Ein allgemeiner Erfahrungssatz besagt, dass man zu jeder migrationsrechtlichen Frage Entscheidungen von mindestens zwei Gerichten finden kann, in denen zu dieser Frage gegensätzliche Rechtsauffassungen vertreten werden. Das Verwaltungsgericht Berlin probiert in dieser Woche aus, ob man das nicht auch innerhalb des Gerichts hinkriegt: Die 37. Kammer des Gerichts meint aktuell, dass afghanische Staatsangehörige mit einer Aufnahmezusage aus Deutschland ihr Einreisevisum von Pakistan aus einklagen können und müssen, während die 8. Kammer das Anfang Juli noch genau andersherum beurteilt und das Auswärtige Amt im Eilverfahren zur Erteilung von Einreisevisa verpflichtet hatte. Ansonsten geht es in dieser Woche auch um den Widerruf von Afghanistan-Aufnahmezusagen, um systematische Mängel und Menschenrechtsverletzungen in Belgien, Griechenland und Ungarn, um die Lage in Georgien, um die Verlängerung von Dublin-Überstellungsfristen und um die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis trotz Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet.
Immer noch systemische Mängel in Belgien
Der niederländische Staatsrat (Raad van State) hat am 23. Juli 2025 entschieden (Az. 202404274/1/V3), dass alleinstehende männliche Asylbewerber nicht mehr aus den Niederlanden nach Belgien überstellt werden dürfen, weil die belgischen Behörden bei der Aufnahme und beim Rechtsschutz für diese Gruppe von Schutzsuchenden systematisch versagt haben. Der Mangel an Aufnahmeplätzen für alleinstehende männliche Asylbewerber in Belgien sei nicht mehr nur vorübergehend, sondern strukturell. Außerdem hätten alleinstehende Männer keinen Zugang zu einem wirksamen Rechtsschutz, da die belgischen Behörden Gerichtsentscheidungen nicht befolgten und Zwangsgelder nicht zahlten. Die Gleichgültigkeit der belgischen Behörden, diese Mängel bei der Aufnahme von Schutzsuchenden und beim Rechtsschutz zu beheben, lasse den Schluss zu, dass es in Belgien für diese Gruppe von Asylbewerbern systematische Mängel gebe, die dazu führten, dass die Betroffenen nach ihrer Rückkehr nach Belgien ihre grundlegendsten Lebensbedürfnisse nicht mehr erfüllen könnten. Dies verstoße gegen die Menschenrechte.
Der Staatsrat hat zu seiner Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht, und die deutsche Rechtsprechung sieht das übrigens genauso.
Die belgische Migrationsministerin wurde in einer Reaktion auf die niederländische Gerichtsentscheidung mit der Aussage zitiert, dass die Defizite im belgischen Asylsystem nicht in einer Achtlosigkeit der Behörden begründet seien, sondern in einer „jahrelangen strukturellen Überforderung“. Ist schon klar, da kann der Staat auch nichts machen, und schon gar keine Abhilfe schaffen, wenn die Realität nicht den Vorstellungen und Wünschen der Politik entspricht.
Keine Überstellung nach Griechenland bei Vulnerabilität
In Griechenland international Schutzberechtigten droht dort eine menschenrechtswidrige Behandlung, wenn die Schutzberechtigten vulnerabel sind, weswegen in Deutschland gestellte Asylanträge dann nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen, sagt das Verwaltungsgericht Trier in seinem Urteil vom 16. Juli 2025 (Az. 8 K 4407/24.TR). Grundlage für die Annahme, dass bestimmten international Schutzberechtigten in Griechenland keine erniedrigenden oder unmenschlichen Lebensbedingungen drohten, sei die Überlegung, dass hinreichend junge, gesunde, arbeitsfähige, körperlich belastbare und mit hinreichender Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative ausgestattete Männer erwerbsfähig und erforderlichenfalls auch zur Übernahme anstrengender körperlicher Arbeiten imstande seien. Dies gelte aber nicht, wenn Betroffene auf Grund einer Erkrankung nicht zu dieser Personengruppe gehörten.
