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Ausgabe 129 • 26.1.2024

Tiefes Misstrauen

In einer eher von aufenthaltsrechtlichen Fragen geprägten Woche geht es um unbegleitete minderjährige Schutzsuchende in Griechenland und in Deutschland, um einigermaßen spitzfindige Interpretationsansätze des Bundesverwaltungsgerichts und um Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des rückwirkenden Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit. Außerdem gibt es Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht und vom Bundesgerichtshof sowie erneut einen Zeitschriftenhinweis.

Menschenrechtsschutz

EMRK-Verstoß durch Obdachlosigkeit von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland in seinem Urteil vom 23. Januar 2024 (Az. 24650/19, O.R. gg. Griechenland) wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung) verurteilt, weil griechische Behörden einen unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden aus Afghanistan in dem Zeitraum zwischen November 2018 und Mai 2019 trotz eines Asylgesuchs ohne jegliche Unterstützung ließen, so dass der Betroffene als Obdachloser leben musste. Die vom Beschwerdeführer beschriebene Situation sei zur Zeit der Ereignisse ein in Griechenland weit verbreitetes Phänomen gewesen und habe der Realität für eine große Anzahl von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden entsprochen.

Asylverfahrensrecht

Bei unbegleiteten Minderjährigen regelmäßig keine Antragsablehnung als offensichtlich unbegründet

Erfrischend deutlich äußert sich das Verwaltungsgericht Ansbach in seinem Beschluss vom 2. Januar 2024 (Az. AN 10 S 23.31732) zu den besonderen Verfahrensgarantien für unbegleitete minderjährige Schutzsuchende. Eine Ablehnung eines von einem unbegleiteten Minderjährigen gestellten Asylantrags als offensichtlich unbegründet sei gegen den Wortlaut von § 30 AsylG in der Regel nicht zulässig, weil gemäß Art. 25 Abs. 6 EU-Asylverfahrensrichtlinie das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen sei und nach Art. 25 Abs. 6 lit. a) EU-Asylverfahrensrichtlinie eine Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 31 Abs. 8 EU-Asylverfahrensrichtlinie, und damit eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet, nur in Betracht komme, wenn der Schutzsuchende aus einem sicheren Herkunftsstaat eingereist sei, einen Folgeantrag gestellt habe oder er eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstelle. Der für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgebliche Zeitpunkt sei weder der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch der Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag, und auch nicht der Zeitpunkt der Anhörung, sondern der Zeitpunkt der Einreise des unbegleiteten Minderjährigen in die Europäische Union. Dies habe nichts mit der von „tiefem Misstrauen in staatliches Handeln“ geprägten Argumentation des Betroffenen zu tun, dass die Behörden es sonst in der Hand hätten, eine Entscheidung zu verzögern, sondern mit der Formulierung in Art. 2 lit. l der EU-Qualifikationsrichtlinie, die auf den Zeitpunkt der Einreise abstelle.

Aufenthaltsrecht

Wortlaut und Wille im Aufenthaltsrecht

Wer erinnert sich nicht an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. August 2018 (Az. 1 C 22.17), wo es hieß, dass eine Aufenthaltserlaubnis, die bereits kraft Gesetzes zur Ausübung jedweder Beschäftigung berechtige, keine „Aufenthaltserlaubnis“ im Sinne von § 9 BeschV darstelle, so dass für die spätere Erteilung einer anderen Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Beschäftigung immer noch eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit erforderlich sei, weil der Wortlaut des § 9 BeschV zwar nicht zwischen verschiedenen Arten von Aufenthaltserlaubnissen differenziere, der Gesetzgeber dies das aber so gemeint habe. Diese Auslegung könnte mittlerweile überholt sein, meint jetzt das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in seinem Beschluss vom 9. Januar 2024 (Az. 2 B 117/23), und hat die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis angeordnet. Methodisch bedient sich das Oberverwaltungsgericht allerdings desselben etwas fragwürdigen Ansatzes wie das Bundesverwaltungsgericht, auf den (wie auch immer ermittelten) Willen des Verordnungsgebers abzustellen, auch wenn er im Wortlaut der Norm keinen Niederschlag gefunden hat: Der Verordnungsgeber habe den Wortlaut von § 9 BeschV auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2018 nicht überarbeitet, obwohl dies zumindest in Zusammenhang mit der Verabschiedung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes 2020 nahegelegen hätte. Es handele sich um eine „komplexe rechtliche Fragestellung“, womit zumindest fraglich sei, ob eine über den Wortlaut der Norm hinausgehende Einschränkung ihres Anwendungsbereichs auch heute noch vom Willen des Verordnungsgebers gedeckt sei.

Aufenthaltsrecht

Grenzen der Fiktionswirkung im Ausweisungsrecht

Die Fiktion des Fortbestehens eines Aufenthaltserlaubnis gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG, wonach ein Ausländer einen Aufenthaltserlaubnis „besitzen“ muss, sagt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 16. November 2023 (Az. 1 C 32.22). Das BVerwG will dies aus dem Wortlaut der Norm ableiten, weil das Erfordernis des „Besitzes“ einer Aufenthaltserlaubnis deutlich mache, dass die Aufenthaltserlaubnis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Ausweisung tatsächlich vorhanden und damit bereits erteilt sein müsse. Außerdem ergebe sich das auch § 55 Abs. 3 AufenthG, der sich freilich nicht auf den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis bezieht, sondern nur auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts.

