In seinem Beschluss vom 9. Februar 2024 (Az. 6 L 1243/23.A) nimmt das Verwaltungsgericht Arnsberg das Vorliegen systemischer Mängel bei der Unterbringung männlicher Schutzsuchender in Belgien an. Das Recht auf Unterbringung werde männlichen Schutzsuchenden systematisch verwehrt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Erst- oder Folgeantragsteller handele. Allein im Jahr 2022 hätten 8.600 Schutzsuchende erfolgreich vor belgischen Gerichten auf Unterbringung geklagt, der belgische Staat setze diese Urteile jedoch nicht oder nur schleppend um. Siehe zu dieser Thematik zuletzt ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 128, es ist mehr als unverständlich, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in solchen Verfahren immer noch von einer Zuständigkeit Belgiens ausgehen kann und, wie im Beschluss ausgeführt, zur Begründung Erkenntnismittel und Rechtsprechung anführt, die die Aufnahmebedingungen in Belgien „allenfalls bis zum Jahr 2017“ zum Gegenstand haben. Amnesty International setzt sich übrigens immer noch in einer Eilaktion für die Rechte von Schutzsuchenden in Belgien ein.
Das Oberverwaltungsgericht Greifswald geht in seinem Urteil vom 2. Februar 2024 (Az. 4 LB 653/22 OVG) davon aus, dass die Aufnahmebedingungen für psychisch schwer erkrankte Dublin-Rückkehrer in Bulgarien systemische Schwachstellen aufweisen. Diese Schwachstellen ergäben sich zum einen daraus, dass Asylsuchende aufgrund der auf eine Grundversorgung beschränkten Gesundheitsversorgung und der insgesamt defizitären Situation des bulgarischen Gesundheitssystems regelmäßig keinen Zugang zu psychiatrischer oder psychologischer Behandlung hätten bzw. für eine solche und die Versorgung mit Psychopharmaka erhebliche Zuzahlungen leisten müssten. Zum anderen werde das Risiko einer unzureichenden Behandlung psychisch kranker Rückkehrer dadurch erhöht, dass die Feststellung und Deckung des besonderen Schutzbedarfs von Asylsuchenden nach wie vor regelmäßig unzureichend erfolge. Hinzu komme, dass Dublin-Rückkehrer in der Praxis oft mehrere Monate auf den Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung warten müssten.
In seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 (Az. 1 C 34.22) hat sich das Bundesverwaltungsgericht zur Auslegung von Klageanträgen und, in einem obiter dictum, zur Unzulässigkeit des isolierten Fortbestands einer negativen Staatenbezeichnung bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung im Übrigen geäußert. In dem Verfahren hatte das Verwaltungsgericht einen ausdrücklich gestellten Antrag auf bloße Teilaufhebung einer Abschiebungsandrohung (nämlich mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung) als Antrag auf vollständige Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes ausgelegt und die Abschiebungsandrohung insgesamt aufgehoben und hatte das Oberverwaltungsgericht sodann das Rechtsschutzinteresse der Klägerin an einer weitergehenden Klärung verneint. Das sei falsch, meinte das Bundesverwaltungsgericht, weil das Gericht bei der Auslegung eines Klageantrags an den ausdrücklich und unmissverständlich erklärten Willen der Klägerin gebunden sei und nicht über einen Gegenstand entscheiden dürfe, den die Klägerin nicht zur Entscheidung des Gerichts gestellt habe. In Hinblick auf die Möglichkeit der isolierten Fortgeltung einer negativen Staatenbezeichnung spreche Überwiegendes dafür, dass die negative Staatenbezeichnung nicht von der Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Frist und der Bezeichnung eines Zielstaates gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG trennbar sei, sodass sie nur das Schicksal der genannten übrigen Bestandteile der Abschiebungsandrohung teilen könne.
