Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 8. Februar 2024 (Rs. C-216/22) klargestellt, dass ein Urteil des Gerichtshofs einen neuen Umstand darstellen kann, der eine erneute inhaltliche Prüfung eines Asylantrags rechtfertigt. Aus der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU folge, dass ein solches Urteil es rechtfertigen könne, dass ein Folgeantrag des Schutzsuchenden in der Sache geprüft werde und nicht als unzulässig abgelehnt werde, sofern das Urteil erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitrage, dass ein Schutzsuchender die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes erfülle. Außerdem erlaube es die EU-Asylverfahrensrichtlinie, dass Mitgliedstaaten ihre Gerichte dazu ermächtigen könnten, selbst über Folgeanträge zu entscheiden, statt die Prüfung des Antrags an die nationale Asylbehörde zurückverweisen zu müssen.
Nach deutschem Recht ist ein Folgeverfahren gemäß § 71 Abs. 1 AsylG nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, was unter anderem der Fall ist, wenn sich die „Rechtslage“ nachträglich geändert hat. In der deutschen Asylrechtsprechung wurde bislang angenommen, dass Gerichtsentscheidungen (mit Ausnahme von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) keine Änderung der Rechtslage bewirken, sondern die bereits bestehende (aber verkannte) Rechtslage lediglich deklaratorisch klarstellen (so etwa das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 6. Dezember 2022, Az. M 22 K 21.30832). Der EuGH hat jetzt klargestellt, dass jedenfalls im Grundsatz jedes EuGH-Urteil einen neuen Umstand im Sinne der EU-Asylverfahrensrichtlinie darstellen und die Durchführung eines Folgeverfahrens rechtfertigen kann. Da die in § 51 Abs. 3 VwVfG vorgesehene Dreimonatsfrist für Folgeanträge wegen des Urteils des EuGH vom 9. September 2021 (Rs. C-18/20) auch nicht gilt, könnten jetzt unter Bezugnahme auf bereits weit zurückliegende EuGH-Entscheidungen Folgeanträge gestellt werden, sofern diese Urteile die Wahrscheinlichkeit der Zuerkennung internationalen Schutzes erheblich erhöhen.
Das EuGH-Urteil ging auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Sigmaringen zurück. Der EuGH hat zu dieser Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht, ebenso wie Pro Asyl.
In seinem Beschluss vom 23. Januar 2024 (Az. 13 A 10945/22.OVG) nimmt das Oberverwaltungsgericht Koblenz zur Situation besonders vulnerabler Schutzberechtigter in Italien Stellung und hält die Abschiebung solcher Schutzberechtigter nach Italien für grundsätzlich nicht zulässig. Insbesondere in Abgrenzung zu seinem Urteil vom 27. März 2023 (Az. 13 A 10948/22.OVG), siehe dazu auch HRRF-Newsletter Nr. 94, führt das Oberverwaltungsgericht aus, dass drohende Obdachlosigkeit für die Annahme einer mit Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK unvereinbaren Aufnahmesituation hinreichend sei, wenn es sich bei den Betroffenen um Angehörige einer besonders vulnerablen Personengruppe handele, etwa einer Familie mit einem erst dreijährigen Kind, von deren gemeinsamer Rückkehr nach Italien grundsätzlich auch bei einer heterogenen Flucht- und Anerkennungsgeschichte auszugehen sei. In diesen Fällen müsse die notwendige Zusicherung der italienischen Stellen, dass den Betroffenen jedenfalls eine Wohnungsnahme ermöglicht werde, zwingend vorab eingeholt werden, da sie ansonsten nicht mehr in die Rückkehrgefährdungsprognose eingestellt werden könne.
Das Verwaltungsgericht Trier kriegt auch noch ausführlich sein Fett weg: Soweit das Verwaltungsgericht der Einschätzung der Lage in Italien durch das Oberverwaltungsgericht unlängst entgegengetreten sei und davon ausgehe, dass in Italien insbesondere im Zeitraum unmittelbar nach einer Wiedereinreise keine Obdachlosigkeit im Sinne einer dauerhaften Wohnungslosigkeit drohe, überzeuge das nicht, weil die erhebliche Kapazitätsüberschreitung des italienischen Unterbringungssystems für anerkannt Schutzberechtigte zur Folge habe, dass selbst eine de jure bestehende, privilegierte Zugangsmöglichkeit für vulnerable Personengruppen zu diesem System de facto ohne Bedeutung sei.
Sollte es jemals ein migrationsrechtliches Kneipenquiz geben, dann wäre da sicherlich die Frage dabei, die das Verwaltungsgericht Bremen in seinem Beschluss vom 9. Januar 2024 (Az. 3 V 2955/23) zu beantworten hatte: Ist es in Deutschland möglich, einen Asylantrag (wirksam) zu stellen, wenn ein zuvor gestellter Asylantrag noch nicht bestandskräftig geworden ist, also etwa noch eine Klage gegen die Ablehnung des Antrags anhängig ist? Sowohl der Wortlaut von § 71 Abs. 1 AsylG („[..] nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags [..]“) als auch die einschlägige Kommentarliteratur suggerieren, dass solche Mehrfachanträge unzulässig sind, und das meinte auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in dem vom Verwaltungsgericht entschiedenen Verfahren.
