Es geht in dieser Woche um die vom französischen Asylgerichtshof angenommene Gruppenverfolgung von Palästinensern im Gazastreifen, um Gefahren in der Zentral- und Westukraine, die das Verwaltungsgericht Berlin für nicht beachtlich hält, und um mögliche Kampfeinsätze in der Ukraine als Gefahr für russische Wehrpflichtige, über die sich das Oberverwaltungsgericht Bautzen nicht sicher ist und darum ein Berufungsverfahren durchführen wird. Aus der Dublin-Ecke steuert das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Kritik am Bundesverwaltungsgericht und am Oberverwaltungsgericht bei und macht jedenfalls bei der Aufhebung von Abschiebungsanordnungen weiterhin sein eigenes Ding, während der Verwaltungsgerichtshof München nicht an systemische Mängel in Kroatien für Dublin-Rückkehrer glaubt. Dänemark hat aktuelle Rechtsprechung zur (fehlenden) Strafbarkeit der unerlaubten Einreise beigesteuert, Großbritannien eine Datenpanne im dortigen Afghanistan-Aufnahmeprogramm, die auf Grundlage einer Gerichtsentscheidung jahrelang geheimgehalten wurde.
Flüchtlingsschutz für alle Schutzsuchenden aus dem Gazastreifen
In seiner Entscheidung vom 11. Juli 2025 (Az. 24035619) geht der französische Asylgerichtshof (Cour nationale du droit d’asile) davon aus, dass staatenlose Palästinenser aus dem Gazastreifen, die nicht bereits unter dem Schutz der Vereinten Nationen stehen, als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen sind. Die von den israelischen Streitkräften angewandten Kriegsmethoden träfen die gesamte Zivilbevölkerung des Gazastreifens direkt und wahllos und seien aufgrund ihrer Art und Wiederholung schwerwiegend genug, um eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95 darzustellen. Diese Verfolgungshandlungen stünden auch mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von Art. 10 der Richtlinie in Verbindung, nämlich mit der Nationalität der staatenlosen Palästinenser (Art. 10 Abs. 1 Buchst. c RL). Der Gerichtshof hat zu seiner Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Die Entscheidung steht in einem grundsätzlichen Kontrast zur Entscheidungspraxis deutscher Verwaltungsgerichte, die die Flüchtlingseigenschaft, wenn überhaupt, lediglich auf Grundlage von § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG zuerkennen, d.h. wegen des Wegfalls des im Gazastreifen zuvor vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gewährten Schutzes, ohne dass eine individuelle Verfolgung thematisiert würde, solange nur eine individuelle Betroffenheit vorliegt. Für nicht zuvor vom UNRWA geschützte Schutzsuchende aus dem Gazastreifen kommt in der deutschen Rechtsprechung bislang höchstens subsidiärer Schutz in Betracht, wenn nicht ohnehin die Lage im Gazastreifen für nach wie vor ungewiss gehalten wird. Die französische Entscheidung geht demgegenüber von einer „klassischen“ Gruppenverfolgung aus, so dass jedem einzelnen Schutzsuchenden schon wegen seiner Zugehörigkeit zur verfolgten Gruppe (der staatenlosen Palästinenser) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen wäre.
Keine beachtlichen Gefahren in der Zentral- und Westukraine
Das quantitative Risiko, als Zivilperson in den westlichen Gebieten der Ukraine durch den russischen Angriffskrieg getötet oder verletzt zu werden, erreicht keine für die Annahme einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG hinreichende Gefahrendichte, sagt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 1. Juli 2025 (Az. 39 K 1/24 A). In den letzten zwölf Monate hätte das Risiko, als Zivilperson durch den russischen Angriffskrieg getötet oder verletzt zu werden, in diesen Gebieten bei höchstens 0,005 Prozent gelegen, was evident nicht die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erreiche, die nach dem Bundesverwaltungsgericht weit höher als 0,125 Prozent liege.
Das Urteil zeigt, wie man Fluchtschicksale in „quantitativ ermittelte jährliche Tötungs- und Verletzungsrisiken“ umrechnen kann. Interessanter sind die Ausführungen des Gerichts, dass eine Abschiebungsandrohung regelmäßig nicht ergehen darf, solange sich zumindest ein Mitglied der Kernfamilie, dessen Abschiebung in denselben Herkunftsstaat im Streit steht, im laufenden Asylverfahren befindet und dem der Aufenthalt in der Bundesrepublik daher gemäß § 55 Abs. 1 AsylG gestattet ist, dass das aber dann nicht mehr gelten soll, wenn ausreisepflichtige Familienmitglieder in einen Heimatstaat zurückkehren müssen, der mit dem etwaigen Verfolgerstaat des sich nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG gestattet in Deutschland aufhaltenden Familienmitgliedes nicht identisch ist.