Beruft sich eine Divergenzrüge im Rahmen eines asylgerichtlichen Berufungszulassungsverfahrens auf eine gerichtliche Entscheidung, die nicht veröffentlicht wurde und deren maßgebliche Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist, dann muss diese Entscheidung dem Zulassungsantrag als Anlage beigefügt werden, sagt der Verwaltungsgerichtshof Kassel in seinem Beschluss vom 16. Januar 2024 (Az. 2 A 360/23.Z.A). In dem Verfahren war die Abweichung eines verwaltungsgerichtlichen Urteils von einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Kassel aus dem Jahr 1993 geltend gemacht worden, in dem es um Fragen der Religionsausübung von Ahmadis in Pakistan gegangen war. Das Urteil aus dem Jahr 1993 sei nicht veröffentlicht worden und im Archiv des Verwaltungsgerichtshofs nach Ablauf der zehnjährigen Aufbewahrungsfrist nicht mehr vorhanden, insofern hätten die Kläger dafür sorgen müssen, dass das Urteil für das Gericht „ohne langes Suchen“ zu finden gewesen wäre.
Ein Anspruch auf Gewährung vorübergehenden Schutzes aus § 24 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 setzt voraus, dass ein drittstaatsangehöriger Antragsteller in der Ukraine über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügte und nicht lediglich einen Anspruch darauf hatte, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 15. Januar 2024 (Az. 2 M 60/23). Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses und entspreche auch dem Sinn und Zweck der Regelung, die dazu dienen solle, mit einem „Massenzustrom“ von geflüchteten Menschen möglichst schnell und effizient verfahren zu können; die Festlegung einfach nachprüfbarer Anspruchsvoraussetzungen sei hierfür unabdingbar.
Gemäß § 121 Abs. 3 ZPO kann ein nicht im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt unter anderem im Wege der Prozesskostenhilfe nur beigeordnet werden, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ging in der Vergangenheit davon aus, dass diese Bestimmung in (gegen das Auswärtige Amt gerichteten) Visaverfahren nicht einschlägig ist, weil der Gerichtsbezirk wegen des Sitzes der Erlassbehörde stets Berlin ist und der Wohnort der Kläger nicht im Bundesgebiet liegt (siehe etwa den Beschluss vom 2. Mai 2012, Az. OVG 3 M 34.12). An dieser Rechtsprechung hält das Gericht nun nicht mehr fest, sondern wendet stattdessen § 121 Abs. 3 ZPO an. Darum, so das Gericht in seinem Beschluss vom 23. Januar 2024 (Az. 3 B 69/23), komme in einem auf Familiennachzug gerichteten Visumverfahren die Beiordnung eines auswärtigen Rechtsanwalts nur in Betracht, wenn ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung mittels Bild- und Tonübertragung nach § 102a VwGO zumutbar sei (also keine Mehrkosten durch Reisen entstünden). Das sei jedenfalls gegeben, wenn der Sachverhalt geklärt sei und es in erster Linie um Rechtsfragen gehe. Es sei dem beigeordneten Rechtsanwalt zumutbar, die erforderlichen technischen Voraussetzungen zur Durchführung einer Videokonferenz zu schaffen, zumal die erforderlichen Kommunikationsmittel jedenfalls seit der Corona-Pandemie zur üblichen Büroausstattung gehören dürften und ihre Anschaffung unter Berücksichtigung der ohnehin vorzuhaltenden technischen Infrastruktur sowie der einsparbaren Reisekosten ohne weiteres zumutbar sei.
