Viel aufenthaltsrechtliche Rechtsprechung in dieser Woche, darunter zweimal zu vorübergehendem Schutz, und zum Visumverfahren als möglicherweise bloßer Förmelei. Außerdem geht es mal wieder um Zurückweisungen an den deutschen Grenzen, um Abschiebungen nach Tadschikistan und um die Fortgeltung von Aufenthaltsgestattungen gerade auch dann, wenn die Dublin-Unzuständigkeit Deutschlands bereits feststeht.
Einstweilen kein Hauptsacheverfahren zu Zurückweisungen
Die FAZ berichtet am 12. September 2025 (Paywall), dass von den drei Verfahren, in denen das Verwaltungsgericht Berlin Anfang Juni dieses Jahres Zurückweisungen an der deutsch-polnischen Grenze mit Eilbeschlüssen gestoppt hatte, noch ein Verfahren anhängig ist. Die Bundesregierung soll mit einer Erledigung (auch) dieses Verfahrens einverstanden sein, die Klägerin sich noch nicht geäußert haben. Zwei weitere Verfahren sollen beim Verwaltungsgericht Karlsruhe anhängig sein, ein weiteres Verfahren beim Verwaltungsgericht Köln.
In dem FAZ-Bericht geht es etwas unübersichtlich zu: Offenbar hat das Verwaltungsgericht die Parteien gefragt, ob sich der Rechtsstreit nicht mittlerweile erledigt habe, mutmaßlich weil der Klageantrag, die Einreise nach Deutschland zu gestatten, durch das Eilverfahren vorweggenommen wurde. Dass die Bundesregierung dem trotz der vollmundigen Ankündigungen des Bundesinnenministers zugestimmt hat, das Vorliegen der „europarechtlichen Notlage“ in den Hauptsacheverfahren besser zu argumentieren, könnte ganz einfach daran liegen, dass sie sich (zu Recht) keine Erfolgsaussichten ausrechnet und das Verfahren gerne ohne viel Aufsehen beerdigen möchte. Und nein, lieber Reinhard Müller von der FAZ (Paywall), das Recht folgt nicht „letztlich der Realität“, sondern es ist genau andersherum, jedenfalls in einem Rechtsstaat, den auch Sie hoffentlich nicht beseitigen wollen.
Nochmal: Fortbestehen der Aufenthaltsgestattung trotz Dublin-Unzuständigkeit
Im Mai 2025 wurde hier über ein Urteil des Verwaltungsgerichtshofs München berichtet, wonach eine Aufenthaltsgestattung auch im Dublin-Überstellungsverfahren erst mit der tatsächlichen Überstellung erlischt, und nicht etwa schon mit dem Erlass einer Abschiebungsanordnung. Dieses Urteil, und einige Parallelurteile des Verwaltungsgerichtshofs, sind mittlerweile offenbar rechtskräftig geworden.
Der Bayerische Flüchtlingsrat erklärt auf seiner Website, was das bedeutet und warum man auf eine Aufenthaltsgestattung klagen sollte.
Vorübergehender Schutz auch bei doppelter Staatsangehörigkeit?
Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hält es in seinem Beschluss vom 4. August 2025 (Az. 11 S 1908/24) für eine offene Frage, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG auch dann möglich ist, wenn ein ukrainischer Staatsangehöriger außerdem die Staatsangehörigkeit eines weiteren Drittstaats besitzt. Für ein Verständnis, dass ein ukrainischer Staatsangehörigere nicht dem Schutz nach der Richtlinie über vorübergehenden Schutz unterfällt, wenn er eine weitere Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitze, könne insbesondere die Intention der Richtlinie sprechen. Sie ziele auf den Schutz von Personen ab, die nicht in ihrem Herkunftsstaat Ukraine bleiben bzw. dorthin zurückkehren könnten. Stehe aufgrund von Mehrstaatigkeit ein weiterer Drittstaat zur Verfügung, in den der Betreffende zurückkehren und verbleiben könne, spreche dies gegen ein Schutzbedürfnis.
Der Wortlaut des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes enthält, worauf der Verwaltungsgerichtshof auch hinweist, keine Einschränkung dahingehend, dass sich ein ukrainischer Staatsangehöriger nicht auf den Beschluss berufen könnte, wenn er über eine weitere Staatsangehörigkeit eines Drittstaats verfügt.
Endgültiger Verzicht auf vorübergehenden Schutz möglich?
Der Verwaltungsgerichtshof München meint in seinem Beschluss vom 28. August 2025 (Az. 19 ZB 25.898), dass ein Verzicht auf den nach der EU-Richtlinie über vorübergehenden Schutz gewährten Schutz möglich ist und dass mit einem solchen Verzicht ein Recht auf Weiterwanderung innerhalb der EU erlischt. In dem Verfahren hatte ein ukrainischer Staatsangehöriger offenbar auf seinen in der Tschechischen Republik gewährten vorübergehenden Schutz verzichtet, um einem in Norwegen gestellten Asylantrag höhere Erfolgsaussichten zu verschaffen, und hatte nach der späteren Rücknahme dieses Asylantrags wohl erneut einen Antrag auf Gewährung vorübergehenden Schutzes gestellt, nämlich in Deutschland. Diesen Antrag hatte das Verwaltungsgericht Regensburg, dessen Entscheidung leider nicht im Volltext vorliegt, wohl für rechtsmissbräuchlich gehalten und eine Klage des Betroffenen aus diesem Grund abgewiesen: Mit dem Sinn und Zweck der Richtlinie über vorübergehenden Schutz und den darauf basierenden nationalen Regelungen sei es nicht vereinbar, wenn sich Schutzsuchende unter freiwilliger Aufgabe des durch einen Mitgliedstaat gewährten Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat erneut um Schutz bemühten, um dort potentiell bessere Zukunftschancen zu erlangen.
