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Ausgabe 141 • 19.4.2024

Verdecktes Teilurteil

Es geht in dieser Woche um ein verdecktes Teilurteil, um Belgien, Griechenland und den Iran, um die Bindungswirkung einer ausländischen Flüchtlingsanerkennung, die unmittelbare Anwendung der EU-Aufnahmerichtlinie, gar keine oder offensichtlich falsche Asylbescheide des Bundesamts sowie um die Prüfung der Reisefähigkeit in Abschiebungshaft und Copy & Paste bei der Abfassung von Haftbeschlüssen.

Dublin-Verfahren usw.

Systemische Mängel in Belgien

Ähnlich wie das Verwaltungsgericht Arnsberg (siehe HRRF-Newsletter Nr. 132) geht nun auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 11. April 2024 (Az. 29 L 604/24.A) davon aus, dass das belgische Aufnahmesystem für Asylantragsteller hinsichtlich der Personengruppe der alleinstehenden Männer derzeit systemische Schwachstellen aufweist. Alleinstehenden Männern werde der Zugang zum Aufnahmesystem systematisch verweigert, wodurch ihnen unabhängig von ihrem Willen eine Situation extremer Not drohe, dabei seien Dublin-Rückkehrer in gleicher Weise betroffen wie andere Schutzsuchende. Da Obdachlosenunterkünfte etwa in Brüssel vollständig ausgelastet seien, hätten die Abgewiesenen keine andere Möglichkeit, als im Freien zu übernachten. Betroffene könnten auch nicht auf die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes verwiesen werden, um eine Unterkunft zu erhalten, weil die zuständigen Behörden gerichtliche Entscheidungen systematisch nicht umsetzen würden. Sofern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Bescheid zu einer anderen Bewertung komme, stammten die zitierten Erkenntnismittel aus den Jahren 2013 bis 2017 und seien damit veraltet.

Dublin-Verfahren usw.

Bindungswirkung ausländischer Anerkennung als Flüchtling fraglich

Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hat in seinem Beschluss vom 10. April 2024 (Az. 4 LZ 474/23 OVG) die Berufung in einem Verfahren zugelassen, in dem es um die Frage geht, ob die Flüchtlingsanerkennung in einem anderen EU-Staat bei nachfolgender Asylantragstellung in Deutschland die Anordnung einer Ausreisefrist sowie den Erlass einer Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat und eines Einreise- und Aufenthaltsverbots verhindert, wenn eine Überstellung in den anderen EU-Staat und damit eine Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags als unzulässig nicht möglich sind. § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG sieht an sich eine Bindungswirkung der ausländischen Anerkennung als Flüchtling vor, das OVG Greifswald fragt sich aber, ob der Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht reduziert werden muss.

Aufnahmebedingungen

Unmittelbare Anwendung der EU-Aufnahmerichtlinie bei unbegleiteten Minderjährigen

Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim identifiziert in seinem Beschluss vom 9. April 2024 (Az. 12 S 77/24) Defizite im deutschen Recht bei der Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU, die zur unmittelbaren Anwendung der Richtlinie zu Gunsten von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden führen. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 der EU-Aufnahmerichtlinie verlange, dass die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, einem unbegleiteten Minderjährigen so bald wie möglich einen Vertreter zu bestellen, der ihn vertritt und unterstützt, damit jener die Rechte aus der Aufnahmerichtlinie in Anspruch nehmen und den sich hieraus ergebenden Pflichten nachkommen könne. Ein solcher Vertreter sei eine Person, die Grundkenntnisse in Bezug auf die Aufnahmerichtlinie und des dazugehörigen Verfahrensrechts habe, über die Möglichkeit der Familienzusammenführung informiert sei, Kenntnisse in Bezug auf Schutzbedürfnisse und Entwicklungspsychologie eines unbegleiteten Minderjährigen habe und zu einer gegebenenfalls kindgerechten Kommunikation in der Lage sei. Einer drittstaatsangehörigen Person, die um internationalen Schutz nachsuche, sei dann ein solcher Vertreter zu bestellen, wenn diese vertretbar behaupte, minderjährig zu sein; nicht vertretbar behauptet sei die Minderjährigkeit (nur) dann, wenn der Ausländer offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel nicht minderjährig sei und die zuständige Behörde dies ohne Durchführung eines Altersfeststellungsverfahrens bestimmen könne.

