Es geht in dieser Woche um die Fragen, ob der Verweis auf einen Folgeantrag für Betroffene eigentlich schlecht ist (sie „beschwert“), und ab wann genau im grenzüberschreitenden Kontext ein Folgeantrag (d.h. dann Zweitantrag) eigentlich vorliegt. Außerdem gibt es neue Zweifel an sicheren Herkunftsstaaaten, einen groben Gehörsverstoß bei einem Verwaltungsgericht, vielleicht bald ungeschwärzte Lageberichte des Auswärtigen Amts, keine zumutbaren Verhältnisse in Griechenland für schutzberechtigte Familien, wenig Respekt der Bundesregierung für Afghanistan-Eilbeschlüsse und mehr Asylklagen.
Zweifel an Ghana als sicherem Herkunftsstaat
Das Verwaltungsgericht Bremen hat in seinem Beschluss vom 6. August 2025 (Az. 7 V 2097/25) erhebliche Zweifel daran geäußert, ob die Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 29a AsylG (siehe Anlage II zum AsylG) mit der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vereinbar ist. Es sprächen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass Ghana die in Anhang I der Richtlinie 2013/32/EU genannten materiellen Voraussetzungen jedenfalls nicht in Hinblick auf LGBTQI*-Personen erfülle, weil diese Personen in Ghana von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ausgehende Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU zu befürchten hätten. Es komme zu willkürlichen Verhaftungen, Erpressungen und erzwungenen Outings durch die Polizei; aufgrund einer allgemeinen homophoben Grundstimmung in Politik und Gesellschaft fänden gewalttätige körperliche Angriffe durch die Bevölkerung auf LGBTQI*-Personen statt. Strafverfolgungsbehörden nähmen zwar vereinzelt Ermittlungen bei entsprechenden Übergriffen auf, zeigten sich jedoch häufig parteiisch zugunsten der tatverdächtigen Angreifer.
In dem Verfahren war der Asylantrag der aus Ghana geflohenen Klägerin gemäß § 29a AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden. Wenn ich nichts übersehen habe, hat dem Verwaltungsgericht dieser Umstand als Ausgangspunkt für die Äußerung seiner Zweifel ausgereicht. Das EuGH-Urteil vom 1. August 2025 (Rs. C-758/24, C-759/24, Alace), wonach sichere Herkunftsstaaten für alle Personengruppen sicher sein müssen, war dem Gericht offenbar bereits bekannt.
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde nach Gehörsverstoß
Wenn sich ein Verwaltungsgericht mit dem Kern der rechtlichen Argumentation eines Klägers gar nicht auseinandersetzt, zu dem mehrfachen, vertieften und mit Judikaten anderer Gerichte belegten Vorbringen des Klägers in Gänze schweigt und nicht ansatzweise erkennen lässt, dass es die vom Kläger vorgebrachten Argumente tatsächlich zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, dann ist davon auszugehen, dass es das Vorbringen des Klägers unter Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) unbeachtet gelassen hat, sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. April 2025 (Az. 2 BvR 937/24), in dem es einer Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) aus dem Juli 2024 stattgegeben hat.
Der Kläger in dem Verfahren hatte vor dem Verwaltungsgericht vorgetragen, dass das Asylsystem in Griechenland an systemischen Mängeln leide, weswegen er gehindert gewesen sei, seine Homosexualität geltend zu machen und wodurch sein in Deutschland gestellter Asylantrag nicht als Zweitantrag angesehen werden dürfe. Außerdem, so der Kläger, wäre das Bundesamt verpflichtet gewesen, sich Kenntnis über die Inhalte der von ihm in Griechenland durchlaufenen Asylverfahren und der Entscheidungen der griechischen Behörden zu verschaffen, weil es ansonsten nicht ohne Weiteres vom Vorliegen eines Zweitantrags hätte ausgehen dürfen. Zu all diesen Ausführungen und Argumenten fand sich im Beschluss des Verwaltungsgerichts offenbar kein einziges Wort.
Vorliegen von Zweitanträgen weiter unklar
Wer erinnert sich noch an das EuGH-Urteil zu Zweitanträgen aus dem Dezember 2024? Der Gerichtshof hatte damals festgehalten, dass ein grenzüberschreitend gestellter Folgeantrag (also nach deutscher Diktion ein Zweitantrag, siehe § 71a AsylG) nur dann vorliegt, wenn der neue Antrag erst gestellt wird, nachdem das erste Asylverfahren endgültig abgeschlossen ist. Vielleicht war das EuGH-Urteil aber unklar und muss man die Kriterien für die Annahme eines solchen Folgeantrags noch präziser definieren, meint das Oberverwaltungsgericht Koblenz in seinem Urteil vom 23. Juni 2025 (Az. 13 A 11428/21.OVG), weil doch der Staat, in dem der neue Asylantrag gestellt wird, auch nach der Dublin-III-Verordnung zuständig sein muss, so dass ein neuer Asylantrag jedenfalls kein Folgeantrag (d.h. hier Zweitantrag) sein könne, solange die Dublin-Zuständigkeit nicht gewechselt habe. Diese Frage scheint umstritten zu sein und das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen, sich aber gegen ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof entschieden, weil beim Bundesverwaltungsgericht offenbar bereits zwei Revisionsverfahren (Az 1 C 9.25 und 1 C 7.25) zu der Frage anhängig sind, die darum dort zunächst prozessökonomischer beantwortet werden könnten.