Dass man auf einen Aufenthaltstitel verzichten kann, ist vermutlich noch nicht so spektakulär. Die spannende Frage ist doch vielmehr, ob man später einen erneuten Antrag auf vorübergehenden Schutz stellen kann, oder ob dem der vorherige Verzicht entgegenstehen würde. Der Verwaltungsgerichtshof wollte die Frage nicht beantworten, weil sie vom Kläger in seinem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil nicht (audrücklich genug) thematisiert worden sei.
Unerlaubte Einreise als nur geringfügiger Verstoß
Besondere Umstände können in ihrer Zusammenschau im Einzelfall die Annahme rechtfertigen, dass eine unerlaubte Einreise im Sinne von §§ 14 Abs. 1 Nr. 12, 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG als geringfügig zu bewerten ist, so dass kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG besteht, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 11. August 2025 (Az. 2 M 64/25). Zwar stellten auch die vorsätzliche unerlaubte Einreise nach Deutschland oder der unerlaubte Aufenthalt im Bundesgebiet regelmäßig einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG dar, es könne aber unter engen Voraussetzungen Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß als geringfügig zu bewerten sei. Dies sei im entschiedenen Verfahren der Fall, unter anderem weil der Antragsteller nur wenige Tage nach seiner Einreise die erforderliche Aufenthaltserlaubnis beantragt habe, sich zuvor bereits mehrere Jahre mit dem erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten habe und eine Beschäftigung als Fachkraft ausgeübt habe.
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist eine Lektüre wert, nicht so sehr nur im Hinblick auf die Ausführungen zur Geringfügigkeit des Verstoßes gegen Rechtsvorschriften, sondern auch deswegen, weil es in dem Verfahren auch um die Verpflichtung zur Nachholung des Visumverfahrens ging und das Oberverwaltungsgericht die Frage aufgeworfen hat, ob das nicht vielleicht eine „bloße Förmelei“ sei, und ob es nicht vielleicht einen Weg gibt, das Visumverfahren nicht nachholen zu müssen.
Gute deutsche Behördenkontakte nach Tadschikistan
Das Verwaltungsgericht Münster informiert in einer Pressemitteilung vom 27. August 2025 über sein Urteil vom selben Tag (Az. 10 K 3075/24.A), in dem es den Widerruf von Abschiebungsverboten für ein tadschikisches IS-Mitglied für rechtmäßig gehalten hat, und in einer weiteren Pressemitteilung vom 1. September 2025 über seinen Beschluss vom selben Tag, in dem es die aufschiebende Wirkung der Klage des Betroffenen gegen eine Abschiebungsandrohung beseitigt hat (Az. 8 L 969/25). Das zentrale Argument bei der gerichtlichen Bestätigung des Widerrufs der Abschiebungsverbote war eine diplomatische Zusicherung Tadschikistans, dem Betroffenen jedenfalls ein rechtsstaatliches Verfahren unter Einhaltung prozessualer Standards zu garantieren und ihn nicht zu foltern. Es lägen keine Erkenntnisse vor, so das Verwaltungsgericht, dass sich die tadschikischen Behörden in der jüngeren Vergangenheit nicht an Zusicherungen gehalten hätten. Bereits das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen habe in seinem Beschluss vom 3. Juni 2025 (Az. 12a L 836/25.A) festgestellt, dass tadschikische diplomatische Zusicherungen die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlungen ausräumten, diesen Ausführungen schließe sich das Gericht an.
Das Verwaltungsgericht Münster betont und lobt (Rn. 136ff. des Urteils) die guten Arbeitsbeziehungen deutscher Behörden, insbesondere des Bundesinnenministeriums und des Auswärtigen Amts, mit tadschikischen Behörden, die Anfragen aus Deutschland „stets und zunehmend schnell“ beantworten würden. Das müsste eigentlich auch für das Verwaltungsgericht Düsseldorf interessant sein, das Ende August über die Asylklage des tadschikischen Oppositionellen Dilmurod Ergashev mündlich verhandelt hat. Ergashev war im November 2024 aus Nordrhein-Westfalen nach Tadschikistan abgeschoben worden, wurde dort sofort nach seiner Rückkehr inhaftiert und ist mittlerweile zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte es vor der Abschiebung Ergashevs abgelehnt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen, weil eine Verfolgung in Tadschikistan nicht wahrscheinlich genug erschien. Etwaige noch verbleibende Zweifel am Verfolgungsschicksal von Ergashev müssten sich mit den guten deutschen Behördenkontakten nach Tadschikistan ja schnell beseitigen lassen.
Neue EUAA-Rechtsprechungsübersichten veröffentlicht
Die Europäische Asylagentur (EUAA) hat Ausgabe 3/2025 ihres vierteljährlichen, thematisch gegliederten Updates zur Asylrechtsprechung in der Europäischen Union veröffentlicht, das auf 45 Seiten den Zeitraum Juni bis August 2025 abdeckt. Außerdem hat die EUAA gerade eine Rechtsprechungsübersicht zu LGBTIQ-Schutzsuchenden (29 Seiten) veröffentlicht sowie im Juni 205 eine Rechtsprechungsübersicht zu Dublin-Verfahren (37 Seiten).
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Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:
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