Soll ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer trotz noch bestehender Duldung abgeschoben werden, bedarf es nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG zunächst eines Widerrufs der Duldung, sagt das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 30. Januar 2024 (Az. 6 MB 6/24) und hat in einem Eilverfahren den Vollzug einer geplanten Abschiebung deswegen untersagt. Ausländerbehörde, Verwaltungsgericht und die Betroffenen hatten offenbar übersehen, dass die den Betroffenen erteilte Duldung bislang nicht widerrufen worden war, und die Betroffenen hatten sich darum im gerichtlichen Verfahren auch nicht auf den Fortbestand ihrer Duldung berufen. Zwar habe das Beschwerdegericht, so das OVG, angesichts der Regelung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO grundsätzlich vom Beschwerdeführer nicht dargelegte Gründe unberücksichtigt zu lassen und die Beschwerde ohne Rücksicht auf die sich aus solchen Gründen ergebende Fehlerhaftigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung als unbegründet zurückzuweisen. In Fällen wie hier jedoch, in denen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung ohne Weiteres erkennbar sei und es damit keiner weiteren gerichtlichen Prüfung bedürfe, um deren Unrichtigkeit darzustellen, wäre es untragbar, ein Gericht dazu zu zwingen, sehenden Auges materiell falsch zu entscheiden. Das Gericht habe darum das Fortbestehen der Duldung ausnahmsweise zu berücksichtigen.
Es ist erneut an der Zeit, auf eine der verborgenen Perlen migrationsrechtlicher Internetangebote hinzuweisen, nämlich auf den hervorragenden Newsletter von Rechtsanwalt Volker Gerloff zum Migrationssozialrecht. Etwa alle zwei bis drei Wochen berichtet der Newsletter über aktuelle Rechtsentwicklungen und Gerichtsentscheidungen im Bereich des Migrationssozialrechts (insbesondere zum Asylbewerberleistungsgesetz) - einem Thema, das der HRRF-Newsletter weitestgehend ausspart, und auch deswegen ist dieser Newsletter eine perfekte Ergänzung zur Lektüre des HRRF-Newsletters. Ausgabe 02/2024 des Newsletters ist gerade erschienen, eine Anmeldung zum E-Mail-Verteiler kann per E-Mail an newsletter@ra-gerloff.de erfolgen.
In einem aktuellen Blog-Beitrag bespricht Rechtsanwalt Marcel Keienborg das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 8. Februar 2024 (Rs. C-216/22), in dem es um die Zulässigkeit von Folgeanträgen nach Urteilen des Gerichtshofs geht, und erläutert mögliche Auswirkungen auf die Stellung und Erfolgsaussichten von Folgeanträgen. Christel Querton erläutert in einem Beitrag im Verfassungsblog die Bedeutung der derzeit am Europäischen Gerichtshof anhängigen verbundenen Vorabentscheidungsverfahren C-608/22 und C-609/22, in denen es um die Anforderungen an die Annahme von Verfolgung aufgrund des Geschlechts und wegen einer Kumulierung diskriminierender Handlungen und Maßnahmen geht; die Verfahren betreffen schutzsuchende Frauen aus Afghanistan, die Schlussanträge des Generalanwalts liegen bereits vor.
Die Europäische Kommission hat im Anhang ihres Arbeitsdokuments SWD(2023) 390 fin. vom 23. November 2023 auf 55 Seiten die bisher ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung der Dublin-III-Verordnung zusammengestellt. Prof. Dr. Holger Hoffmann liefert in seinem (letzten) Europabericht für die Rechtsberaterkonferenz auf 38 Seiten unter anderem eine Übersicht der Rechtsprechung europäischer Gerichte zum Flüchtlingsrecht im Zeitraum von August bis Dezember 2023.
Das Bundesverwaltungsgericht hat den Volltext seines Urteils vom 15. November 2023 (Az. 1 C 7.22) veröffentlicht, in dem es darum geht, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines in Deutschland geborenen Kindes, das hier als Flüchtling anerkannt worden ist, keinen Anspruch auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 3 i. V. m. Abs. 5 AsylG haben (siehe bereits die Pressemitteilung des Gerichts vom 15. November 2023 sowie HRRF-Newsletter Nr. 121).
Die HRRF-Monatsübersicht für Januar 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf sieben Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Januar 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.