Es wird in der Diskussion um die aktuelle Griechenland-Rechtsprechung häufig übersehen, dass sie sich nur auf nicht-vulnerable Personen bezieht, so dass sie im Falle von Erkrankungen schon nicht mehr einschlägig sein kann. Im entschiedenen Verfahren hatte der Betroffene vorgetragen, seit einer im Jahr 2013 zugezogenen Beinverletzung Schmerzen zu haben und nicht lange sitzen und laufen zu können. Außerdem habe er in Griechenland keine ärztliche Versorgung erhalten.
Schon wieder menschenrechtswidrige Kollektivausweisungen in Ungarn
In seinem Urteil vom 24. Juni 2025 (Az. 46084/21, 40185/22 und 53952/22, H.Q. u.a. gg. Ungarn) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ungarn wegen Menschenrechtsverletzungen beim Umgang mit Schutzsuchenden seit 2022 verurteilt. Ungarn habe in drei Fällen Schutzsuchende ohne inhaltliche Prüfung ihrer individuellen Umstände nach Serbien abgeschoben, was einen Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern (Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK) und in Verbindung damit einen Verstoß gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) in Bezug auf die drei Beschwerdeführer darstelle. Bei zwei der drei Beschwerdeführer habe die Abschiebung nach Serbien außerdem einen Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen Aspekt des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) dargestellt, weil die ungarischen Behörden keine Beweise für ihre Annahme vorgelegt hätten, dass es sich bei Serbien um einen sicheren Drittstaat handele, in dem Betroffene tatsächlich Zugang zu einem fairen Asylverfahren erhielten. Die einzige legale Einreisemöglichkeit für Personen, die in Ungarn um internationalen Schutz nachsuchten, das sogenannte „Botschaftsverfahren“, sei außerdem nicht klar geregelt und biete keine ausreichenden Garantien.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil (Rn. 163f.) in ungewöhnlich deutlicher Weise hervorgehoben, dass Ungarn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) seit Jahren missachtet und in der Folge zehntausende (tens of thousands) Schutzsuchende aus Ungarn abgeschoben wurden, allein mehr als 150.000 Schutzsuchende im Jahr 2022. Während die Rechtslage in Ungarn sich seit 2020 geändert hätte, gebe es das mit der EMRK nicht vereinbare System von Kollektivausweisungen und Verhinderung eines Zugangs zum Asylverfahren in der Sache immer noch. Die ungarischen Behörden müssten sofortige und angemessene Maßnahmen ergreifen, um weitere Fälle von Kollektivausweisungen zu verhindern und um einen echten und effektiven Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten.
Fortdauernde Flucht bei sporadischer Anwesenheit
Fortdauernde Flucht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ist auch dann anzunehmen, wenn eine Dublin-Überstellung zumindest zeitweise tatsächlich nicht durchgeführt werden kann, weil sich der Antragsteller nur sporadisch und unangemeldet in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhält und der zuständigen Behörde sein tatsächlicher Aufenthaltsort im Übrigen unbekannt ist, meint das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 16. Juli 2025 (Az. 29 L 1924/25.A). Auch in einem solchen Fall sei die Überstellung des Ausländers faktisch unmöglich, da es vom Zufall abhänge, ob die zuständige Ausländerbehörde ihn antreffe oder nicht.
Die Konsequenz einer „Flucht“ im Kontext von Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ist die Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist auf achtzehn Monate. Das Verwaltungsgericht geht etwas zu weit, weil Betroffene gerade nicht dazu verpflichtet sind, sich kontinuierlich für eine Abschiebung bereitzuhalten, und natürlich hängt es vom Zufall ab, ob die Behörde den Betroffenen antrifft, weil es sich nicht um eine Inhaftierung handelt. In dem Verfahren hat das Verwaltungsgericht offenbar vom Ergebnis her argumentiert, weil ein „Bewegungsprotokoll“ des Betroffenen über einen längeren Zeitraum erstellt wurde, aus dem seine häufige Abwesenheit hervorging. Rechtsgrundlage für solche Bewegungsprotokolle soll anscheinend § 86 AufenthG sein.
