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Schwierige Verhältnisse

Die Rechtsprechung im Asyl- und Migrationsrecht wird gefühlt auch jede Woche politischer. Das liegt wohl weniger an den Gerichten als vielmehr an der neuen Bundesregierung, die mit juristisch zweifelhaftem Aktionismus aufwartet und aufwarten lässt. In dieser Woche geht es dementsprechend um Zurückweisungen, die vielleicht gar keine Zurückweisungen waren, um rechtsverbindliche Aufnahmezusagen, um die drohende Abschiebung eines kurdischen Aktivisten in die Türkei und um vergebliche Versuche des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen zu umgehen. Daneben geht es mal wieder um die Lebensverhältnisse anerkannter Flüchtlinge in Griechenland, die Gewährung vorübergehenden Schutzes bei der Weiterwanderung aus Drittstaaten, um ein aus dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge folgendes automatisches Aufenthaltsrecht und um die Anforderungen an Anträge auf Verlegung einer Haftanhörung.

  • Zurückweisungen gar keine Zurückweisungen?

    Der Spiegel berichtet am 7. Juli 2025 (Paywall) über drei neue Klagen gegen Zurückweisungen Schutzsuchender an deutschen Grenzen. Eine Klage sei noch am Verwaltungsgericht Aachen anhängig, während die Bundespolizei die Kläger in den beiden anderen Verfahren beim Verwaltungsgericht Karlsruhe und beim Verwaltungsgericht München jeweils klaglos gestellt haben soll.

    Der Spiegel-Artikel weiß zu berichten, dass die Bundespolizei die zwei Zurückweisungsbescheide offenbar deshalb aufgehoben und die Kläger klaglos gestellt habe, weil die Kläger gar nicht in Grenznähe aufgegriffen wurden, wie § 15 Abs. 1 AufenthG dies aber voraussetzt („an der Grenze“). Ein Schelm, wer dabei auch an Zurückweisungsstatistiken denkt.

  • Aufnahmezusagen sind rechtsverbindlich

    Bestandskräftige und nicht widerrufene Aufnahmebescheide für afghanische Staatsangehörige sind rechtlich verbindlich und verpflichten Deutschland zur Aufnahme, sagt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss vom 7. Juli 2025 (Az. 8 L 290/25 V). Die Aufnahmezusagen begründeten einen Anspruch auf Durchführung des Visumverfahrens im Fall der Visumantragstellung binnen zwölf Monaten ab Bekanntgabe des Bescheides sowie auf Erteilung der Visa, sofern die Identität der Visumantragstellenden geklärt sei und gegen sie keine Sicherheitsbedenken bestünden. Dass das Aufnahmeverfahren derzeit insgesamt ausgesetzt sei, ändere an diesem Anspruch nichts, weil sich die Bundesrepublik von einer freiwillig zu einem frühen Zeitpunkt im Aufnahmeverfahren eingegangenen und weiter wirksamen Bindung nicht dadurch lösen könne, dass sie die Beendigung des Aufnahmeprogramms prüfe. Die Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei hier gerechtfertigt, weil eine absehbare Abschiebung der Antragstellenden von Pakistan nach Afghanistan mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zu schweren und unzumutbaren, anders nicht abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache sehr wahrscheinlich nicht mehr in der Lage wäre. Das Verwaltungsgericht hat zu seinem Beschluss auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

    Wenn man den Beschluss so liest, dann kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass die Entscheidung auch anders hätte ausfallen können: Die Rechtslage ist schon ziemlich eindeutig, und das wird die Bundesregierung gewusst haben, als sie sich verklagen ließ. Es geht hier wohl auch darum, sich als „Opfer“ der Justiz in Szene setzen zu können.

