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Ausgabe 169 • 1.11.2024

Unionsrechtliche Überformung

Italienische Gerichte sind widerspenstig und verhindern bislang die Auslagerung italienischer Asylverfahren nach Albanien; jetzt hat ein Gericht dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur neuen italienischen Liste sicherer Herkunftsstaaten gestellt. Vor deutschen Gerichten geht es unter anderem einmal mehr darum, ob nach Italien und Griechenland abgeschoben werden darf, um eine Rechtsprechungsänderung beim Beschwerdeausschluss und um notwendige Verteidigung bei Strafverfolgung nach falschen Angaben im Asylverfahren.

Asylverfahrensrecht

Noch ein Vorabentscheidungsverfahren zu sicheren Herkunftsstaaten

Das hat ja nicht lange gedauert: Das Tribunale di Bologna hat mit Beschluss vom 25. Oktober 2024 (Az. 14572/2024) ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof initiiert, um die Europarechtskonformität des Gesetzesdekrets der italienischen Regierung vom 23. Oktober 2024 prüfen zu lassen, in dem die Liste der nach italienischem Recht sicheren Herkunftsstaaten aktualisiert worden war. Das Gesetzesdekret hatte in Reaktion auf eine Gerichtsentscheidung des Tribunale di Roma vom 18. Oktober 2024 (die wiederum auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Oktober 2024, Rs. C-406/22, Bezug genommen hatte, siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 168), einige Herkunftsstaaten aus der Liste entfernt, jedoch nur solche Staaten, die nicht ihr gesamtes Staatsgebiet kontrollieren. Staaten wie Bangladesch und Ägypten jedoch, die für bestimmte Gruppen von Menschen nicht sicher sind, verblieben auf der Liste, und zwar wohl deswegen, weil nur dadurch die Durchführung von Grenzverfahren und damit die Auslagerung der Asylverfahren nach Albanien möglich ist.

Dublin-Verfahren usw.

Folgenabwägung vor Abschiebung nach Griechenland

In seinem erfrischenden Beschluss vom 28. Oktober 2024 (Az. 7 L 1538/24.WI.A) führt das Verwaltungsgericht Wiesbaden in einem Griechenland betreffenden Drittstaatenfall gleich eine ganze Reihe von innovativen Argumenten ins Feld, um im Ergebnis die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsandrohung anzuordnen. Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. August 2024 (Az. 2 BvR 44/24) (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 164) geht es davon aus, dass dann, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, eine nicht lediglich summarische, sondern eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache geboten sei. Darum müsse in Drittstaatenfällen auch in Eilverfahren eine an sich umfassende Prüfung der menschenrechtlichen Situation des Betroffenen im Fall der Abschiebung in den Dublin-Zielstaat erfolgen.

Weil allerdings die gebotene umfassende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache zum Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung nicht mit der gebotenen Sicherheit zu leisten sei, könne es offenbleiben, ob in Griechenland eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh drohe. Der Wertung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel in seinem Urteil vom 4. August 2024 (Az. 2 A 1131/24.A) (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 161) stünden die Entscheidungen zahlreicher anderer Obergerichte entgegen, auch in der erstinstanzlichen Rechtsprechung habe sich in jüngster Zeit keine einhellige Meinung über die Abschiebungslage in Griechenland gebildet. Die Erfolgsaussichten der gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs zugelassenen und eingelegten Tatsachenrevision seien ebenso offen.

Darum seien die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage nicht angeordnet würde, die Klage in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage erlassen würde, die Klage in der Hauptsache aber erfolglos bliebe. Diese Folgenabwägung führe dazu, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. So sei etwa nicht überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger in Griechenland tatsächlich Obdach, Arbeit und Grundversorgung erhalten könne, und sei nicht sichergestellt, dass der Kläger nach einer Abschiebung nach Griechenland im Falle eines anschließenden Obsiegens in der Hauptsache überhaupt Kenntnis von einer solchen Entscheidung erhalte, was seine Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigen würde. Das öffentliche Interesse an der effektiven und zeitnahen Beendigung des Aufenthalts ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger sei demgegenüber weniger stark betroffen, weil der weitere Aufenthalt des Klägers in Deutschland nur einige Monate für die Dauer des Verfahrens der Tatsachenrevision und der dann sich zügig anschließenden Entscheidung in der Hauptsache andauern würde.

Dublin-Verfahren usw.