Sonstiges

Zweifel an Verfassungsmäßigkeit des rückwirkenden Verlusts der deutschen Staatsangehörigkeit

Das Bundesverfassungsgericht meldet in seinem Beschluss vom 11. Dezember 2023 (Az. 2 BvR 195/21) Zweifel daran an, ob § 17 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 StAG über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit den Anforderungen des Gesetzesvorbehaltes des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG genügen. In dem Verfahren hatte ein in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern zunächst gemäß § 4 Abs. 3 StAG mit seiner Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, die etwas mehr als fünf Jahre später allerdings rückwirkend wieder entfiel, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Vater des Kindes eine andere Person als ursprünglich angenommen war und er die Voraussetzungen von § 4 Abs. 3 StAG anders als der Scheinvater nicht erfüllte. Die Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen, weil sie den einschlägigen Begründungsanforderungen nicht entsprochen habe, zu seinen verfassungsrechtlichen Zweifeln hat es sich nicht näher geäußert, sondern auf seine existierende Rechtsprechung zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit verwiesen, insbesondere auf seinen Beschluss vom 17. Juli 2019 (Az. 2 BvR 1327/18), der allerdings noch zur Rechtslage vor der Einführung von § 17 Abs. 2 und 3 StAG im Jahre 2009 ergangen war. Klare Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit von § 17 Abs. 2 und 3 StAG in seiner geltenden Fassung hat das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Urteil vom 10. März 2020 (Az. 1 LC 171/16) bereits herausgearbeitet.

Sonstiges

Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

In zwei weiteren Verfahren hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 13. November 2023 (Az. 1 B 38.23 und 1 B 40.23) Dublin-Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Münster zu Italien aufgehoben (siehe dazu bereits die HRRF-Newsletter Nr. 125, Nr. 126 und Nr. 127).

Mit Beschluss vom 30. November 2023 (Az. 1 C 14.23) hat das Bundesverwaltungsgericht in dem Verfahren um die Rechtmäßigkeit einer Wohnungsbetretung zwecks Dublin-Überstellung eine Anhörungsrüge zurückgewiesen. Das Gericht habe in seinem Urteil vom 15. Juni 2023 (Az. 1 C 10.22) den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt, weil es auf die Frage, ob der Beamte des Polizeivollzugsdienstes einen Schritt in das Zimmer des Klägers getan und dabei das Licht oder seine Taschenlampe angeschaltet hätte, nicht angekommen sei, da allenfalls ein kurzfristiges Betreten nebst einer Einsichtnahme erfolgte, aber jedenfalls keine Suchhandlung. Gegen das Urteil aus dem Juni 2023 wurde übrigens zwischenzeitlich Verfassungsbeschwerde eingelegt (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 118).

In dem Verfahren, in dem der Verwaltungsgerichtshof Mannheim sich mit Urteil vom 2. Januar 2023 (Az. 12 S 1841/22) zum Zusammenspiel von generalpräventiver Ausweisung und Abschiebungsverboten und insbesondere zur Unzulässigkeit des Erlasses eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in solchen Fällen geäußert hatte, hat das beschwerdeführende Regierungspräsidium die vom Verwaltungsgerichtshof in Teilen zugelassene und dann eingelegte Revision zurückgenommen (Beschluss vom 4. Januar 2024, Az. 1 C 7.23), nachdem zuvor das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde des Regierungspräsidiums mit Beschluss vom 11. Dezember 2023 (Az. 1 B 13.23) zurückgewiesen hatte.

Sonstiges

Vermischtes vom Bundesgerichtshof

Mit Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 46/22) hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass von der persönlichen Anhörung eines Betroffenen vor der Anordnung von Sicherungshaft trotz eines positiven Corona-PCR-Tests nicht abgesehen werden darf, wenn zumutbare Schutzmöglichkeiten für die bei der Anhörung anwesenden Personen bestehen oder wenn unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Anhörungstermin für die Zeit nach der Genesung bestimmt werden könnte. In seinem Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 58/22) hat der Bundesgerichtshof festgehalten, dass es rechtswidrig ist, wenn ein Amtsgericht eine Vertrauensperson gemäß § 10 Abs. 3 FamFG zurückweist und das Landgericht eine anschließend von dieser Vertrauensperson eingelegte Haftbeschwerde mit der Begründung ablehnt, dass die Vertrauensperson ja schließlich im ersten Rechtszug gar nicht am Verfahren beteiligt gewesen sei.

Anderswo im Internet

Zeitschriften-Hinweis: ANA-ZAR

Die Anwaltsnachrichten Ausländer- und Asylrecht (ANA-ZAR) werden von der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des Deutschen Anwaltvereins herausgegeben und erscheinen fünfmal im Jahr. Die ANA-ZAR enthalten stets einen umfangreichen Rechtsprechungsteil, der häufig auch über Entscheidungen berichtet, die es nicht in den HRRF-Newsletter geschafft haben - insofern sind die ANA-ZAR eine perfekte Ergänzung zur Lektüre des HRRF-Newsletters 🙂. Die ANA-ZAR sind frei im Internet zugänglich, gerade ist Ausgabe 05/2023 erschienen, die einen Beitrag zu Praxisproblemen der Legalisierung von Geduldeten enthält, wie immer über aktuelle Rechtsprechung zum Migrationsrecht berichtet und außerdem die derzeitige, nach wie vor sehr uneinheitliche Rechtsprechungspraxis deutscher Verwaltungsgerichte zu Dublin-Überstellungen nach Italien zusammenfasst.