Nun war der Sachverhalt allerdings etwas speziell gelagert, so dass das Verwaltungsgericht im Ergebnis eben doch von der Zulässigkeit eines Mehrfachantrags ausging. In dem Verfahren war der Betroffene nach der Ablehnung seines ersten Asylantrags und während des laufenden Klageverfahrens dagegen im Rahmen einer Dublin-Überstellung nach Polen überstellt worden. Von dort aus reiste er erneut nach Deutschland und stellte einen weiteren Asylantrag. Das Bundesamt erließ einen erneuten Bescheid, in dem es auf den Erstbescheid verwies und lediglich eine neue Abschiebungsanordnung und ein neues Einreise- und Aufenthaltsverbot aussprach. Während eine förmliche Asylantragstellung aufgrund des anhängigen Klageverfahrens unzulässig sei, so das Bundesamt, bleibe es dem Antragsteller unbenommen, sein neuerliches Schutzvorbringen im Rahmen dieses Klageverfahrens vorzubringen.
Das, so das Verwaltungsgericht, gehe nicht, weil eine nachträglich eingetretene Rechtswidrigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung gerade nicht in einem noch anhängigen Klageverfahren gegen einen (ersten) Dublin-Bescheid geltend gemacht werden könne, weil insofern abweichend von § 77 Abs. 1 AsylG für die rechtliche Bewertung des ersten Bescheids auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Überstellung abzustellen sei. Durch das nach einer Wiedereinreise durchzuführende neue Wiederaufnahmeverfahren gemäß der Dublin-III-Verordnung werde der Prüfungsrahmen einer gegen einen ersten Dublin-Bescheid noch anhängigen Klage in Bezug auf die Frage der Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Entscheidung über die Zulässigkeit des Asylantrags und die Feststellung von Abschiebungsverboten in zeitlicher Hinsicht begrenzt.
Die NGO I Have Rights berichtet auf ihrer Website und bei X/Twitter über eine vorläufige Maßnahme, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in dem Verfahren 2868/24 (H.T. u. M.T. gg. Griechenland) am 5. Februar 2024 gegen Griechenland erlassen hat, weil die Beschwerdeführerin und ihr Kind im „Closed Controlled Access Centre (CCAC)“ Samos unter menschenrechtswidrigen Bedingungen untergebracht waren. Der Gerichtshof hat Griechenland dazu verpflichtet, die Beschwerdeführerin und ihr Kind in einer sicheren und angemessenen Umgebung unterzubringen und sicherzustellen, dass sie Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Kleidung und medizinischer Versorgung haben. Die NGO I Have Rights hatte bereits im August 2023 einen umfangreichen Bericht über die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in dem Lager auf der griechischen Insel berichtet.
Mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 (Az. 2 BvR 1492/20) hat das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, in der das Verhältnis eines Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV zum Erfordernis der Nachholung des Visumverfahren zum Familiennachzug problematisiert wurde. Die Verfassungsbeschwerde entspreche nicht den Begründungsanforderungen und lege nicht nachvollziehbar dar, dass die Fachgerichte grundrechtliche Positionen des Beschwerdeführers durch die Annahme verkannt hätten, dass ein Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV ausscheide, wenn der Drittstaatsangehörige die Bundesrepublik Deutschland lediglich zur Durchführung respektive Nachholung des Visumverfahrens zum Familiennachzug nach nationalem Recht verlassen müsse, die damit verbundene Trennung zwischen Elternteil und Kind aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls als vorübergehend angesehen werde und das Risiko, das Kind könne nachhaltig in seinem inneren Gleichgewicht gestört werden, angesichts dieses vorübergehenden Charakters der Trennung nicht greifbar erscheine.
Ein Ausländer, der sich in Strafhaft befindet, ist im Sinne des § 62b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 letzter Halbsatz AufenthG unverschuldet an der Ausreise gehindert, so dass gegen ihn kein Ausreisegewahrsam angeordnet werden darf, sagt das Amtsgericht Tiergarten in seinem Beschluss vom 10. Januar 2024 (Az. 381 XIV 5/24 B). Das gelte auch dann, wenn zugleich die Überschreitung der Ausreisefrist erheblich sei. Nebenbei bewirbt die Entscheidung dezent die gerade erschienene Neuauflage des Buchs Abschiebungshaft - Rechtshandbuch für die Praxis, dessen Autor als Richter am Amtsgericht Tiergarten tätig ist.
In seinem bereits erwähnten Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 45/22) hält der Bundesgerichtshof die dem Haftgericht gemäß § 26 FamFG obliegende Amtsermittlungspflicht für verletzt, und die Haft damit für rechtswidrig, wenn das Gericht trotz einer Rüge eines Betroffenen nicht aufklärt, unter welchen Bedingungen der Betroffene inhaftiert war. In dem entschiedenen Verfahren hatte die Betroffene ihre Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt Hof gerügt und dabei ausführlich die ihrer Ansicht nach rechtswidrigen Haftbedingungen geschildert. Das Beschwerdegericht hatte diesen Vortrag mit dem Argument unberücksichtigt gelassen, dass die Betroffene nicht in der Justizvollzugsanstalt Hof untergebracht sei, sondern in der Abschiebehafteinrichtung Hof, die eine andere Anschrift habe.