Keine systemischen Mängel im italienischen Asylsystem

Das Oberverwaltungsgericht Schleswig meint in seinem (insgesamt uninspirierten) Urteil vom 4. Oktober 2024 (Az. 4 LB 2/23), dass keine systemischen Schwachstellen im Asylsystem Italiens aufgrund eines fehlenden Zugangs zum Asylverfahren oder unzureichender Aufnahmebedingungen vorliegen und dass davon auszugehen ist, dass alleinerziehende Personen bzw. Familien mit minderjährigen Kindern nach Stattgabe ihres Asylantrags in Italien zunächst für in der Regel ein Jahr in ihrer während des Asylverfahrens bewohnten Aufnahmeeinrichtung verbleiben können. Für die diesbezügliche Bewertung sei es unerheblich, dass Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens gegenwärtig faktisch fast nicht erfolgen würden, vielmehr sei wie auch bei der Bewertung der Risiken einer Abschiebung ins Herkunftsland eine Prognose auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten vorzunehmen, und zwar gerade auch, wenn die Erkenntnislage nur begrenzt sei. Wenn dem Tatsachengericht auf der Grundlage der zu seiner Überzeugung feststehenden Prognosebasis eine eigene Prognoseentscheidung nicht möglich sei, dürfe es eine an der materiellen Beweislast auszurichtende Nichterweislichkeitsentscheidung treffen. Das Gericht gehe davon aus, dass sich Italien europarechtskonform verhalten werde, entgegenstehende Anhaltspunkte bestünden nicht und ließen sich auch nicht aus der Behandlung tatsächlich Schutzberechtigter in Italien ableiten, denen die Gewährung eines Schutzstatus versagt worden sei. Immerhin hat das Gericht die Tatsachenrevision zur Frage der Situation vulnerabler anerkannter Schutzberechtigter in Italien zugelassen.

Asylverfahrensrecht

Bei inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen doch Beschwerdeausschluss

Der Verwaltungsgerichtshof München gibt seine bisherige Rechtsprechung auf und meint in seinem Beschluss vom 15. Oktober 2024 (Az. 10 CE 24.1526, 10 C 24.1527) nun, dass die Beschwerde nach § 146 Abs. 1 und 4 VwGO gemäß § 80 AsylG n.F. doch ausgeschlossen ist, wenn sich ein Antragsteller mit seinem Eilrechtsschutzbegehren unter Berufung auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen zum Vollzug einer gegen ihn gerichteten Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG wendet, und dass dies auch für eine beanspruchte Verfahrensduldung zur Sicherung des Verbleibs im Bundesgebiet für die Dauer eines laufenden Titelerteilungsverfahrens gilt. Bislang hatte der Verwaltungsgerichtshof die gegenteilige Auffassung vertreten (siehe zuletzt ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 163), nunmehr beruft er sich darauf, dass der Anwendungsbereich von § 80 AsylG in der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung durch eine mittlerweile weitgehend einheitliche Auslegung konkretisiert worden sei. Dieser Rechtsprechung schließe sich das Gericht im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung an. Nicht zuletzt das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns führe zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung (hier ja eigentlich: Nichtüberprüfung) gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen.

Aufenthaltsrecht

Humanitärer Aufenthaltstitel auch bei Duldungsanspruch

Im Rahmen des Abwägungsvorgangs bei der Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG spielt es keine Rolle, ob der Ausländer bei Versagung der begehrten Aufenthaltserlaubnis einen Anspruch auf Duldung hat, sagt das Oberverwaltungsgericht Bautzen in seinem Beschluss vom 22. Oktober 2024 (Az. 3 A 378/24). Eine Betrachtungsweise, wonach die Versagung der Aufenthaltserlaubnis nicht zwangsläufig zur Rückführung in das Herkunftsland führe, sondern lediglich die Legalisierung des Aufenthalts unterbliebe, stünde im Widerspruch zur Systematik des Aufenthaltsgesetzes. So sei gerade die Schaffung des Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG Ausdruck der gesetzgeberischen Entscheidung, dass dem Fall einer Unmöglichkeit der Ausreise nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht nur durch Aussetzung der Abschiebung, sondern auch durch die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels begegnet werden könne. Diese gesetzgeberische Entscheidung könne nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Ausländer, etwa zur Wahrung des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG, auf die Aussetzung seiner Abschiebung verwiesen werde.

