Auch wenn es in dieser Woche um auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakuläre Gerichtsentscheidungen geht, sind doch jedenfalls die Beschlüsse des Amtsgerichts Pasewalk von Ende Juli und Anfang August diesen Jahres (siehe unten) auf einmal ungeahnt aktuell: Die in den Beschlüssen berichtete Praxis der Bundespolizei, Schutzsuchende an der deutsch-polnischen Grenze ungeachtet eines in Deutschland geäußerten Asylgesuchs ohne Dublin-Verfahren nach Polen zurückschieben zu wollen, ist nicht nur bereits grundsätzlich rechtswidrig, was das Amtsgericht auch deutlich sagt, sondern vor dem Hintergrund aktueller NGO-Berichte über die faktisch weitgehende Aussetzung des Zugangs zu Asylverfahren in Polen noch inakzeptabler. Abgesehen davon geht es in dieser Woche darum, dass Frauen keine (nicht-vulnerablen) Männer sind, dass es subsidiären Schutz nicht ohne Asylantrag gibt, dass es kompliziert ist, Kausalität zu definieren, dass Regierung und Verwaltung anlasslose Befragungen vor Einbürgerungen für eine gute Idee halten, auch wenn das Gesetz es wohl anders sieht, und dass man in Dublin-Verfahren immer noch nicht freiwillig ausreisen kann.
Keine Zurückschiebungshaft nach Asylgesuch
Den Anwendungsvorrang des Europarechts im Allgemeinen und der Dublin-III-Verordnung im Besonderen musste das Amtsgericht Pasewalk in zwei Beschlüssen vom 29. Juli 2025 (Az. 305 XIV 84-87/25) und vom 1. August 2025 (Az. 305 XIV 99/25) erklären, in denen es um Anträge der Bundespolizei auf Haft zur Sicherung der Zurückschiebung von Ausländern ging, die offenbar von Polen aus nach Deutschland eingereist waren. In beiden Verfahren hatten die Betroffenen gegenüber der Bundespolizei erklärt, einen Asylantrag stellen zu wollen, gleichwohl hatte die Polizei daran festgehalten, die Betroffenen gemäß § 57 Abs. 2 AufenthG nach Polen zurückschieben zu wollen. Das gehe so nicht, meinte das Amtsgericht, weil der Anwendungsbereich der Zurückschiebung auf Grundlage von § 57 Abs. 2 AufenthG nur dann eröffnet sei, soweit es sich bei den Betroffenen nicht um Asylbewerber handele, und nur für solche Fälle über § 57 Abs. 3, 62 Abs. 3 AufenthG die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung beantragt und angeordnet werden könne. In den beiden Verfahren hätte stattdessen § 18 Abs. 1 AsylG angewendet werden müssen, so dass die richtige Haftart die Haft zur Sicherung der Überstellung eines Ausländers in einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (Überstellungshaft) gewesen wäre und das haftgerichtliche Verfahren sich in diesem Fall ausschließlich nach Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung gerichtet hätte.
Die Polizei wollte die Sicherungshaft bis zur Zurückschiebung offenbar im Polizeigewahrsam vollziehen und verzichtete in einem der Verfahren (Az. 305 XIV 99/25) auf eine Umstellung ihres Haftantrags, weil keine Hafteinrichtungen vorhanden seien, die den gesetzlichen Anforderungen an den Haftvollzug entsprechen würden. Unabhängig davon, dass die beantragte Haft schon wegen der Nichterfüllung der Haftvoraussetzungen der vorrangig anzuwendenden Dublin-Regelungen rechtswidrig gewesen wäre, fand das Amtsgericht auch ein paar klare Worte dazu, dass die Polizei schlichtweg verpflichtet gewesen wäre, die Betroffenen unverzüglich in eine dem Gesetz entsprechende spezielle Hafteinrichtung zu überführen. Einen anwaltlichen Vertreter hat das Amtsgericht in analoger Anwendung von § 62d AufenthG übrigens auch bestellt: Es sei verfassungsrechtlich problematisch, dass § 57 Abs. 3 AufenthG nicht auf § 62d AufenthG verweise, weswegen die analoge Anwendung des § 62d AufenthG unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes und der Gleichbehandlung vor Gericht angemessen und notwendig erscheine.