Dies hielt der Bundesgerichtshof für rechtswidrig. Die Betroffene habe eine rechtswidrige Unterbringung konkret behauptet, wobei jedenfalls die vorgetragenen Einschränkungen beim Besuch und das behauptete generelle Verbot des Tragens eigener Kleidung über das hinausgingen, was für die wirksame Vorbereitung einer Abschiebung unbedingt erforderlich sei. Das Beschwerdegericht hätte diesen Vortrag nicht damit übergehen dürfen, dass die Betroffene sich nicht in einer Justizvollzugsanstalt befinde, zumal auch in der Gerichtsakte angegeben sei, dass dies doch der Fall sei, weil es sich bei der Abschiebehafteinrichtung Hof um eine Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Hof handele. Das Beschwerdegericht hätte demnach Feststellungen zu den dortigen Haftbedingungen treffen und prüfen müssen, ob diese den gesetzlichen Anforderungen an die Haftbedingungen genügten.
Ein Haftantrag unterliegt keinem gesetzlichen Schriftformerfordernis, meint der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 45/22), und muss von der beteiligten Behörde darum auch nicht gemäß § 14b Abs. 1 FamFG als elektronisches Dokument an das Amtsgericht übermittelt werden. Vielmehr könne er gemäß § 14b Abs. 2 FamFG nach den allgemeinen Vorschriften eingereicht werden, etwa auch per Telefax. Ein gesetzliches Schriftformerfordernis ergebe sich weder aus § 417 FamFG noch aus den allgemeinen Verfahrensvorschriften der §§ 23, 25 FamFG. Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Haftantrag dem Betroffenen zur Wahrung rechtlichen Gehörs vor seiner Anhörung in vollständiger Abschrift ausgehändigt werden müsse, weil dieses Erfordernis der Schriftlichkeit keinem gesetzlichen Wirksamkeitserfordernis gemäß § 14b Abs. 1 FamFG entstamme, sondern sich aus den nach Art. 103 Abs. 1 GG an das Verfahren zu stellenden Anforderungen ableite.
Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist verletzt, sagt der Bundesgerichtshof in zwei Beschlüssen vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 91/22 und XIII ZB 15/23), wenn der Betroffene erklärt, „er wolle einen Anwalt haben“, das Amtsgericht danach aber nicht aufklärt, ob der Rechtsanwalt bereits zur Anhörung hinzugezogen werden soll (Verfahren XIII ZB 91/22), und wenn der Betroffene erklärt, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragen zu wollen, das Amtsgericht dann aber eine nicht nur einstweilige Haftanordnung erlässt, ohne dass der Betroffene tatsächlich Gelegenheit hatte, einen Rechtsanwalt zu beauftragen (Verfahren XIII ZB 15/23.
In seinem Beschluss vom 5. Dezember 2023 (Az. XIII ZB 32/21) äußert sich der Bundesgerichtshof ausführlich zu dem Erfordernis der örtlichen Zuständigkeit derjenigen Ausländerbehörde, die einen Haftantrag gestellt hat. In dem Verfahren war der Haftantrag von der Ausländerbehörde Düsseldorf gestellt worden, die aus Sicht des Bundesgerichtshofs nicht nur fälschlich davon ausgegangen war, dass der Betroffene in ihrem Amtsbereich festgenommen worden sei, sondern auch nicht aufgrund einer früher bestehenden Zuständigkeit weiter zuständig gewesen sei. Außerdem lasse sich schon eine Zuständigkeit des Landes Nordrhein-Westfalen nicht feststellen.
Das Verwaltungsgericht Berlin berichtet in einer Pressemitteilung vom 7. Februar 2024 über eine neuerliche Eilentscheidung des Gerichts vom 5. Februar 2024 (Az. VG 24 L 6/24), mit der die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen ein vom Bezirksamt Berlin Pankow erneut ausgesprochenes Baumfällverbot angeordnet wurde. In dem Verfahren geht es um die geplante Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft, die das Bezirksamt offenbar verhindern will. Bereits im Januar hatte das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren ein früheres Fällverbot des Bezirksamts als voraussichtlich rechtswidrig eingeschätzt (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 128 sowie aktuell die LTO).
Wer sich nicht nur für flüchtlingsrechtliche Rechtsprechung aus Deutschland interessiert, sondern auch an Gerichtsentscheidungen aus anderen Ländern interessiert ist, der ist bei den ELENA Weekly Legal Updates richtig. Die vom Europäischen Flüchtlingsrat ECRE herausgegebenen ELENA Weekly Legal Updates berichten in Form eines E-Mail-Newsletters in der Regel wöchentlich unter anderem über aktuelle Rechtsprechung aus Europa, wobei nicht nur Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgedeckt werden, sondern jedenfalls mitunter auch nationale Gerichtsentscheidungen.