Aufenthaltsrecht

Unionsrechtliche Überformung einer Regelerteilungsvoraussetzung

Die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG wird unionsrechtlich dahingehend überformt, dass nur gewichtige Gründe der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung die Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG rechtfertigen können und dass das daraus resultierende öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das Interesse des Ausländers an der Verwirklichung seines Rechts auf Aufenthalt überwiegen muss, meint das Oberverwaltungsgericht Hamburg in seinem Beschluss vom 28. August 2024 (Az. 6 Bs 66/24). Ein Versagungsgrund sei darum nicht schon immer dann gegeben, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 AufenthG bestehe.

Sonstiges

Notwendige Verteidigung bei Strafverfolgung nach falschen Angaben im Asylverfahren

Wird Beschuldigten in einem Strafverfahren vorgeworfen, in einem ausländerrechtlichen Verfahren oder Asylverfahren falsche Angaben gemacht zu haben, so liegt angesichts der drohenden Ausweisung ganz regelmäßig ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor, sagt das Amtsgericht Singen in seinem Beschluss vom 23. Oktober 2023 (Az. 60 Cs 25 Js 17110/24 jug). Zwar liege die im Strafverfahren zu erwartende Strafe im Bereich einer niedrigen Geldstrafe, dennoch drohe dem Beschuldigten durch die Verurteilung mit der daraus folgenden Ausweisung eine ganz erhebliche Folge. Nach § 54 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG liege ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nämlich vor, sofern in einem ausländerrechtlichen Verfahren oder Asylverfahren falsche oder unvollständige Angaben gemacht worden seien, dementsprechend drohten aus einer Verurteilung aufgrund eines im asyl- bzw. aufenthaltsrechtlichen Verfahren begangenen Urkundendelikts oder nach § 85 Abs. 1 Nr. 5 AsylG jedenfalls schwerwiegende mittelbare Nachteile, die eine Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO notwendig machten.

Anderswo im Internet

Vernichtung von Pushback-Beweisen an den EU-Außengrenzen

Wie funktioniert das eigentlich, dass sich die Opfer von Pushbacks an den EU-Außengrenzen mit rechtlichen Mitteln wehren und ganz am Ende der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil spricht? Schließlich sind die Betroffenen nach einem Pushback in aller Regel in einem Staat außerhalb der EU gestrandet? Wie können sie beweissicher dokumentieren, dass sie von einem Pushback betroffen waren? Wie versuchen Staaten möglicherweise, eine solche Dokumentation zu verhindern, z.B. indem Beweise „verschwinden“, und wie reagiert der Gerichtshof auf solche Versuche? Das sind durchaus spannende Fragen, denen zwei Forscherinnen nachgegangen sind. Ihre Forschungsergebnisse haben sie in einem (langen) Aufsatz The Politics of Legal Facts: The Erasure of Pushback Evidence from the European Court of Human Rights zusammengefasst, in einem parallelen Blogbeitrag What’s beneath the iceberg in M.A. and Z.R. v Cyprus? The erasure of pushback evidence at borders erläutern sie staatliche Beweisvereitelungsstrategien am Beispiel des kürzlich ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. Oktober 2024 im Verfahren M.A. und Z.R. gg. Zypern (Az. 39090/20), in dem es um einen Pushback an der zyprischen Küste im September 2020 ging (siehe HRRF-Newsletter Nr. 166).

Sonstiges

Neue Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht da

Der deutsche Gesetzgeber war wieder einmal fleißig und hat im Oktober 2024 das „Sicherheitspaket“ verabschiedet, das am 31. Oktober 2024 in Kraft getreten ist; zum 1. November 2024 sind außerdem diverse andere Änderungen des deutschen Migrationsrechts in Kraft getreten. Darum war es höchste Zeit, dass es jetzt auch eine HRRF-Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht gibt: Alle wesentlichen Rechtstexte (nämlich Aufenthaltsgesetz, Asylgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz, Staatsangehörigkeitsgesetz, Freizügigkeitsgesetz/EU sowie Aufenthaltsverordnung, Beschäftigungsverordnung, Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung, Ukraine-Aufenthaltserlaubnis-Fortgeltungsverordnung und Verordnung zur Neufassung der Asylzuständigkeitsbestimmungsverordnung) in einem Band, als kostenloser Download oder als praktisches Taschenbuch (472 Seiten).

Sonstiges

HRRF-Monatsübersicht für Oktober 2024 verfügbar

Die HRRF-Monatsübersicht für Oktober 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf acht Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Oktober 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.

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