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Ausgabe 172 • 22.11.2024

Rational nachvollziehbar

Das Bundesverwaltungsgericht hat über die ersten Tatsachenrevisionen entschieden (nämlich zur Lage von Schutzberechtigten in Italien), das Verwaltungsgericht Trier argumentiert mit der GEAS-Reform (nämlich der neuen Asylverfahrensverordnung) und das Verwaltungsgericht Düsseldorf und das Verwaltungsgericht Trier halten einige Vorschriften des Asylgesetzes (nämlich § 30 Abs. 1 Nr. 9 AsylG und § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG) für europarechtswidrig. Außerdem geht es um Dublin-Überstellungen von Familien nach Italien, um Erkenntnismittellisten, erneut um Abschiebungsandrohungen bei laufendem Asylverfahren eines Kindes, um die Unterbrechung von Dublin-Überstellungsfristen, um Verfolgung in Syrien und um Ausreisegewahrsam bei unverschuldeter Nichtausreise und Abschiebungshaft bei fehlender Fluchtgefahr.

Dublin-Verfahren usw.

Bundesverwaltungsgericht hat über Italien-Tatsachenrevision entschieden

Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 21. November 2024 über seine zwei Urteile vom selben Tag (Az. 1 C 23.23 und 1 C 24.23), in denen es erstmals über Tatsachenrevisionen gemäß § 78 Abs. 8 AsylG entschieden hat, nämlich zur Situation alleinstehender, erwerbsfähiger und nichtvulnerabler international Schutzberechtigter in Italien. In den Entscheidungen, die im Volltext noch nicht vorliegen, schlägt sich das Gericht auf die Seite des Oberverwaltungsgerichts Koblenz, dessen Beurteilung der Lage in Italien in zwei Urteilen von Ende 2023 es für zutreffend hält.

Danach sei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass nach Italien zurückkehrende Schutzberechtigte der genannten Gruppe dort in eine extreme materielle Notlage geraten würden, die es ihnen nicht erlaube, ihre elementarsten Grundbedürfnisse hinsichtlich Unterkunft, Ernährung und Hygiene zu befriedigen. Sie könnten voraussichtlich zumindest in temporären Unterkünften oder Notschlafstellen mit grundlegenden sanitären Einrichtungen unterkommen, die von kommunalen Stellen sowie kirchlichen und anderen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen angeboten werden, und ihre weiteren Grundbedürfnisse einschließlich des Verpflegungsbedarfs durch eigenes Erwerbseinkommen decken, zu dem gegebenenfalls Unterstützungsleistungen der genannten Stellen hinzuträten. Diese Einschätzung treffe auch auf weibliche Schutzberechtigte zu, eine medizinische Grundversorgung sei ebenfalls gewährleistet.

Es sei vor diesem Hintergrund an die Begründung des Gesetzgebers bei der Einführung von § 78 Abs. 8 AsylG erinnert (BT-Drs. 20/4327 vom 8. November 2022, S. 43): „Die Erweiterung der Revisionsmöglichkeit vor dem Bundesverwaltungsgericht auf asyl-, abschiebungs- und überstellungsrelevante Tatsachenfragen entbindet die Behörden und die Gerichte nicht von ihrer Pflicht zur Einzelfallprüfung und tagesaktuellen Erfassung und Bewertung der Tatsachengrundlagen, sodass weiterhin keine Pauschalisierungen hinsichtlich der Frage der Schutzberechtigung von Asylantragstellenden zulässig sind. Die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts werden jedoch dem Bundesamt und den Gerichten der unteren Instanzen als Orientierungspunkte dienen und für diese verlässliche Prüfungsmaßstäbe schaffen.“

Asylverfahrensrecht

Unionsrechtswidrigkeit des § 30 Abs. 1 Nr. 9 AsylG

Es spricht vieles dafür, so das Verwaltungsgericht Trier in seinem Beschluss vom 15. Juli 2024 (Az. 6 L 2421/24.TR), dass § 30 Abs. 1 Nr. 9 AsylG unionsrechtswidrig ist und darum nicht angewendet werden darf. Die Vorschrift erlaube es, einen unbegründeten Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer entgegen einem Einreise- und Aufenthaltsverbot in das Bundesgebiet eingereist ist, was in Art. 31 Abs. 8 der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU keine Grundlage finde. Auch Art. 42 Abs. 1 der neuen EU-Asylverfahrensverordnung 2024/1348, die die Asylverfahrensrichtlinie ablösen werde, enthalte keine Ermächtigung zum Erlass einer Vorschrift mit dem Inhalt des § 30 Abs. 1 Nr. 9 AsylG.

