In seinem Urteil vom 12. November 2024 (Az. 56390/21, M.I. gg. Schweiz) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die Abschiebung eines homosexuellen Schutzsuchenden in den Iran ohne die vorherige erneute Prüfung seiner Gefährdung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen würde. In dem Verfahren hatte die Schweizer Asylbehörde es für unwahrscheinlich gehalten, dass die Homosexualität des Schutzsuchenden den Behörden oder der Öffentlichkeit im Iran bekannt werden würde, und aus diesem Grund nicht geprüft, ob er mit staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung zu rechnen hätte und ob der iranische Staat Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung bieten würde. Niemand sei verpflichtet, seine sexuelle Orientierung zu verbergen, um Verfolgung zu vermeiden, so der Gerichtshof, und darum sei es möglich, dass sie bekannt werde, selbst wenn dies vor der Flucht nicht geschehen sei. Jedenfalls die Gefahr einer nicht-staatlichen Verfolgung müsse deshalb erneut geprüft werden.
Grundwehrdienstpflichtigen russischen Staatsangehörigen droht bei ihrer Rückkehr nach Russland die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung, weil mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit ihrer zwangsweisen Rekrutierung zum Kriegseinsatz in der Ukraine zu rechnen ist, meint das Verwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 15. November 2024 (Az. 3 B 184/24 MD). Zwar sei nach der aktuellen Erkenntnislage die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Grundwehrdienstleistenden zu Kampfhandlungen als eher gering einzuschätzen, ein solcher Einsatz sei aber weder rechtlich noch tatsächlich ausgeschlossen. Nach der von Moskau proklamierten Annexion der vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson könnten Wehrpflichtige in diesen Gebieten auch offiziell für den Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, ohne dass es sich insofern aus russischer Sicht um einen Auslandseinsatz handelte, auch seien zahlreiche Fälle bekannt, in denen Grundwehrdienstleistende in die Ukraine entsandt worden seien.
Die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 22. August 2024 (Az. 12 B 17/23) (siehe HRRF-Newsletter Nr. 165), dass diese Einschätzung auf keiner ausreichenden Erkenntnislage beruhe, teile das Gericht nicht. Grundwehrdienstleistenden in der Russischen Föderation drohe derzeit, sich mittels erzwungener Vertragsabschlüsse als Vertragssoldaten zu verpflichten, sie gälten dann offiziell nicht mehr als Wehrpflichtige, sondern als Freiwillige, und würden im Ukraine-Krieg eingesetzt. Die Quellen, deren Aussagekraft das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in Zweifel ziehe, würden von anderen sach- und fachkundigen Stellen wiedergegeben, ohne dass sie die inhaltliche Aussage der Quellen in Frage stellten, etwa vom Auswärtigen Amt oder vom österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Das Gericht sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Institutionen sich auf unsichere Quellen stützten.
Der von den Eltern eines Kindes gemäß § 14a Abs. 3 AsylG ausgesprochene Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind entfaltet für das Kind letztlich keinerlei Bindungswirkung, sagt das Verwaltungsgericht Kassel in seinem Urteil vom 6. November 2024 (Az. 1 K 599/21.KS.A), so dass für das Kind auf Antrag ein Folgeverfahren durchzuführen sei. Dem Kind könne ein etwaiges Verschulden der Eltern bei der Erklärung des Verzichts bereits nicht zugerechnet werden, weil § 71 Abs. 1 AsylG für die spätere Durchführung eines Folgeverfahrens für das Kind ausdrücklich auf ein eigenes Verschulden des Kindes abstelle. Im Unterschied zur alten Rechtslage vor Inkrafttreten des Rückführungsverbesserungsgesetzes, die noch vom Grundgedanken der Möglichkeit delegierter Interessenwahrnehmung ausging, sei der neue Wortlaut der Norm ersichtlich an den Wortlaut von Art. 40 Abs. 4 der EU-Asylverfahrensrichtlinie angelehnt. Die Norm müsse daher richtlinienkonform so ausgelegt werden, dass sie ein qualifiziertes Verschulden voraussetze, dessen Bedeutung nicht am deutschen Recht gemessen werden könne und das keine Zurechnung des Verhaltens der Eltern erlaube. Außerdem gebiete es Erwägungsgrund Nr. 33 dieser Richtlinie, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, das regelmäßig nicht zu eigenem Vortrag in der Lage sein werde. Die Prüfung des Asylantrag eines Kindes müsse darum von Amts wegen alle auf der Hand liegenden Umstände umfassen und dürfe nicht aufgrund der Erklärung eines Sorgeberechtigten hinsichtlich des Nichtvorliegens eigener Schutzgründe ohne weitere Amtsermittlung zur Präklusion jeglicher in diesem Zeitpunkt vorliegender Umstände führen.
