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Leistungsrechtliches Flankieren

Gemeinsam ist man stärker, und darum kooperiert der HRRF-Newsletter jetzt mit dem Projekt „UN-Sichtbar?“, in dem es darum geht, den asyl- und migrationsrechtlichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der einschlägigen UN-Ausschüsse eine stärkere Sichtbarkeit im deutschsprachigen Raum zu verschaffen. Bei der Entscheidungstätigkeit deutscher Gerichte geht es derweil um weitere Zweifel an Georgien als sicherem Herkunftsland, die Situation von Dublin-Rückkehrern in Polen und von international Schutzberechtigten in Griechenland, um Dublin-Leistungsausschlüsse und willkürliche sozialgerichtliche Kostenentscheidungen in Hessen sowie um verfassungswidrige Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein.

  • Georgien nicht mehr so sicher

    Im April 2025 war die 30. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf noch davon ausgegangen, dass einer weiteren Einstufung von Georgien als sicherer Herkunftsstaat keine verfassungsrechtlichen oder europarechtlichen Bedenken entgegenstehen, nun meint sie das offenbar nicht mehr. In einem vermutlich irgendwann im August 2025 gefassten Beschluss (Az. 30 K 3228/25.A) bezieht sie sich auf den neuen Lagebericht des Auswärtigen Amts aus dem Juni 2025 und meint, dass die seinerzeit (nämlich Ende 2023) „von guten Gründen geleitete“ Entscheidung des Gesetzgebers, Georgien zum sicheren Herkunftsstaat zu erklären, nunmehr unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse des Auswärtigen Amts nicht mehr in vertretbarer Weise fortgelten könne.

    Das Verwaltungsgericht geht in seiner Argumentation für die inzwischen fehlende Sicherheit Georgiens interessanterweise weder explizit auf die Verfolgung von LSBTIQ*-Personen noch auf die abtrünnigen Landesteile Südossetien und Abchasien ein, sondern benennt lediglich Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

  • Keine Gefahr für Dublin-Rückkehrer in Polen

    Die kürzlich eingeführten Verschärfungen im polnischen Asylrecht zielen darauf, so das Verwaltungsgericht Ansbach in seinem Urteil vom 4. September 2025 (Az. AN 1 K 24.50807), dass Personen, die unerlaubt über die polnisch-belarussische Grenze nach Polen eingereist sind, nur noch in Ausnahmefällen Asyl in Polen beantragen können sollen. Sie beträfen damit aber Dublin-Rückkehrer nicht, weil diese nicht unerlaubt über die polnisch-belarussische Grenze nach Polen überstellt werden sollen, sondern, im Rahmen einer von den polnischen Behörden konsentierten Überstellung, über die deutsch-polnische Grenze. Es sei darum nicht ersichtlich, dass das polnische Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen systemische Schwachstellen aufwiesen, die für Dublin-Rückkehrer die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK mit sich brächten.

    Das Verfahren betraf eine belarussische Staatsangehörige, die im Besitz eines polnisches Visums war. Insofern ist das Urteil gerade nicht geeignet, die jüngst wieder gerügten Defizite im polnischen Asylsystem zu entkräften.

  • Unklare Lage bei Unterkünften und Notschlafstellen in Griechenland

    Der 12. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg erscheint in ihrem Beschluss vom 26. September 2025 (Az. 12 A 7005/26) die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem April 2025 zur Situation international Schutzberechtigter in Griechenland nach wie vor „nicht haltbar“, und zwar zu dem Aspekt, ob und ggf. in welchem Umfang in Griechenland für international Schutzberechtigte Unterkünfte oder Notschlafstellen verfügbar sind, die von kommunalen Trägern oder nichtstaatlichen Hilfsorganisationen betrieben werden: Zum einen scheine die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts teilweise auf offensichtlich unrichtigen tatsächlichen Feststellungen zu beruhen, zum anderen würden die Berichte von Nichtregierungsorganisationen zwar angesprochen, in der Folge jedoch nicht weiter berücksichtigt. Die Kammer will darum eine amtliche Auskunft des Auswärtigen Amts einholen, die die Unterbringungssituation von Schutzberechtigten in Griechenland klären soll; eine umfangreiche Fragenliste ist Teil des Beschlusses.

