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Volle Wirksamkeit

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in dieser Woche gleich zweimal zu Wort gemeldet, und zwar zu sicheren Herkunftsstaaten und zu geplanten Festnahmen durch Ausländerbehörden. Jedenfalls der Beschluss zu sicheren Herkunftsstaaten zeigt, dass an Verwaltungsgerichten immer noch erschreckende Wissenslücken existieren, wenn es um das nun wirklich nicht übermäßig komplizierte Zusammenspiel von europäischem und deutschem Recht geht. Bei Ausländerbehörden ist das auch nicht anders, wie einer der Beschlüsse zu geplanten Festnahmen zeigt und wo eine Behörde bei der Suche nach einer Rechtsgrundlage für eine Freiheitsentziehung allen Ernstes EU-Richtlinien unmittelbar anwenden wollte. Sicherlich nur Einzelfälle, aber man fragt sich mitunter schon, wie es sein kann, dass solche Rechtsanwendungsfehler offenbar erst dem Bundesverfassungsgericht auffallen.

  • Schon wieder Zweifel an Ghana als sicherem Herkunftsstaat

    In seinem Beschluss vom 6. Oktober 2025 (Az. 2 BvR 755/25) hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, in der es um die Einstufung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat ging, hat sich aber dennoch auch inhaltlich geäußert, nämlich dass die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung bei ihrem Erlass voraussichtlich mit dem Grundgesetz unvereinbar war. Das Verwaltungsgericht Cottbus hatte einen möglichen Verstoß der Einstufung von Ghana als sicheren Herkunftsstaat in einem asylgerichtlichen Eilverfahren vor dem Hintergrund der Situation von LGBTQI-Personen nur unter dem Gesichtspunkt der Verfassungswidrigkeit erörtert, während es auf die Hinweise des Klägers auf eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit sowie auf mehrere beim Europäischen Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsverfahren nicht eingegangen war.

    Das Bundesverfassungsgericht äußert sich in diesem Beschluss ausführlich zum (bloßen) Anwendungsvorrang des EU-Rechts, zum Umgang mit anhängigen Vorabentscheidungsverfahren im Rahmen verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes und zu den europarechtlichen Anforderungen an die Einstufung sicherer Herkunftsstaaten. Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, weil der Kläger aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts den Rechtsweg nicht erschöpft hatte: Jedenfalls nach dem EuGH-Urteil vom 1. August 2025 zu sicheren Herkunftsstaaten hätte der Kläger beim Verwaltungsgericht einen erneuten Eilantrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO stellen müssen. Das ist insofern interessant, als die Verfassungsbeschwerde vor dem 1. August 2025 erhoben wurde, offenbar verlangt das Verfassungsgericht, dass man die Beschwerde „aktuell hält“ (siehe dazu im Beschluss Rn. 27). Zweifel an Ghana als sicherem Herkunftsstaat hatte unlängst übrigens auch das Verwaltungsgericht Bremen, und auch dort ging es um eine LGBTQI*-Person.

  • Keine geplante Festnahme ohne Haftbeschluss oder ohne Rechtsgrundlage

    Art. 104 Grundgesetz enthält sogenannte grundrechtsgleiche Rechte: Das sind Rechte, die zwar keine „echten“ Grundrechte sind, deren Verletzung man aber dennoch in einer Verfassungsbeschwerde rügen kann (siehe Art. 94 Abs. 1 Nr. 4a GG). Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG ordnet an, dass man nur auf Grundlage eines „förmlichen“ Gesetzes, d.h. einer gerade als „Gesetz“ verkündeten Rechtsnorm, festgenommen und inhaftiert werden darf. Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG regelt, dass über eine Freiheitsentziehung nur ein Richter zu entscheiden hat, also insbesondere keine Verwaltungsbehörde (sofern nicht die in Art. 104 Abs. 2 S. 2, 3 GG geregelten Ausnahmen einschlägig sind). Alles nicht so kompliziert, sollte man meinen. Tatsächlich aber nicht so einfach, musste das Bundesverfassungsgericht feststellen, das in drei Beschlüssen vom 4. (Az. 2 BvR 329/22 sowie 2 BvR 330/22) und 5. (Az. 2 BvR 1191/22) August 2025 Beschlüsse von Haftgerichten und Haftbeschwerdegerichten aufgehoben hat, weil sie gegen Art. 104 GG, gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Recht auf Freiheit der Person) und zum Teil auch noch gegen Art. 19 Abs. 4 GG (Recht auf effektiven Rechtsschutz) verstoßen haben.