Stellt ein Ausländer nach einer Einreiseverweigerung an der deutschen Grenze aus der Zurückschiebungshaft heraus einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Ausübung des Selbsteintrittsrechts ablehnt, dann muss dem Ausländer anschließend die Einreise nach Deutschland gestattet werden, sagt das Verwaltungsgericht München in seinem Beschluss vom 21. November 2024 (Az. M 26b E 24.33644). Eine zunächst auf aufenthaltsrechtlicher Grundlage, nämlich gemäß Art. 14 des Schengener Grenzkodex in Verbindung mit § 15 AufenthG erlassene Einreiseverweigerung erledige sich durch eine anschließend gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG erlassene Einreiseverweigerung, von der allerdings gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG nach Ausübung des Selbsteintrittsrechts und Ablehnung des Asylantrags zwingend abzusehen sei, so dass sich aus § 18 Abs. 1 AsylG im Ergebnis ein Anspruch auf vorläufige Gestattung der Einreise ergebe. Aus § 14 Abs. 3 AsylG, wonach die Stellung eines Asylantrags der Anordnung oder Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft nicht entgegenstehe, folge nichts anderes, weil diese Vorschrift zur Frage der Fortdauer der Einreiseverweigerung gerade keine Regelung treffe.
Bei den BMI-Rundschreiben vom 14. April 2022 und vom 5. September 2022, wonach bei Personen, die sich mit einem nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitel rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in die Ukraine und damit ohne Weiteres davon auszugehen sei, dass sie nicht in der Lage seien, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere Bindung zur Ukraine als zum Herkunftsstaat bestehe, handelt es sich um bloße Anwendungshinweise, die weder für die Ausländerbehörde noch für das Gericht Bindungswirkung entfalten, meint der Verwaltungsgerichtshof München in seinem Beschluss vom 20. November 2024 (Az. 10 ZB 24.1606). Bei Anwendung der Hinweise des BMI würde bei Bejahung der prima-facie-Schlussfolgerung einer engeren Bindung zur Ukraine die zweite Voraussetzung der sicheren und dauerhaften Rückkehrmöglichkeit nicht mehr geprüft werden. Der Geltungsbereich des § 24 Abs. 1 AufenthG umfasse jedoch nur solche Personen, denen auf Grundlage von Art. 5 der EU-Richtlinie 2001/55/EG durch Ratsbeschluss verbindlich vorübergehender Schutz gewährt worden sei, so dass der schutzberechtigte Personenkreis durch administrative Hinweise nicht erweitert werden könne.
Einen Folgenbeseitigungsanspruch auf Ermöglichung der Wiedereinreise nach Deutschland nimmt das Verwaltungsgericht Karlsruhe in seinem Beschluss vom 15. November 2024 (Az. 13 K 3265/24) in einem Verfahren an, in dem die Abschiebung einer Familie in den Kosovo offensichtlich rechtswidrig war. Es habe bezüglich eines Familienmitglieds bereits an der vollziehbaren Ausreisepflicht gefehlt, weil ihm der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge über die Ablehnung des Asylantrags nicht wirksam zugestellt worden sei. Das Bundesamt habe über mehrere Jahre einen falschen Nachnamen verwendet, obwohl es von anderen Behörden auf den Fehler hingewiesen worden war, und habe Zweifel an einer wirksamen Zustellung ignoriert. Die Abschiebung der übrigen Familienmitglieder sei ebenso rechtswidrig gewesen, weil ihnen jedenfalls ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zustand, nämlich zur Vermeidung einer Trennung der Familie.
Endet eine Rechtsmittelfrist an einem nicht bundeseinheitlichen Feiertag, so sind für eine etwaige daraus folgende Fristverlängerung die Verhältnisse am Ort des Sitzes des Gerichts maßgeblich, bei dem das Rechtsmittel einzulegen ist, nicht aber die Verhältnisse am Ort des Prozessbevollmächtigten, sagt das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 21. November 2024 (Az. 2 L 119/24.Z).
So langsam kommt die Rechtsprechung zur Reichweite des (neuen) Beschwerdeausschlusses in § 80 AsylG ein wenig zur Ruhe: Der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim schließt sich in seinem Beschluss vom 11. November 2024 (Az. 11 S 1747/24) aus „Gründen der Rechtsanwendungseinheit und der Rechtsmittelklarheit“ der Ansicht an, dass die Beschwerde auch in auf Erteilung einer Verfahrensduldung gerichteten Verfahren ausgeschlossen ist. Der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs, der bis zuletzt eine andere Ansicht vertreten hatte, gibt seine bisherige Rechtsprechung auf und folgt dem 11. Senat in seinem Beschluss vom 15. November 2024 (Az. 12 S 1821/24). Das Oberverwaltungsgericht Magdeburg äußert sich in seinem Beschluss vom 5. November 2024 (Az. 2 M 105/24) in dieselbe Richtung, das Oberverwaltungsgericht Koblenz lässt die Frage in seinem Beschluss vom 28. November 2024 (Az. 7 B 11209/24.OVG) mangels Entscheidungserheblichkeit immerhin noch offen.
Die HRRF-Monatsübersicht für November 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf elf Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat November 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.