Immer noch erhebliche Zweifel an Georgien als sicherer Herkunftsstaat
Das Verwaltungsgericht Karlsruhe äußert in seinem Beschluss vom 17. Juli 2025 (Az. A 18 K 4138/25) erhebliche Zweifel daran, dass die Einstufung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat mit EU-Recht vereinbar ist. Es spreche viel dafür, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Einstufung Georgiens von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen sei, weil das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Oktober 2024 (Rs. C-406/22) ohne Weiteres auch auf Georgien anwendbar sei.
Die meisten der mit Georgien befassten Verwaltungsgerichte gehen wohl inzwischen davon aus, dass Georgien nicht als sicherer Herkunftsstaat anzusehen ist, mit Ausnahme nur des Verwaltungsgerichts Düsseldorf.
Neues von den Afghanistan-Aufnahmezusagen
Einige Bewegung gibt es bei der Umsetzung der Pläne der Bundesregierung, das Aufnahmeprogramm für afghanische Staatsangehörige zu beenden und bereits erteilte Aufnahmezusagen zu widerrufen oder wenigstens keine weiteren Visa zu erteilen. Nachdem die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin die Bundesregierung Anfang Juli in einem Eilverfahren verpflichtet hatte, Visa zur Einreise nach Deutschland an afghanische Staatsangehörige zu erteilen, denen eine Aufnahmezusage gegeben wurde, sieht die 37. Kammer des Verwaltungsgerichts dies in ihrem Beschluss vom 15. Juli 2025 (Az. 37 K 158/25 V) anders und gewährt keinen Eilrechtsschutz. Ein Ausländer habe das Visumsverfahren einschließlich eines sich gegebenenfalls anschließenden Klageverfahrens grundsätzlich vom Ausland aus zu betreiben. Den hier Betroffenen sei zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens in Pakistan abzuwarten, sie hätten nicht glaubhaft gemacht, dass ihnen konkret und zeitnah die Abschiebung nach Afghanistan drohe. In dem Verfahren vor der 8. Kammer des Gerichts, in dem die Bundesregierung zur Erteilung von Visa verpflichtet worden war, hat die Bundesregierung übrigens zwischenzeitlich Beschwerde vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt.
Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts hat Anfang Juli in einem fast identisch gelagerten Verfahren Eilrechtsschutz gewährt, weil sie die Aussagen der Betroffenen zur Gefahr einer Abschiebung von Pakistan nach Afghanistan für glaubhaft hielt. Die 37. Kammer meint dagegen, dass keine solche Gefahr besteht, weil die Betroffenen in einem Gästehaus der Bundesregierung in Pakistan unterbracht seien und somit dem Schutz der Bundesrepublik unterstünden. Sie würden mit „Schutzbriefen“ ausgestattet und es existiere eine „Notfallkette“, mit der den Betroffenen geholfen würde, sollte es dennoch zu einer Verhaftung oder zum Versuch der Abschiebung durch pakistanische Behörden kommen.