Entgegen diesen unionsrechtlichen Vorgabe sehe das deutsche Recht nicht vor, einem nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut genommenem ausländischen Minderjährigen solchen Vertreter zu bestellen, was die unmittelbare Anwendung von Art. 24 Abs. 1 der EU-Aufnahmerichtlinie zur Folge habe. Soweit das Jugendamt im Rahmen einer sogenannten Notvertretung nach § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet sei, alle Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohle des Minderjährigen notwendig seien, genüge dies den Anforderungen des Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie nicht. Das Jugendamt sei zugleich für die Altersfeststellung zuständig und damit sowohl Vertreter des unbegleiteten Minderjährigen als auch Vertreter des über die vorläufige Inobhutnahme entscheidenden Rechtsträgers. Wenngleich dies nicht zwingend eine Interessenkollision zur Folge haben müsse, könne indes nicht ausgeschlossen werden, dass die Interessen des Jugendamtes insbesondere im Falle der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme den Interessen des unbegleiteten Minderjährigen entgegenliefen.

Menschenrechtsschutz

Aufnahmebedingungen in griechischen Lagern immer noch menschenrechtswidrig

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt in seinem Urteil vom 18. April 2024 (Az. 59841/19 u.a., A.R. u.a. gegen Griechenland) erneut menschenrechtswidrige Zustände in Aufnahmezentren auf griechischen Inseln fest. Die Beschwerdeführer seien im Jahr 2019 über Wochen, Monate bzw. fast ein Jahr obdachlos gewesen und hätten keinerlei medizinische Versorgung erhalten, außerdem seien die Aufnahmezentrum massiv überfüllt gewesen, hätte es keinen ausreichenden Zugang zu sanitären Einrichtungen, Einschränkung bei der Versorgung mit Lebensmitteln und aufgrund fehlender Sicherheitsvorkehrungen eine hohe Kriminalitätsrate gegeben. Dies stelle eine Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer aus Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) dar.

Materielles Flüchtlingsrecht

Voraussetzungen für Annahme von Verfolgung im Iran

Das Oberverwaltungsgericht Münster klärt in seinem ausführlich begründeten Urteil vom 18. März 2024 (Az. 6 A 1605/20.A) die Voraussetzungen, unter denen Verfolgung im Iran angenommen werden kann. Allein der Umstand, dass sich eine Person in Deutschland länger aufgehalten und einen Asylantrag gestellt habe, löse bei einer Rückkehr in den Iran nach wie vor nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung aus, ebenso stellten nach einem längeren Auslandsaufenthalt bei der Rückkehr in den Iran durchgeführte Befragungen für sich genommen ohne das Hinzutreten besonderer Umstände keine relevanten, einen Schutzstatus begründende Handlungen im Sinne von § 3a AsylG dar; Entsprechendes gelte für eine etwaige Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen sei schutzrechtlich relevant, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise erfolgtem Auftreten bestehe, wobei maßgeblich sei, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen ließen. Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden seien, umso eher werde dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen. Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung könne auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration maßgeblich dafür sein, ob jemand als „Schlüsselperson“ in den Fokus der iranischen Behörden gerate.

Asylverfahrensrecht

Nachträglicher Entfall eines Zulassungsgrunds

Die anderweitige Klärung einer Rechts- oder Tatsachenfrage während des Verfahrens auf Zulassung der Berufung in einem asylgerichtlichen Verfahren führt dazu, dass ein grundsätzlicher Klärungsbedarf nachträglich entfällt und der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr 1 AsylG nicht (mehr) vorliegt, meint das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 7. März 2024 (Az. OVG 4 N 11/24). Maßgeblich für die Beurteilung sei der Zeitpunkt der Zulassungsentscheidung, dementsprechend führe eine anderweitige Klärung während des Zulassungsverfahrens dazu, dass ein grundsätzlicher Klärungsbedarf nachträglich entfalle.

Asylverfahrensrecht

Gesetzliche Höchstfrist für BAMF-Entscheidungen ist verbindlich

Die in § 24 Abs. 7 AsylG geregelte Frist, wonach das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge spätestens 21 Monate nach der Antragstellung über Asylanträge entscheidet, stellt eine absolute Höchstfrist für Entscheidungen dar, sagt das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Beschluss vom 5. März 2024 (Az. 5 A 4504/23). Dies entspreche den unionsrechtlichen Vorgaben in Art. 31 Abs. 5 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU und gelte auch im Anwendungsbereich von § 24 Abs. 5 AsylG, d.h. auch bei Bestehen einer „vorübergehend ungewissen Lage“. In dem Verfahren war der Asylantrag im Januar 2016 gestellt worden, das Bundesamt hat bis heute nicht entschieden.