    In einem der Verfahren (Az. 2 BvR 330/22) hatte eine Verwaltungsbehörde die vorläufige Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers auf Grundlage von Art. 8 und 9 der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU in Verbindung mit Art. 15 der EU-Rückführungsrichtlinie 2018/115/EG angeordnet. Das könne nicht funktionieren, so das Bundesverfassungsgericht, weil Regelungen in EU-Richtlinien, die zwar an sich der Umsetzung in nationales Recht bedürften, in bestimmten Fällen auch unmittelbar angewendet werden könnten, eine solche unmittelbare Anwendung aber stets (!) nur zugunsten des Einzelnen und nie zugunsten des Staates in Frage komme. Außerdem hatten die Behörden die Inhaftierung der Betroffenen in allen drei Verfahren geplant und sie zur Vorführung vor den Haftrichter vorläufig festgenommen, ohne dafür eine vorherige (einstweilige) richterliche Haftanordnung zu erwirken: Auch dies sei verfassungswidrig gewesen, weil von der Ausländerbehörde konkret geplante Freiheitsentziehungen regelmäßig einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürften. Vollzugsbeamte der Polizei, die von der Ausländerbehörde gebeten worden seien, einen Ausländer im Wege der Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen, könnten sich regelmäßig nicht mit Erfolg darauf berufen, dass zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung eine richterliche Anordnung nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden könne.

    Das Bundesverfassungsgericht hat zu den drei Beschlüssen am 28. Oktober 2025 auch eine ausführliche Pressemitteilung veröffentlicht.

    Nun gut, es ist ja auch schon fast vier Wochen her, seit hier im Newsletter zum letzten Mal über verfassungswidrige Abschiebungshaft und einen entsprechenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts berichtet wurde. Im August wurde auch berichtet, im Mai diesen Jahres sogar zweimal (hier und hier).

  • Nichtverlängerung ist keine Ablehnung

    Wenn ein EU-Mitgliedstaat subsidiären Schutz zunächst gewährt, die Gewährung aber später nicht verlängert, dann stellt die Ablehnung der Verlängerung keine „Ablehnung“ eines Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-III-Verordnung dar, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 30. Oktober 2025 (Rs. C-790/23). Vielmehr bedeute das Vorliegen dieser Nichtverlängerung oder Nichterneuerung zwangsläufig, dass dem Antrag in einem früheren Stadium stattgegeben worden sei, auch wenn diese Stattgabe vorübergehender Natur gewesen sei.

    Die Entscheidung hat zur Folge, dass ein Dublin-Staat, der internationalen Schutz zunächst gewährt, die Schutzgewährung aber später einstellt, betroffene Drittstaatsangehörige jedenfalls nicht gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin-III-VO wieder aufnehmen muss, wenn diese in einem anderen Dublin-Staat einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Vielmehr ist Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO anwendbar, wonach ein Dublin-Staat, der einem Drittstaatsangehörigen in der Vergangenheit einen Aufenthaltstitel erteilt hat, für die Prüfung eines später gestellten Asylantrags zuständig ist, sofern der Aufenthaltstitel nicht vor mehr als zwei Jahren abgelaufen ist.

  • Kein subsidiärer Schutz bei drohender Einberufung zum eritreischen Nationaldienst

    Der Verwaltungsgerichtshof Kassel berichtet in einer Pressemitteilung vom 30. Oktober 2025 über sein noch nicht im Volltext vorliegendes Urteil vom 29. Oktober 2025 (Az. 2 A 1578/25.A), wonach eritreischen Staatsangehörigen, die in Eritrea mit der Einberufung zum Nationaldienst rechnen müssen, aber durch die Abgabe einer Reueerklärung Diaspora-Status erhalten können, kein subsidiärer Schutz zuzuerkennen ist. Zwar drohe im militärischen Teil des Nationaldienstes eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, einer solchen Einberufung könne man sich aber durch Erlangen des Diaspora-Status entziehen; die Abgabe einer Reueerklärung sei zumutbar. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.

    Es war jetzt eine Zeit lang etwas ruhiger in der deutschen Rechtsprechung, wenn es um den eritreischen Nationaldienst und um Reueerklärungen ging, zuletzt hatten wir hier im Februar 2025 vom Oberverwaltungsgericht Hamburg berichtet. Aus welchem Grund genau der Verwaltungsgerichtshof die Revision zugelassen hat, ist noch nicht bekannt, mein Tipp wäre, dass es die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens war (so hatte es im Februar 2024 auch das Oberverwaltungsgericht Koblenz gehandhabt).

  • Indirektes Diskretionsgebot greift um sich

    Sowohl das Verwaltungsgericht Leipzig in seinem Urteil vom 11. August 2025 (Az. 7 K 199/25.A) als auch das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss vom 28. August 2025 (Az. 35 L 335/25 A) meinen, dass dann, wenn ein Schutzsuchender seine Homosexualität in Deutschland nicht oder kaum „auslebt“, auch im Herkunftsland kein Ausleben zu erwarten ist, und dass aus dem bloßen Bestehen von Homosexualität nicht die berechtigte Annahme begründeter Furcht vor Verfolgung folgt. Zwar dürfe von Schutzsuchenden kein „Vermeidungsverhalten“ erwartet werden, also eine Anpassung des Verhaltens im Hinblick auf drohende Verfolgungshandlungen. Anders sei es jedoch, wenn Schutzsuchende aus persönlichen Gründen oder aufgrund familiären oder sozialen Drucks oder Rücksichtnahmen ein bestimmtes Verhalten im Herkunftsland nicht ausübten.