Asylverfahrensrecht

Unionsrechtswidrigkeit des § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG

Wenn ein Ausländer nach einem Asylverfahren in Deutschland das Bundesgebiet verlassen hat und später in Deutschland einen weiteren Asylantrag stellt, kommt seine Abschiebung auf der Grundlage der Abschiebungsandrohung aus den Erstverfahren nur in Anwendung der Vorschrift des § 71 Abs. 6 S. 1 AsylG in Betracht, die aber nicht mit unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, sagt das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 31. Oktober 2024 (Az. 21 L 1870/24.A). Die Norm verstoße aus verschiedenen Gründen gegen die EU-Rückführungsrichtlinie 2008/115, etwa weil gemäß deren Art. 6 Abs. 1 im Zusammenhang mit der Ablehnung des Folgeantrags eine (neue) Rückkehrentscheidung zu erlassen sei und weil gemäß deren Art. 7 Abs. 1 eine (neue) Frist für eine freiwillige Ausreise zu gewähren sei. Insgesamt sei davon auszugehen, dass das Unionsrecht gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der einer Rückkehrentscheidung nachgekommen sei, bei einem erneuten illegalen Aufenthalt den Erlass einer neuen, aktuellen Rückkehrentscheidung verlange. Dies gelte auch dann, wenn die durch Rückkehr erfüllte Rückkehrentscheidung im Rahmen eines Verfahrens auf Zuerkennung internationalen Schutzes ergangen sei und der Drittstaatsangehörige nach seiner Wiedereinreise einen Folgeantrag stelle.

Asylverfahrensrecht

Kein pauschaler Verweis auf Erkenntnismittelliste

Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hält es in seinem Beschluss vom 7. November 2024 (Az. A 12 S 1230/24) für möglich, dass ein zur Zulassung der Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil führender Begründungsmangel im Einzelfall dann vorliegen kann, wenn das Verwaltungsgericht zwar eine umfangreiche Erkenntnismittelliste in das Verfahren eingeführt hat, in den Entscheidungsgründen jedoch lediglich pauschal auf die Erkenntnismittelliste verweist. Ein umfassender Verweis „unter Berücksichtigung der Erkenntnismittellage“ könne unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht mehr rational nachvollziehbar sein und damit die Voraussetzung für eine Nichtbegründung im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO erfüllen.

Asylverfahrensrecht

Immer noch keine Abschiebungsandrohung bei laufendem Asylverfahren eines Kindes

Das Oberverwaltungsgericht Bautzen sieht in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2024 (Az. 4 A 303/23.A) keine grundsätzliche Bedeutung der Frage, ob der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden worden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG das Kindeswohl oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes oder des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet lediglich gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist. Die Frage sei in der Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt, zuletzt etwa vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 27. Juni 2024 (Az. 4 LA 21/24) (siehe dazu ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 153), und lasse sich in dem Sinn beantworten, dass es nicht darauf ankomme, ob der Aufenthalt des betreffenden Kindes oder Familienmitglieds dauerhaft oder jedenfalls zunächst nur auf die Dauer des Asylverfahrens beschränkt rechtmäßig sei, zumal keinesfalls sichergestellt sei, dass es sich dabei um einen nur kurzfristigen Aufenthalt handele.

Dublin-Verfahren usw.

Ablauf der Überstellungsfrist trotz Rechtsbehelf

Nicht jeder gegen einen Dublin-Bescheid ergriffene Rechtsbehelf unterbricht die Überstellungsfrist, erklärt das Verwaltungsgericht München in seinem Urteil vom 24. Oktober 2024 (Az. M 19 K 23.50110). Aus dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO und aus dem auf eine schnelle Klärung der Zuständigkeitsfrage gerichteten Sinn und Zweck der Dublin-III-VO ergebe sich vielmehr, dass ein die Überstellungsfrist unterbrechender Rechtsbehelf im Sinne des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO nur die zur Vermeidung der Bestandskraft der Überstellungsentscheidung gegen diese gerichtete Klage und ggf. ein in diesem Zusammenhang gestellter, fristgebundener Eilantrag sei. Ein späterer Antrag auf Abänderung nach § 80 Abs. 7 VwGO bzw. auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO mit dem Ziel, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufzugeben, die zuständige Ausländerbehörde anzuweisen, die Abschiebung eines Klägers auf der Grundlage der betreffenden Abschiebungsanordnung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu unterlassen, habe sowohl hinsichtlich des Wortlauts als auch des Regelungsgehalts eine andere Bedeutung und unterbreche den Lauf der Überstellungsfrist nicht.

Dublin-Verfahren usw.

Dublin-Überstellungen von Familien nach Italien möglich

In insgesamt 14 Urteilen hat das Oberverwaltungsgericht Schleswig am 26. September 2024 (Az. 4 LB 6/23, 4 LB 9/23, 4 LB 11/23, 4 LB 12/23, 4 LB 13/23, 4 LB 14/23 und 4 LB 22/23), am 4. Oktober 2024 (Az. 4 LB 2/23, 4 LB 5/23, 4 LB 15/23, 4 LB 16/23, 4 LB 17/23 und 4 LB 18/23) und am 8. Oktober 2024 (Az. 4 LB 20/23) über die Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen von Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien entschieden und diese Zulässigkeit in allen Verfahren bejaht. Über das Urteil vom 4. Oktober 2023 (Az. 4 LB 2/23) wurde hier bereits berichtet (siehe HRRF-Newsletter Nr. 169), das Oberverwaltungsgericht hat in allen Urteilen die Tatsachenrevision zugelassen, weil seine Beurteilung der aktuellen allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für Familien mit minderjährigen Kindern von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Koblenz (Beschluss vom 23. Januar 2024, Az. 13 A 10945/22) abweiche.