Frauen sind keine nicht-vulnerablen Männer
Alleinstehenden Frauen mit internationalem Schutzstatus drohen in Griechenland weiterhin menschenrechtswidrige Aufnahmebedingungen, sagt das Verwaltungsgericht Wiesbaden in seinem Urteil vom 4. Juli 2025 (Az. 7 K 754/23.WI.A). Frauen seien jedenfalls in dem Umfeld, in das sie bei der Rückkehr gelangen, als vulnerabel anzusehen und die Zahl männlicher Flüchtlinge sei deutlich höher als die weiblicher Flüchtlinge. Es liege auf der Hand und entspreche allgemeiner Lebenserfahrung, dass die Lebensumstände auf der Straße überaus rau seien; der Mangel an Struktur, sozialer Kontrolle und Verantwortlichkeit sowie an Perspektiven im Umfeld obdachloser, männlicher Flüchtlinge lasse erwarten, dass das Recht des Stärkeren gelte.
Es gibt noch nicht so viele Gerichtsentscheidungen, in denen die Situation alleinstehender Frauen thematisiert wird, die in Griechenland internationalen Schutz erhalten haben. Das Verwaltungsgericht Hamburg hat es im März 2025 in einem Eilverfahren inhaltlich wie nun das Verwaltungsgericht Wiesbaden gesehen.
Kein subsidiärer Schutz ohne Asylantrag
In allen Fällen, in denen geltend gemachte zielstaatsbezogene Gefahren grundsätzlich auch in den Anwendungsbereich des subsidiären Schutzes fallen, liegt ein materieller Asylantrag vor und ist der Ausländer zwingend auf das Asylverfahren beim Bundesamt zu verweisen, sagt das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 29. August 2025 (Az. 6 O 2/24). Eine eigene Prüfungskompetenz der Ausländerbehörde könne es nur für solche zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geben, in denen eine drohende Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht von einem für den subsidiären Schutz zwingend erforderlichen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3, § 3c AsylG ausgehe, was im entschiedenen Verfahren jedoch nicht der Fall gewesen sei.
Klare Leseempfehlung für diesen Beschluss, der die diversen nicht so einfach verständlichen Entscheidungen des Gesetzgebers bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten von Ausländerbehörde und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gut erklärt. Um das sogenannte Trennungsprinzip bei der Beantragung verschiedener Arten von Aufenthaltstiteln geht es auch noch.
Unmöglichkeit der überwiegenden Lebensunterhaltssicherung wegen Krankheit
Kennen Sie das, wenn jemand Dinge unnötig kompliziert ausdrückt? Der HRRF-Newsletter macht das manchmal (selten genug, hoffe ich), aber das Bundesverwaltungsgericht ist in seiner Pressemitteilung vom 25. September 2025, in der es über sein (noch nicht im Volltext vorliegendes) Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 17.24) berichtet, auch ein Kandidat. Es geht darum, dass ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG wegen nachhaltiger Integration an sich voraussetzt (siehe § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AufenthG), dass der Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit gesichert wird. Es gibt aber eine Ausnahme in § 25b Abs. 3 AufenthG, wonach diese Voraussetzung nicht vorliegen muss, wenn der Ausländer sie „wegen“ einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen nicht erfüllen kann. Das Wort „wegen“ meint, dass die Krankheit, Behinderung oder Altersgründe die Ursache dafür sein muss, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt nicht (überwiegend) durch Erwerbstätigkeit sichern kann.