Dass man das alles auch ganz anders sehen kann, zeigt das Oberverwaltungsgericht Schleswig, das in seinem Beschluss vom 26. August 2025 (Az. 6 LA 72/24) auf das Koblenzer Urteil aus dem Juni Bezug nimmt, es aber nicht nachvollziehen kann. Die Frage sei durch das EuGH-Urteil aus dem Dezember 2024 geklärt worden, dabei sei dem Gerichtshof die Besonderheit der Dublin-Zuständigkeit bewusst gewesen, auch wenn er sie nicht angesprochen habe. Warum das OVG Koblenz gleichwohl „Bedeutung und Reichweite“ der vom Gerichtshof getroffenen Aussage in Frage stelle, erschließe sich nicht, eine grundsätzliche Bedeutung habe die Frage jedenfalls nicht mehr.
Beschwert oder nicht beschwert?
Darf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge inhaltlich über einen Asylantrag entscheiden, wenn der Antragsteller schon in einem anderen EU-Staat als Flüchtling anerkannt wurde? Eigentlich geht das nicht und muss der Antrag als unzulässig abgelehnt werden (siehe § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausnahmsweise geht es aber schon, nämlich vor allem dann, wenn in dem anderen EU-Staat eine menschenrechtswidrige Behandlung droht und der in Deutschland gestellte Asylantrag aus diesem Grund nicht als unzulässig abgelehnt werden darf. Wenn das Verwaltungsgericht es allerdings anders sieht als das Bundesamt und meint, dass der Antrag als unzulässig hätte abgelehnt werden müssen, dann scheint es keine Einigkeit zu geben, ob nur die Aussagen im Bescheid zu den zielstaats-, d.h. herkunftsstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen, die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden müssen, oder ob der Bescheid insgesamt aufzuheben ist.
Letzteres meint etwa das Verwaltungsgericht Aachen in seinem Urteil vom 3. Juli 2025 (Az. 4 K 2551/23.A), das argumentiert, dass in dem klägerischen Antrag auf Verpflichtung des Bundesamts zur Anerkennung als „Minus“ ein Anfechtungsantrag enthalten sei: Die Ablehnung des Asylantrags als unbegründet nach inhaltlicher Prüfung sei gegenüber der eigentlich gebotenen Ablehnung als unzulässig mit der zusätzlichen Beschwer (d.h. negativen Folge) verbunden, dass jeder weitere Asylantrag als Folgeantrag anzusehen wäre. Das wiederum sieht das Verwaltungsgericht Köln in seinem Urteil vom 18. August 2025 (Az. 27 K 3863/22.A) genau anders herum: Ein Antragsteller werde durch die Ablehnung eines Antrags in der Sache statt der Ablehnung des Antrags als unzulässig nicht beschwert, insbesondere nicht deswegen, weil jeder weitere Asylantrag wegen der Ablehnung in der Sache als Folgeantrag eingestuft werden würde, weil eine materielle (d.h. inhaltliche) Prüfung des Asylantrags ja bereits stattgefunden habe.
Aus Sicht des Bundesamts mag die inhaltliche Entscheidung über einen in Deutschland gestellten Asylantrag nicht nur den Vorteil haben, dass weitere Asylanträge als Folgeanträge zu behandeln wären, sondern auch den Vorteil, dass im ablehnenden Bescheid die Abschiebung in den Herkunftsstaat angedroht werden kann, die, skurril genug, einfacher zu vollstrecken sein mag als die Abschiebung in den anderen EU-Staat. Ob die Flüchtlingsanerkennung im anderen EU-Staat einer solchen Praxis nicht entgegensteht, ist derzeit nicht ganz klar, bald aber vermutlich schon.
Lageberichte vielleicht bald ungeschwärzt
In zwei Urteilen vom 12. Juni 2025 (Az. 2 K 166/23 und 2 K 302/23) hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden, dass das Auswärtige Amt jedermann auf Antrag Zugang zu ungeschwärzten Fassungen seiner Lageberichte zu Nigeria und zum Iran gewähren muss. Ein solches Recht ergebe sich aus § 1 des Informationsfreiheitsgesetzes des Bundes (IFG). Soweit das Auswärtige Amt argumentiert habe, dass die Lageberichte Aussagen enthielten, deren Bekanntwerden nachteilige Auswirkungen haben könne, sei das nicht stichhaltig, weil die Lageberichte in Gerichtsverfahren keinen Verwendungsbeschränkungen unterlägen, Verwaltungsgerichte frei aus ihnen zitieren könnten und Beteiligte an asylgerichtlichen Verfahren schon über ihr Akteneinsichtsrecht Kenntnis von den ungeschwärzten Lageberichten erhalten könnten. An dieser Einschätzung ändere auch die Einstufung der Lageberichte als „Verschlusssache“ nichts: Einer Behörde stehe es nicht zu, durch Erklärung, dass ein an das Gericht gerichteter Schriftsatz als Verschlusssache einzustufen sei, die dem Gericht in Ausübung seiner Rechtsprechungsgewalt zustehende Verfügungsbefugnis über den Schriftsatz zu verkürzen.