Noch ein Russland-Berufungsverfahren
Mit Beschluss vom 11. Juni 2025 (Az. 2 A 159/24.A) hat das Oberverwaltungsgericht Bautzen die Berufung in einem Verfahren zugelassen, in dem es um die Frage geht, ob ungedienten wehrdiensttauglichen russischen Staatsangehörigen im wehrdienstpflichtigen Alter bei einer Rückführung in die Russische Föderation die unmittelbare Einziehung zur Erfüllung der Wehrpflicht und, gegebenenfalls nach einer Ausbildung, der Einsatz zu Kampfhandlungen in der Ukraine droht.
Die Rechtsprechung ist in der Tat uneinheitlich, siehe etwa den Beitrag von Valentin Feneberg im Verfassungsblog aus dem Februar diesen Jahres.
Keine Abschiebungsanordnungen nach Italien
Die 1a. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen geht in ihrem Urteil vom 9. Juli 2025 (Az. 1a K 3185/24.A) in eine ähnliche Richtung wie kürzlich das Verwaltungsgericht Düsseldorf, wenn sie annimmt, dass Abschiebungsanordnungen nach Italien derzeit rechtswidrig sind, weil nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Soweit das Oberverwaltungsgericht Münster im Mai 2025 angenommen habe, dass die tatsächliche Durchführbarkeit einer Abschiebung lediglich im Rahmen des Dublin-Überstellungsverfahrens zu erörtern sei, vermöge dies dogmatisch nicht zu überzeugen. Es sei bereits nicht erkennbar, weshalb Fragen des Überstellungsverfahrens jedenfalls dann keinen Einfluss auf die tatsächliche Möglichkeit der Überstellung haben sollten, wenn sie von einem solchen Gewicht seien, dass sie eine Überstellung auf unabsehbare Zeit faktisch ausschlössen. Zwar habe der Gesetzgeber die generelle Nichtanwendung von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG ersichtlich nicht bedacht, die gleichwohl in § 34a Abs. 1 S. 4 AsylG explizit vorgesehene Möglichkeit der Abschiebungsandrohung für den Fall, dass eine Abschiebungsanordnung nicht ergehen könne, stehe insoweit aber einer Rechtsfortbildung zur Schließung einer etwaigen planwidrigen Regelungslücke im Hinblick auf eine vom Gesetzgeber so nicht antizipierte Konstellation entgegen.
In dem Urteil übernimmt die Kammer zwar „zur Wahrung der Rechtseinheit“ die Bewertungen des Bundesverwaltungsgerichts von November 2024 und des Oberverwaltungsgerichts Münster von Mai 2025 zur Frage des Vorliegens systemischer Schwachstellen in Italien, spart aber nicht mit Kritik an den beiden Urteilen, die es „nicht in jeder Hinsicht für überzeugend“ hält. Zu den Folgen ihres Ansatzes, (nur) die Abschiebungsanordnung aufzuheben, meint die Kammer, dass die Entscheidung über die Zuständigkeit für den Asylantrag des Betroffenen erst mit Ergehen der Entscheidung im Hauptsacheverfahren getroffen werde und auch die sechsmonatige Überstellungsfrist erst ab diesem Zeitpunkt laufe (Rn. 87). Die Differenzierung im Hinblick auf den Lauf der Überstellungsfrist, die das Verwaltungsgericht Düsseldorf unlängst vorgeschlagen hat, spricht sie dagegen nicht an.
Keine systemischen Schwachstellen in Kroatien
In zwei Beschlüssen vom 2. und 3. Juli 2025 (Az. 24 BV 24.50033 und 24 B 24.50034) meint der Verwaltungsgerichtshof München, dass derzeit keine gesicherten Erkenntnisse darüber bestehen, dass das Asylsystem in Kroatien für nicht-vulnerable oder für vulnerable Dublin-Rückkehrer erhebliche systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen. Eine solche Gefährdung lasse sich unter anderem nicht aus den zumindest wohl noch teilweise praktizierten Pushbacks gegenüber erstmals die Außengrenze Kroatiens erreichenden Migranten ableiten. Es sei nämlich unzulässig, aus einem unionsrechtswidrigen Zustand in einem Sach- oder Rechtsbereich auf einen anderen zu schließen, wenn auf der Hand liege, dass aus einem Umgang mit erstmals ankommenden Migranten nichts für den Umgang mit Migranten folgen könne, die in Rahmen eines intra-europäischen Verwaltungsverfahrens wegen einer bereits begründeten Zuständigkeit Kroatiens mit dessen Zustimmung überstellt würden. Ungeachtet dessen bestehe jedenfalls die Möglichkeit, in Kroatien effektiven Rechtsschutz gegen unionsrechtswidrige Entscheidungen der kroatischen Behörden zu erlangen.
Die Frage ist doch, um in der Diktion des Verwaltungsgerichtshofs zu bleiben, ob es auf der Hand liegt, dass aus einem Umgang mit erstmals ankommenden Migranten nichts für den Umgang mit Migranten folgen kann, die im Rahmen einer Dublin-Überstellung erneut nach Kroatien gelangen. Die Beweislastumkehr, die die 10. Kammer des Verwaltungsgerichts München in beiden Verfahren angewendet hatte, „überzeugt [..] auch nicht“, meint der Verwaltungsgerichtshof, ohne dass er erklären würde, darum das so sein soll.