    In dem Verfahren geht es um ein in Griechenland als schutzberechtigt anerkanntes kinderloses Ehepaar; für Ehepaare haben auch andere Verwaltungsgerichte Zweifel, ob sie von den Griechenland-Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts erfasst werden oder nicht. Bei Ehepaaren ist Frage der Verfügbarkeit „regulärer“ Unterkünfte in Griechenland insofern relevant, als sie anders als alleinstehende, nicht vulnerable Männer nicht auch auf informell vermietete Wohnungen, behelfsmäßige Unterkünfte, staatlich geduldete informelle Siedlungen oder sonstige einfachste Camps verwiesen werden können.

  • Keine Dublin-Leistungsausschlüsse in Hessen

    In seinem Beschluss vom 1. Oktober 2025 (Az. L 4 AY 5/25 B ER) geht das Landessozialgericht Darmstadt davon aus, dass die Anwendung des Leistungsausschlusses in Dublin-Fällen gemäß § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG nach derzeitiger Rechtslage eigentlich immer rechtswidrig ist. Im entschiedenen Verfahren habe es bereits an der erforderlichen gesonderten Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gefehlt, weil der im Bescheid des Bundesamts enthaltene bloße Hinweis, dass der Anwendungsbereich des Leistungsausschlusses eröffnet sei, nicht genügen dürfte. Zudem sei der Verweis auf die in § 1 Abs. 4 AsylbLG vorausgesetzte Ausreisemöglichkeit so auszulegen, dass eine Möglichkeit zur freiwilligen selbstinitiierten Ausreise vorhanden sein müsse, was aber im Rahmen des Dublin-Verfahrens in der Regel eben nicht der Fall sei. Nach der gegenwärtig noch geltenden Fassung der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit der Dublin-III-VO seien in Dublin-Verfahren außerdem weder eine Leistungseinschränkung noch ein Leistungsausschluss vorgesehen und müsse der Aufenthaltsstaat die in der Aufnahme-Richtlinie vorgesehenen Leistungen nach Auffassung des Bundessozialgerichts und des Europäischen Gerichtshofs zeitlich bis zur tatsächlichen Überstellung der Betroffenen erbringen. Die bereits beschlossene Neufassung der Aufnahme-RL durch die RL 2024/1346/EU könne für die Auslegung des deutschen Rechts derzeit keine Vorwirkungen zu Lasten der Betroffenen entfalten.

    Mit dieser Entscheidung hat sich ein weiteres Landessozialgericht den sehr zahlreichen Stimmen angeschlossen, die § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG für im Ergebnis europarechts- und verfassungswidrig halten. Der Beschluss ist auch deshalb lesenwert, weil er die, mit Verlaub, hanebüchene (und erfolglose) Argumentation der beklagten Leistungsbehörde ausführlich wiedergibt: Da wird etwa allen Ernstes vorgetragen, dass das „bereits jetzt schlecht funktionierende“ Dublin-System „in sich zusammenfallen“ würde, wenn die Vorschrift des § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG nicht existieren würde, und dass es beim darin geregelten Leistungsausschluss um das konkrete „leistungsrechtliche Flankieren“ einer auf die Dublin-III-Verordnung gestützten Ausreisepflicht gehe, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei.

  • Noch eine willkürliche Kostenentscheidung des Sozialgerichts Darmstadt

    In seinem Beschluss vom 20. August 2025 (Az. 1 BvR 673/25) hat das Bundesverfassungsgericht schon wieder eine Kostenentscheidung des Sozialgerichts Darmstadt wegen eines Verstoßes gegen das Willkürverbot aufgehoben. Das Sozialgericht habe eine Kostenerstattung nach Erledigung der Hauptsache abgelehnt, weil die Klägerin und Beschwerdeführerin gleichzeitig mehrere Gerichtsverfahren gegen den beklagten Landkreis geführt habe. Diese Erwägung des Sozialgerichts sei objektiv nicht nachvollziehbar.