Was ist aber, wenn es mehrere Ursachen gibt? Also etwa zunächst eine nicht so tolle Berufsausbildung, die dazu führt, dass der Lebensunterhalt nicht überwiegend durch Erwerbstätigkeit gesichert werden konnte, dann irgendwann zusätzlich noch eine Krankheit. Ist die Krankheit ursächlich für die fehlende Lebensunterhaltssicherung? Eigentlich nicht, denn der Lebensunterhalt war auch schon vor dem Auftreten der Krankheit nicht (überwiegend) gesichert. Auf welche Art von Kausalität es hier ankommen soll, war die zentrale Frage in diesem Verfahren. Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts liest sich ausschnittsweise so:
(1.) „Die Kausalität im Sinne des § 25b Abs. 3 AufenthG ist nicht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung weiterer Ursachen einer gegenwärtigen oder früheren Unfähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bestimmen“ – das verstehe ich so, dass eine Mitursächlichkeit auch eine Ursächlichkeit sein soll: Man tut bei jeder Einzelursache so, als ob sie die einzige Ursache wäre. Es kommt also nicht darauf an, dass der Lebensunterhalt schon vor dem Auftreten der Krankheit nicht (überwiegend) gesichert war.
(2.) „entscheidend ist allein, ob die Krankheit, Behinderung oder Altersgründe bezogen auf den maßgeblichen Erteilungszeitraum ursächlich dafür sind, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt nicht überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichern kann“ – das ist doch eigentlich das Gegenteil des vorherigen Satzes? In unserem Beispiel ist die Krankheit streng genommen eben nicht ursächlich, denn der Lebensunterhalt war auch ohne Krankheit nicht (überwiegend) gesichert?
Gemeint ist glaube ich etwas, was das in der Vorinstanz mit dem Verfahren befasste Oberverwaltungsgericht Lüneburg (das Urteil im Parallelverfahren gibt es online) etwas anders ausgedrückt hat: Die Ansicht, dass die Krankheit oder Behinderung für die fehlende Lebensunterhaltssicherung „allein und ausschließlich“ ursächlich sein müsse und in der Vergangenheit liegende weitere (Mit-)Ursachen die Anwendung der Ausnahmeregelung von vorneherein ausschlössen, sei falsch. Hinreichend sei vielmehr, dass der Ausländer die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung „im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt“ wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen könne. Eigentlich ist das immer noch ein Widerspruch, weil das „wegen“ ja gerade nicht vorliegt. Wir tun aber so als ob, offenbar, weil wir (d.h. das Oberverwaltungsgericht Lüneburg, und jetzt anscheinend auch das Bundesverwaltungsgericht) auf eine zeitliche Perspektive abstellen, und damit nur auf die jeweils letzte Ursache, und also nicht auf frühere, „in der Vergangenheit liegende“ Ursachen, wenn ich das richtig verstehe.
Doch anlasslose Befragungen vor Einbürgerungen
Die WELT AM SONNTAG weiß am 21. September 2025 zu berichten (Paywall), dass das Bundesinnenministerium in Reaktion auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig aus dem Februar 2025 zur Rechtswidrigkeit anlassloser Befragungen vor Einbürgerungen (Urteil, Pressemitteilung) seine Anwendungshinweise zum Staatsangehörigkeitsgesetz Mitte August geändert hat, die nunmehr stets ein persönliches Gespräch zur Prüfung der inneren Überzeugung von Antragstellern vorsehen. Das entspricht der vom Verwaltungsgericht in dem dortigen Verfahren gerügten Verwaltungspraxis, die das Gericht mit dem Argument für rechtswidrig gehalten hatte, dass die Einbürgerungsvoraussetzungen in den §§ 10, 11 StAG abschließend geregelt seien und dass eine anlasslose Befragung dort eben gerade nicht vorgesehen sei.