Afghanistan-Aufnahmezusagen dürfen (manchmal) widerrufen werden
Nach Bekanntwerden eines Ausschlussgrundes in einer Sicherheitsbefragung darf die einem afghanischen Staatsangehörigen gegenüber abgegebene Aufnahmezusage widerrufen werden, wenn ein solcher Widerruf in der Aufnahmezusage vorbehalten war, sagt der Verwaltungsgerichtshof München in zwei Beschlüssen vom 27. Juni 2025 (Az. 19 CE 25.965 und 19 CE 25.966). In den Aufnahmeanordnungen seien Ausschlussgründe geregelt, bei deren Vorliegen der Ausschluss aus dem begünstigten Personenkreis aufgrund einer Ermessensentscheidung der Antragsgegnerin erfolgen dürfe. Auch aus den von den Antragstellern zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsbindung auswärtigen Handelns der Bundesregierung folge nichts anderes, weil aufgrund des weiten außenpolitischen Ermessens der Bundesregierung eine Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht in Fällen mit Auslandsbezug nur festgestellt werden könne, wenn das zuständige Organ gänzlich untätig geblieben sei oder die getroffenen Maßnahmen offensichtlich völlig ungeeignet oder unzulänglich seien, was hier nicht ersichtlich sei. Die Antragsteller hätten falsche Angaben zu ihrem Wehrdienst in der afghanischen Armee in den Jahren 1982 bis 1984 gemacht (Verfahren 19 CE 25.965) bzw. Haftstrafen für außerehelichen Sexualverkehr gefordert (Verfahren 19 CE 25.966).
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Juli 2025 (Az. 2 BvR 508/21) zum Ausmaß und den Grenzen einer grundrechtlichen Schutzpflicht der Bundesrepublik in Sachverhalten mit Auslandsbezug war im Zeitpunkt der Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs leider noch nicht ergangen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil festgehalten, dass eine grundrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik in Sachverhalten mit Auslandsbezug möglich ist, wenn ein hinreichender Bezug zur Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland vorliegt und eine ernsthafte Gefahr der systematischen Verletzung des anwendbaren Völkerrechts besteht. Demgegenüber hat der Verwaltungsgerichtshof nur festgestellt, dass die Bundesrepublik bereits im Rahmen verschiedener Aufnahmeprogramme einen erheblichen internationalen Beitrag zur Aufnahme von Personengruppen leiste, welche durch das Talibanregime in Afghanistan bedroht seien.
Keine Titelerteilungssperre bei Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis
In einer Pressemitteilung vom 24. Juli 2025 berichtet das Bundesverwaltungsgericht über sein noch nicht im Volltext vorliegendes Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 2.24), in dem es entschieden hat, dass § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG nach einem als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylantrag lediglich die Neuerteilung, nicht aber die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis sperrt. Einem Verlängerungsbegehren könne vielmehr im Einklang mit der speziellen Vorschrift des § 10 Abs. 2 AufenthG trotz eines Asylantrags des Ausländers entsprochen werden. Das gelte nicht nur während des Asylverfahrens, sondern auch nach einer bestandskräftigen Ablehnung des Asylantrags, wie sich aus einer Auslegung der genannten Normen insbesondere nach dem ihnen zugrundeliegenden Sinn und Zweck ergebe.
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Die Rechtsprechung im Asyl- und Migrationsrecht wird gefühlt auch jede Woche politischer. Das liegt wohl weniger an den Gerichten als vielmehr an der neuen Bundesregierung, die mit juristisch zweifelhaftem Aktionismus aufwartet und aufwarten lässt. In dieser Woche geht es dementsprechend um Zurückweisungen, die vielleicht gar keine…
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Fiktiver Aufenthalt
Was tut die italienische Regierung mit einem leerstehenden Migrationszentrum in Albanien, in dem sie keine Schutzsuchenden unterbringen (d.h. inhaftieren) kann, weil die italienischen Gerichte Einwände haben? Sie widmet das Zentrum einfach in eine Abschiebungshaftanstalt um. Ärgerlich nur aus Sicht der Regierung, dass die italienischen Gerichte schon…
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Restriktivere Handhabung
Mal wieder eine Dublin-Woche im HRRF-Newsletter, in der darum geht, ob die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils einem neuen Dublin-Bescheid im Wege steht (ja), ob Dublin-Überstellungsfristen durch gerichtlichen Eilrechtsschutz unterbrochen werden (man ist sich nicht einig) und ob Schutzberechtigten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen (man ist sich ebenfalls…