    Es handelt sich offensichtlich um eine Parallelentscheidung zu dem sehr ähnlichen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem April 2025, auf den das Gericht jetzt auch verweist.

  • Verfassungswidrige mehrwöchige einstweilige Haftanordnung

    In seinem lesenswerten Beschluss vom 1. August 2025 (Az. 2 BvR 288/22) klärt das Bundesverfassungsgericht gleich mehrere bei der Anordnung von Abschiebungshaft zu beachtende Details, wenn man als Haftgericht vermeiden will, dass der eigene Haftbeschluss als verfassungswidrig aufgehoben wird. In dem Verfahren hatte das Amtsgericht Itzehoe Ende 2021 Abschiebungshaft für einen Zeitraum von fast sechs Wochen angeordnet, und hatte das Landgericht Itzehoe diese Anordnung Anfang 2022 für rechtmäßig gehalten, obwohl der Betroffene einen Rechtsanwalt hatte, der an der Haftanhörung aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen konnte. Das Amtsgericht hatte die Haft im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 427 FamFG) angeordnet und dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt (§ 276 FamFG), bei dem es sich um einen Rechtsanwalt gehandelt hatte, den eigentlichen Rechtsanwalt des Betroffenen hatte es nach Erlass der einstweiligen Anordnung aber nicht weiter am Verfahren beteiligt. Das Bundesverfassungsgericht nahm einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) an. Wenn ein Rechtsanwalt als Verfahrensbevollmächtigter nicht an der Anhörung teilnehmen könne, dann dürfe Haft zwar einstweilig angeordnet werden, aber nur für wenige Tage bis zur Durchführung einer weiteren Anhörung im Beisein des Rechtsbeistands. Die Bestellung eines Verfahrenspflegers ändere in dem Verfahren nichts an dem Grundrechtsverstoß, weil Verfahrenspfleger eine Form von Unterstützung leisteten, die sich grundlegend von der Unterstützung durch einen Rechtsbeistand unterschieden.

    Wer sich übrigens wie ich fragt, warum in dem Verfahren nicht auch der Bundesgerichtshof als Rechtsbeschwerdeinstanz involviert war, der möge in § 70 Abs. 4 FamFG nachschlagen. Da ist nämlich geregelt, dass es bei einstweiligen Anordnungen keine Rechtsbeschwerde gibt.

  • In eigener Sache: Kooperation mit dem Projekt „UN-Sichtbar?“

    Aufmerksamen Leserinnen und Lesern dürfte nicht entgangen sein, dass der HRRF-Newsletter nur gelegentlich über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berichtet, und selten genug über Entscheidungen von UN-Fachausschüssen.

    Damit das perspektivisch besser wird, freue ich mich sehr über die hier und heute anzukündigende Kooperation des HRRF-Newsletters mit dem Projekt „UN-Sichtbar?“, das sich zum Ziel gesetzt hat, genau dieses Problem der mangelnden Sichtbarkeit solcher menschenrechtlich basierten Entscheidungen anzugehen. Im Rahmen dieser Kooperation öffnet sich der HRRF-Newsletter ab Anfang 2026 für die im Projekt erarbeiteten Entscheidungsanmerkungen und -zusammenfassungen, was eine klassische Win-Win-Situation darstellt 🥳.

    Wer so lange nicht warten will, der soll bitte am 12. November 2025 die Kick-Off-Veranstaltung des Projekts in Berlin besuchen. Da wird nicht nur der Start des Projekts gefeiert, sondern es gibt auch noch spannende Vorträge von tollen Referentinnen und Referenten!

  • Links zur GEAS-Reform

    Auch wenn die gedruckte Textausgabe zur GEAS-Reform 2024 natürlich unverzichtbar ist, gibt es doch auch Online-Quellen, die für die tägliche Arbeit mit der Reform und mit den Rechtstexten wichtig sind. Hier werden die wichtigsten Links gesammelt. Beschlossene EU-Rechtsakte Die folgenden…

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind noch nicht mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem…

  • Monatsübersicht Mai 2025

    Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:

ISSN 2943-2871