie Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen von der Bundespolizei praktisch gehandhabt werden, insbesondere in Hinblick auf die Entgegennahme von Asylgesuchen, sondern geht auch auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21. September 2023 (Rs. C-143/22) ein, in dem der EuGH entschieden hatte, dass eine Einreiseverweigerung an einer EU-Binnengrenze den Vorgaben der EU-Rückführungsrichtlinie unterliegt (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 114). Dieses Urteil, so die Bundesregierung, habe für Deutschland keine praktische Relevanz, weil gemäß Art. 6 Abs. 3 der EU-Rückführungsrichtlinie die Anwendung der bilateralen Rückübernahmeabkommen eröffnet sei, über die Deutschland mit allen seinen Nachbarstaaten verfüge.

Sonstiges

Neue EUAA-Rechtsprechungsübersicht veröffentlicht

Die Europäische Asylagentur (EUAA) hat Ausgabe 3/2024 ihres vierteljährlichen, thematisch gegliederten Updates zur Asylrechtsprechung in der Europäischen Union veröffentlicht, das auf 58 Seiten den Zeitraum Juni bis August 2024 abdeckt.

Sonstiges

Vorankündigung: Neue HRRF-Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht

Der deutsche Gesetzgeber versucht sich derzeit an einer weiteren „Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems“; unter anderem der gleichnamige Gesetzentwurf wird am kommenden Montag (23. September 2024) ab 12:00 Uhr Gegenstand einer öffentlichen Sachverständigenanhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestags sein, zu der es auch einen Live-Stream im Internet geben soll. Da mit dem baldigen Inkrafttreten dieser Neuregelung zu rechnen ist, wird in den kommenden Wochen eine neue HRRF-Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht erscheinen, und zwar mit den dann aktuellen Texten von Aufenthaltsgesetz (samt Aufenthaltsverordnung und Beschäftigungsverordnung), Asylgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz, Freizügigkeitsgesetz/EU und Staatsangehörigkeitsgesetz. Wie üblich wird es die Textausgabe (ca. 470 Seiten) als kostenlosen PDF-Download oder als Printausgabe geben.