Dublin-Verfahren usw.

Kein Flüchtigsein ohne Bescheid

Rechtsanwalt Marcel Keienborg berichtet in seinem Blog über den Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 28. Oktober 2024 (Az. 10 L 927/24.A), wonach die wirksame Verlängerung einer Dublin-Überstellungfrist voraussetzt, dass eine entsprechende Überstellungsentscheidung bereits ergangen ist und der Betroffene davon Kenntnis hat. Ansonsten fehle es an der Kausalität eines Untertauchens für die Unmöglichkeit der Überstellung, weil die rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung dann bereits auf der fehlenden Abschiebungsanordnung beruhe, ohne die die betroffene Person nicht vollziehbar ausreisepflichtig sei. Außerdem könne eine Entziehungsabsicht regelmäßig nicht angenommen werden, wenn die Abschiebungsanordnung noch nicht an die betroffene Person zugestellt worden sei und diese folglich noch keine Kenntnis von der Überstellungsentscheidung haben könne. Die Absicht, sich der bevorstehenden Überstellung zu entziehen, setze nämlich denknotwendig die Kenntnis von der vollziehbaren Ausreisepflicht voraus.

Materielles Flüchtlingsrecht

Keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für syrische Staatsbedienstete

Syrischen Staatsbediensteten, die das Land ohne die erforderliche Erlaubnis ihrer zuständigen Beschäftigungsstelle verlassen haben, droht in der Gesamtbetrachtung ohne Hinzutreten besonderer gefahrerhöhender Umstände im Falle einer Rückkehr nach Syrien keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung, meint das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 12. November 2024 (Az. 2 LB 103/23). Selbst dann, wenn in solchen Fällen eine schwere Strafe drohen sollte, sei nur bei Vorliegen besonderer gefahrerhöhender Umstände davon auszugehen, dass diese Strafe an eine vermeintliche oppositionelle Gesinnung des Betroffenen anknüpfe. Zwar werde die Situation von Männern, die sich dem Wehrdienst in Syrien entzogen hätten, von den Oberverwaltungsgerichten Berlin-Brandenburg und Bremen anders eingeschätzt, ansonsten sei die obergerichtliche Rechtsprechung jedoch nahezu einheitlich und verneine ganz überwiegend eine politische Verfolgung. Die Zulassung der Tatsachenrevision gemäß § 78 Abs. 8 AsylG sei nicht geboten, weil sie in dieser Situation der mit der Vorschrift verfolgten Effektivierung der Asylgerichtsverfahren zuwiderliefe.

Abschiebungshaftrecht

Kein Ausreisegewahrsam nach unverschuldeter Nichtausreise

Ein vollziehbar zur Ausreise verpflichteter Ausländer ist während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe wegen einer Straftat, die er ohne Kenntnis davon begangen hat, wann die ihm gesetzte Ausreisepflicht beginnt und endet, im Sinne des § 62b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG unverschuldet an der Ausreise gehindert, weswegen auf Grundlage dieser Norm kein Ausreisegewahrsam gegen ihn angeordnet werden darf, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 29. Oktober 2024 (Az. XIII ZB 53/21). Sei es einem Ausländer wie hier im Falle einer Inhaftierung objektiv unmöglich, seiner Pflicht zur freiwilligen Ausreise nachzukommen, so könne ein Verschulden nur angenommen werden, wenn der Ausländer den Hinderungsgrund in dem Wissen oder zu dem Zweck herbeigeführt habe, damit die Ausreise zu vereiteln. Dieses Verschulden müsse sich auf eine bestehende und konkret bevorstehende Ausreisepflicht beziehen, während die bloß abstrakte Möglichkeit, dass eine solche Ausreisepflicht entstehen werde, nicht genüge.

Abschiebungshaftrecht

Keine Fluchtgefahr bei Abschiebungsanordnung

Das Landgericht Paderborn weist in seinem Beschluss vom 22. August 2024 (Az. 5 T 155/24) darauf hin, dass bei der Anordnung von Überstellungshaft die Annahme einer Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG schon dem Wortlaut der Norm nach zwingend voraussetzt, dass dem Ausländer eine Ausreisefrist eingeräumt wurde. Wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Dublin-Fällen eine Abschiebungsanordnung gemäß § 34a AsylG erlassen habe, dann werde dem Ausländer gerade keine Ausreisefrist gesetzt, so dass eine Inhaftierung nicht auf eine Fluchtgefahr wegen des Verstreichens einer Ausreisefrist gestützt werden könne.

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