Griechenland-Urteil ist da
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext seines Urteils vom 16. April 2025 (Az. 1 C 18.24) zur Situation von Schutzberechtigten in Griechenland veröffentlicht, über das hier bereits berichtet wurde.
Spannender als dieses inzwischen hinlänglich bekannte Urteil ist, dass nicht alle Verwaltungsgerichte ihm folgen. Siehe etwa hier oder hier.
Weite dänische Auslegung von Art. 31 GFK
Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (GFK) verpflichtet die GFK-Staaten dazu, keine Strafen gegen Flüchtlinge wegen unrechtmäßiger Einreise oder wegen unrechtmäßigen Aufenthalts zu verhängen, wenn sie „unmittelbar“ aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 GFK bedroht waren. Im Verfassungsblog berichten Asta S. Stage Jarlner und Sarah Scott Ford über eine aktuelle Entscheidung des dänischen Obersten Gerichts, die diese Regel breit interpretiert. In dem Verfahren ging es um einen syrischen Schutzsuchenden, der sich nach seiner Flucht aus Syrien für zwei Jahre in der Türkei und für zwei Monate in Griechenland aufgehalten hatte, bevor er in Dänemark aufgegriffen wurde und einen Asylantrag stellte. Wegen der Verwendung einer nicht auf ihn ausgestellten italienischen ID-Karte bei der Einreise wurde er in Dänemark strafrechtlich verurteilt; diese Verurteilung hob das Oberste Gericht nun auf, weil der Betroffene sich auf Art. 31 GFK berufen könne.
Die sehr weite Auslegung des Begriffs der Unmittelbarkeit durch das dänische Oberste Gericht ist nur dann relevant, wenn Schutzsuchende tatsächlich als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 GFK anerkannt wurden, so dass jedenfalls im Zeitpunkt einer unrechtmäßigen Einreise nach Dänemark nicht klar sein wird, ob eine Strafbarkeit im Ergebnis ausgeschlossen ist oder nicht.
Britisches Gericht hält Datenpanne zu Aufnahmeprogramm jahrelang geheim
Der englische High Court hat in einem Beschluss vom 15. Juli 2025 eine sogenannte „super-injunction“ aufgehoben, die er am 1. September 2023 erlassen hatte, nachdem die britische Regierung eine geheime Liste mit persönlichen Informationen zu fast 19.000 gefährdeten afghanischen Staatsangehörigen versehentlich im Internet zugänglich gemacht hatte. Die Liste war im Rahmen eines britischen Aufnahmeprogramms erstellt worden, mit der super-injunction sollte zum Schutz der Betroffenen jegliche Berichterstattung über die Datenpanne verhindert werden. Die super-injunction hatte sich an alle Personen weltweit („contra mundum“) gerichtet, die von der Datenpanne Kenntnis hatten.
Übersicht zu aktueller griechischer Asylrechtsprechung
Griechische NGOs haben aktuelle griechische Asylrechtsprechung aus dem ersten Halbjahr 2025 in einem 71-seitigen Asylum Case Law Report (in griechischer Sprache) zusammengefasst und analysiert.
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Contra mundum
Es geht in dieser Woche um die vom französischen Asylgerichtshof angenommene Gruppenverfolgung von Palästinensern im Gazastreifen, um Gefahren in der Zentral- und Westukraine, die das Verwaltungsgericht Berlin für nicht beachtlich hält, und um mögliche Kampfeinsätze in der Ukraine als Gefahr für russische Wehrpflichtige, über die sich…
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Schwierige Verhältnisse
Die Rechtsprechung im Asyl- und Migrationsrecht wird gefühlt auch jede Woche politischer. Das liegt wohl weniger an den Gerichten als vielmehr an der neuen Bundesregierung, die mit juristisch zweifelhaftem Aktionismus aufwartet und aufwarten lässt. In dieser Woche geht es dementsprechend um Zurückweisungen, die vielleicht gar keine…
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Fiktiver Aufenthalt
Was tut die italienische Regierung mit einem leerstehenden Migrationszentrum in Albanien, in dem sie keine Schutzsuchenden unterbringen (d.h. inhaftieren) kann, weil die italienischen Gerichte Einwände haben? Sie widmet das Zentrum einfach in eine Abschiebungshaftanstalt um. Ärgerlich nur aus Sicht der Regierung, dass die italienischen Gerichte schon…
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Restriktivere Handhabung
Mal wieder eine Dublin-Woche im HRRF-Newsletter, in der darum geht, ob die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils einem neuen Dublin-Bescheid im Wege steht (ja), ob Dublin-Überstellungsfristen durch gerichtlichen Eilrechtsschutz unterbrochen werden (man ist sich nicht einig) und ob Schutzberechtigten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen (man ist sich ebenfalls…
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Mehrere Monate
Müssen Ausländerbehörden bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse prüfen, obwohl sie dafür nach deutschem Recht gar nicht zuständig sind, oder bleibt es bei der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge? Ein EuGH-Urteil aus dem vergangenen Herbst sorgt jedenfalls bei mir für Verwirrung, und eine…