Die Klagen wurden von Pro Asyl und FragDenStaat unterstützt; in einem Interview erläutern Rechtsanwältin Hannah Vos und Rechtsanwalt Andreas Eibelshäuser, wie es zu den Urteilen gekommen ist, welche Bedeutung sie haben und warum die Verfahren noch nicht beendet sind, sondern derzeit noch beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg liegen.
Menschenrechtswidrige Behandlung von Familien in Griechenland
Das Verwaltungsgericht München musste in seinem Beschluss vom 4. September 2025 (Az. M 22 S 25.32622) daran erinnern, dass Familien, zumal mit kleinen Kindern, die in Griechenland als Schutzberechtigte anerkannt sind, dort eine menschenrechtswidrige Behandlung droht. Angesichts der für Familien mit Kleinkindern zu beachtenden Maßstäbe und der Lebensbedingungen von Schutzberechtigten in Griechenland sei bei einer Rückkehr in das Land davon auszugehen, dass die in Betracht kommenden Unterkünfte nicht zumutbar seien und auch eine Deckung der Bedürfnisse der Familie durch eigenes Erwerbseinkommen nicht möglich sein werde. Insbesondere seien ständig wechselnde Schlafplätze in Notunterkünften, die zudem nur nachts aufgesucht werden könnten und tagsüber verlassen werden müssten, sowie prekäre hygienische Verhältnisse für kleine Kinder unzumutbar und erfüllten die Anforderungen an eine familien- und kindgerechte Unterbringung nicht.
Aus der Sicht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die im Beschluss zitiert wird, ist das doch alles gar nicht so schlimm in Griechenland: Die Kinder der Familie seien zwar im Kleinkindalter, jedoch bestünden keine schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Traumatisierungen. Spezifische Umstände, die eine besondere Schutzbedürftigkeit begründen würden, lägen nicht vor. Das ist alles seltsam undifferenziert.
Bundesregierung unterläuft gerichtliche Eilbeschlüsse
Die Bundesregierung versucht einem Medienbericht vom 6. September 2025 zufolge in diversen Verfahren afghanischer Staatsangehöriger mit deutscher Aufnahmezusage, trotz anderslautender gerichtlicher Eilbeschlüsse keine Visa zu erteilen. Stattdessen würden Aufnahmezusagen zurückgezogen und Aufnahmebescheide aufgehoben, weil die Bundesregierung die „Gefährdung neu einschätzen wolle“ oder keine Gefährdung mehr sehe.
Der Verein Kabul Luftbrücke wird in dem Medienbericht mit der Aussage zitiert, dass es sich nicht um Einzelfälle handele; vielmehr gehe man von einer Strategie der Bundesregierung aus, die eine Aufnahme trotz gerichtlicher Beschlüsse verhindern wolle. Das würde ich auch so sehen: Die 1970 vom Bundesverwaltungsgericht formulierte „Ehrenmanntheorie“, wonach man von öffentlich-rechtlichen Körperschaften angesichts ihrer verfassungsmäßig verankerten Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von Gerichtsurteilen auch ohne dahinterstehenden Vollstreckungsdruck erwarten könne, wird durch so etwas wie die „Schurkentheorie“ abgelöst, die eine Respektierung von Gerichtsurteilen selbst mit Vollstreckungsdruck nur unter bestimmten Umständen erwarten lässt.
Zahl der Asylklagen gestiegen
Medienberichten vom 8. September 2025 zufolge (siehe hier oder hier) sind bei den deutschen Verwaltungsgerichten im ersten Halbjahr 2025 76.646 neue Asylklagen anhängig gemacht worden. Das übersteige bereits die Gesamtzahl neuer Klagen im Jahr 2023 (71.885) und erreiche drei Viertel der im Vorjahr 2024 anhängig gemachten Klagen (100.494).
Die Zahlen wurden vom Deutschen Richterbund erhoben, der die gestiegene Zahl von Klagen damit begründet, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seine Asylverfahren inzwischen schneller abarbeite. Man fühlt sich zu der Ergänzung verleitet, dass die Zahl der Asyklagen vielleicht nicht so stark gestiegen wäre, wenn sich nicht nur die Geschwindigkeit der Arbeit des Bundesamts erhöht hätte, sondern auch die Qualität seiner Bescheide.
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