Der Artikel ist ein gutes Beispiel für tendenziösen und darum schlechten Journalismus, der gar nicht mehr versucht, politische oder rechtliche Zusammenhänge zu erklären. Gerichte und ihre rechtsprechende Tätigkeit, hier am Beispiel des Braunschweiger Urteils, werden als eine Art Chiffre für eine nicht genehme Rechtslage gesehen und adressiert, über die sich die Regierung quasi in exekutiver Notwehr hinwegsetzen darf. Das, so wird suggeriert, sei mehr als gerechtfertigt, weil nicht nur „viele Bürger [..] den Wunsch [haben]“, dass bei Einbürgerungen strenger geprüft werde, sondern auch deswegen, weil das Staatsangehörigkeitsgesetz systematische (d.h. anlasslose) Befragungen nur nach Auffassung „mancher Experten“ nicht vorsehe, die eine „sehr spezielle Rechtsauffassung“ verträten, und es ohnehin allerorten Missbrauch bei Einbürgerungen gebe. Außerdem kommt natürlich der Praktiker zu Wort, der das Urteil, und nicht etwa die Rechtslage, für „vollkommen praxisfern“ hält. Hier hätte man so viel mehr thematisieren und erklären können (und müssen).
Immer noch keine freiwillige Ausreise im Dublin-Verfahren
Die bloße Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dass keine Abschiebungsverbote für die Abschiebung in einen anderen Dublin-Staat vorliegen, stellt noch keine Feststellung dar, dass die Ausreise in diesen Dublin-Staat „rechtlich und tatsächlich möglich“ ist, meint das Sozialgericht Heilbronn in seinem Beschluss vom 22. September 2025 (Az. S 15 AY 1887/25 ER), zu dem es auch eine Pressemitteilung veröffentlicht hat. Das Erfordernis der nach der Feststellung des Bundesamts rechtlich und tatsächlich möglichen Ausreise beziehe sich kumulativ auch auf die freiwillige Ausreise der betroffenen Person in den für die Durchführung des Asylverfahrens an sich zuständigen Staat. Es sei zwar ein Widerspruch, dass eine solche freiwillige Ausreise im Rahmen des Dublin-Verfahrens nicht ohne Weiteres möglich sei, das Gericht sehe sich aber an einer teleologischen Auslegung von § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG gehindert, da Grenze der Auslegung der Wortlaut der Norm sei.
Das sehen andere Sozialgerichte im Ergebnis ähnlich, etwa Mitte Juni 2025 das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen.
EGMR lässt Syrien-Anordnung auslaufen
In einer Pressemitteilung vom 24. September 2025 weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf hin, dass er die Geltung einer von ihm im August 2025 erlassenen einstweiligen Anordnung, mit der er die Abschiebung eines Syrers aus Österreich gestoppt hatte, nicht verlängern wird. Der Betroffene habe nicht dargelegt, dass angesichts der allgemeinen Sicherheitssituation in Syrien und der individuellen Umstände des Einzelfalls eine reale und unmittelbare Gefahr einer irreparablen Beeinträchtigung seiner Rechte aus Artikel 2 (Recht auf Leben) und 3 (Folterverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention bestehe.
In Zeiten, in denen sich der Gerichtshof politischer Anfeindung durch diverse europäische Regierungen ausgesetzt sieht, ist es sicherlich auch ein Signal, wenn man eine einstweilige Anordnung nicht nur auslaufen lässt, sondern auch noch eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht.
Neue Zahlen zur asylgerichtlichen Statistik
Freunde statistischer Daten zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im Bereich Asyl seien für das erste Halbjahr 2025 auf die Bundestags-Drucksache 21/1710 vom 18. September 2025 verwiesen, die Auskunft zu allen denkbaren asylgerichtlichen Statistiken gibt.
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Auch wenn die gedruckte Textausgabe zur GEAS-Reform 2024 natürlich unverzichtbar ist, gibt es doch auch Online-Quellen, die für die tägliche Arbeit mit der Reform und mit den Rechtstexten wichtig sind. Hier werden die wichtigsten Links gesammelt. Beschlossene EU-Rechtsakte Die folgenden…
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Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025
Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind noch nicht mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem…
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Monatsübersicht Mai 2025
Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:
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