    Sogar die aktuelle Dienstanweisung Asyl des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist progressiver als solche Rechtsprechung und führt in ihrem Eintrag „Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität“ auf Seite 9 aus, dass bei der Entscheidung über einen Asylantrag die Annahme zugrunde zu legen ist, dass der Antragsteller seine sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität bei Rückkehr in sein Heimatland offen ausleben wird, und dass das auch dann gilt, wenn er im Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Asylantrag vorgetragen hat, dies nicht zu beabsichtigen.

  • Kein Ausreisegewahrsam ohne Ermessensausübung

    In drei Beschlüssen vom 20. Oktober 2025 (Az. XIII ZB 78/22, XIII ZB 81/22 und XIII ZB 86/22) hat der Bundesgerichtshof eine rechtswidrige Anordnung von Ausreisegewahrsam gemäß § 62b AufenthG gerügt. § 62b Abs. 1 S. 1 AufenthG sehe ein Anordnungsermessen vor, das das Haftgericht zwingend ausüben müsse, indem es zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung abwäge. Wenn eine solche Abwägung fehle, dann würden die Rechte des Betroffenen verletzt und sei der Gewahrsam rechtswidrig.

    Der Bundesgerichtshof hat das schon im Juni 2025 einmal so entschieden, siehe den Beschluss vom 17. Juni 2025 (Az. XIII ZB 7/24), dort Rn. 10. Der Wortlaut von § 62b Abs. 1 S. 1 AufenthG spricht klar davon, dass ein Ausländer in Gewahrsam genommen werden „kann“, aber eben nicht muss. Es ist durchaus unverständlich, warum Haftgerichte sich mit einer aufmerksamen Lektüre des Gesetzestextes offenbar so schwertun.

  • Amtsgericht Pasewalk im Sommer: Wer war das?

    Im HRRF-Newsletter Nr. 214, d.h. Ende September 2025, hatten wir über zwei Haftbeschlüsse des Amtsgerichts Pasewalk von Ende Juli und Anfang August 2025 berichtet, in denen es um Haftanträge der Bundespolizei nach Grenzübertritten von Polen nach Deutschland ging. Die beiden Beschlüsse waren nicht nur spannend, sondern haben auch ein paar Fragen aufgeworfen. Weiß jemand der geschätzten Leserinnen und Leser, wer in den Verfahren als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt tätig war? Sachdienliche Hinweise nimmt die Redaktion gerne per E-Mail unter newsletter@hrrf.de entgegen.

  • Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht, nach der GEAS-Reform

    Es ist zu erwarten, dass der Deutsche Bundestag in den kommenden Wochen die beiden deutschen Umsetzungsgesetze zur GEAS-Reform von 2024 verabschieden wird, nämlich das GEAS-Anpassungsgesetz, und, gemeinsam mit dem Bundesrat, das GEAS-Anpassungsfolgengesetz. Diese Umsetzung wird zu umfangreichen Änderungen unter anderem im Aufenthaltsgesetz und im Asylgesetz führen und verlangt bereits mit der Verabschiedung der beiden deutschen Umsetzungsgesetze nach einer Neuauflage der HRRF-Textausgabe zum deutschen Migrationsrecht. Gleichzeitig soll die Gelegenheit genutzt werden, um das Konzept dieser Textausgabe zu schärfen und zu fokussieren. Was das genau bedeutet, wird in der Einführung zur Neuauflage der Textausgabe erklärt werden, die auf der HRRF-Website bereits vorab gelesen werden kann.

  • Textausgabe Deutsches Migrationsrecht (nach der GEAS-Reform)

    Es ist zu erwarten, dass der Deutsche Bundestag in den kommenden Wochen die beiden deutschen Umsetzungsgesetze zur GEAS-Reform von 2024 verabschieden wird, nämlich das GEAS-Anpassungsgesetz, und, gemeinsam mit dem Bundesrat, das GEAS-Anpassungsfolgengesetz. Diese Umsetzung wird zu umfangreichen Änderungen unter anderem…

  • GEAS-Reform 2024

    Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Mai 2024 wird den Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa verändern, zumindest in unzähligen Details, vermutlich aber jedenfalls auf einer faktischen Ebene auch im Grundsätzlichen. Die GEAS-Reform soll im Juni 2026 in Kraft…

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem deutschsprachige Pressemitteilungen…

ISSN 2943-2871