Asylverfahrensrecht

Offensichtlich rechtswidriger Asylbescheid

Das Verwaltungsgericht Köln war in seinem Beschluss vom 9. April 2024 (Az. 22 L 551/24.A) von einem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wohl nicht überzeugt, wenn es ausführt, dass sich das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts als offensichtlich rechtswidrig darstellt. Das Bundesamt habe nicht hinreichend begründet, warum es den Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt habe, sondern das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG lediglich behauptet. So heiße es im Bescheid, dass die Angaben der Antragsteller offenkundig widersprüchlich und nicht substantiiert seien, konkrete Widersprüche im Vortrag der Antragsteller würden indes nicht benannt. Weiter führe das Bundesamt aus, dass ein eingereichtes Dokument „inhaltlich höchst zweifelhaft“ sei, es werde aber nicht mitgeteilt, wie es zu dieser Einschätzung gelangt sei. Wenn das Bundesamt weiter ausführe, dass „in der Beschaffung“ des Dokumentes offene Fragen existierten, die die Antragsteller nicht hätten aufklären können, sei dies für das Gericht ebenso nicht ansatzweise nachvollziehbar. Fragen hinsichtlich der „Beschaffung“ des Dokuments seien ausweislich des Anhörungsprotokolls nicht gestellt worden, so dass insoweit auch keine Fragen offengeblieben sein könnten.

Asylverfahrensrecht

Keine Berufung bei verdecktem Teilurteil

Das Oberverwaltungsgericht Greifswald geht in seinem Beschluss vom 25. März 2024 (Az. 4 LZ 397/23 OVG) davon aus, dass dann, wenn ein Verwaltungsgericht nicht über alle gestellten Anträge entschieden hat, in der Regel kein Verfahrensmangel vorliegt, der zur Zulassung der Berufung führen kann. Wenn ein Urteil nicht alle gestellten Sachanträge abhandele, liege ein Teilurteil vor, dessen Vervollständigung im Rechtsmittelweg nicht erreicht werden könne, wenn und weil der Rechtsmittelführer insoweit einen Antrag auf Urteilsergänzung gemäß § 120 Abs. 1 VwGO oder einen Antrag auf Berichtigung des Tatbestandes gemäß § 119 Abs. 1 VwGO stellen könne. Mit Ablauf der Frist des § 120 Abs. 2 VwGO erlösche dann die Rechtshängigkeit des übergangenen Streitgegenstandes und könne das Urteil in einem Berufungsverfahren nicht mehr ergänzt werden. Anderes gelte nur in Fällen, in denen das Gericht nicht versehentlich, sondern bewusst eine unvollständige Entscheidung getroffen habe, weil es ein Teilurteil gemäß § 110 VwGO erlassen oder den Klagegegenstand unter Verstoß gegen § 88 VwGO zu eng bestimmt habe.

Abschiebungshaftrecht

Haftgericht muss Reisefähigkeit prüfen

Bescheinigt der im ärztlichen Dienst einer Abschiebungshafteinrichtung tätige Arzt, dass es an der Reisefähigkeit eines abzuschiebenden Ausländers fehlt, so kann dies einen tatsächlichen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung begründen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 5. März 2024 (Az. XIII ZB 12/22). In einem solchen Fallen könnten sowohl Verwaltungsbehörde als auch Haftgericht gehalten sein, weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Betroffenen anzustellen, auch wenn die vom Arzt ausgestellte Bescheinigung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG nicht erfülle. Zwar sei der Haftrichter selbst nicht zur Prüfung verpflichtet, er müsse in einem solchen Fall aber bei der Abschiebungshafteinrichtung ein den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügendes Attest anfordern und aufklären, ob ein aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgendes Abschiebungsverbot bestehe.

Abschiebungshaftrecht

Copy & Paste im Haftbeschluss unschädlich

Die wörtliche Übernahme von Teilen eines Haftantrags durch den Haftrichter rechtfertigt nicht die Annahme, dass bei der Abfassung des Haftbeschlusses keine eigenverantwortliche Prüfung des übernommenen Textes stattgefunden hat, meint der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 5. März 2024 (Az. XIII ZB 65/22). Dies könne nur bei Vorliegen hinreichender und konkreter Anhaltspunkte dafür begründet sein, dass eine eigenständige richterliche Prüfung nicht stattgefunden habe. Haftrichter seien teilweise erheblich belastet und hätten Haftanträge unter großem Zeitdruck zu bearbeiten, seien daher auf eine zeitsparende und effiziente Arbeitsweise angewiesen.

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