  • VG Lüneburg in der Kritik

    Das Verwaltungsgericht Lüneburg ist in die Kritik geraten, weil es am 11. Juni 2025 einem Eilantrag des kurdischen Aktivisten Mehmet Çakas auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung seines Asylfolgeantrags nicht stattgegeben hat. Çakas verbüßt derzeit noch eine Strafhaft in Deutschland, soll aber in die Türkei abgeschoben werden. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts liegt (noch) nicht im Volltext vor, die Pressestelle des Gerichts hat aber immerhin diese Zusammenfassung geschickt:

    Es ist korrekt, dass der Antrag von Herrn Çakas auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 11. Juni 2025 abgelehnt worden ist.
    
    Bei dem Verfahren handelt es sich um ein Asylfolgeverfahren.
    
    Nach den Ausführungen in dem Beschluss vom 11. Juni 2025 sei der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unbegründet, da keine ernstlichen Zweifel (§§ 71 Abs. 1, Abs. 4, 36 Abs. 4 AsylG) an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bestünden. Der Einzelrichter folge den Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Der Antragsteller sei am 10. April 2024 vom OLG Celle - 4 St 3/23 - wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Grundlage seien PKK-Unterstützungshandlungen als PKK-Gebietsleiter Bremen im Zeitraum von Juli 2019 bis Juni 2021 (Urteil S. 13), was im letzten Asylverfahren des Antragstellers, welches mit Einstellungsbeschluss des hiesigen Gerichts vom 16. August 2021 - 4 A 269/19 - geendet habe, hätte vorgebracht werden müssen. Die Verurteilung selbst stelle keine neue Sachlage dar, die zum Wiederaufgreifen führen könne.
    
    Die Ablehnung der Abänderung hinsichtlich zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, 7 AsylG begegne keinen rechtlichen Bedenken. Auch hier gelte, dass die Gründe für Abschiebungsverbote bereits im vorigen Verfahren hätten geltend gemacht werden müssen. Soweit die Antragsschrift drohende unmenschliche Haftbedingungen vortrage, sei nicht erkennbar, dass sich die Situation der Haftbedingungen seit August 2021 signifikant verändert habe, so dass in dieser Hinsicht auch keine neue Sachlage erkennbar geworden sei.

    Das Bundesamt hat den Folgeantrag offenbar als unzulässig (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG) abgelehnt, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Dezember 2019 (Az. 2 BvR 1600/19) nur dann für erlaubt gehalten hat, wenn „das Folgeantragsvorbringen von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen“ (Rn. 24), was für die zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote wohl entsprechend gelten muss. Ein Folgeantrag ist bereits dann zulässig, so dass ein weiteres Asylverfahren durchgeführt werden muss, wenn „der Asylbewerber eine Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder der sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt“ (Rn. 20). Es geht hier also nicht darum, dass die Verhältnisse oder Lebensbedingungen oder sonstige Umstände sich tatsächlich geändert haben (auch wenn § 51 Abs. 1 VwVfG das so sagt), sondern nur darum, dass dies glaubhaft und substantiiert vorgetragen, also behauptet, wurde. Es fällt mir schwer anzunehmen, dass das hier nicht der Fall gewesen sein soll.

  • Schwierige Verhältnisse in Griechenland zumutbar

    Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit anerkannter Flüchtlinge in Griechenland über einen längeren Zeitraum begründen noch nicht die Gefahr der Verelendung, sagt das Verwaltungsgericht Regensburg in seinem Urteil vom 1. Juli 2025 (Az. RN 16 K 24.32044). Betroffenen könnten schwierige Verhältnisse zugemutet werden, außerdem existierten in Griechenland Hilfsangebote karitativ tätiger Organisationen.

    Das Urteil ist etwas lieblos zusammengestückelt, wenn man das so sagen darf. Die Ausführungen des Gerichts passen nicht zum Sachverhalt, weil sie überwiegend im Konjunktiv verfasst sind, obwohl der Kläger mittlerweile nach Griechenland abgeschoben wurde und dort tatsächlich obdach- und arbeitslos ist, was das Gericht im Tatbestand noch zutreffend zusammenfasst. Ich verstehe schon, dass Verwaltungsgerichte in asylgerichtlichen Verfahren mit Textbausteinen arbeiten (müssen), aber etwas mehr Liebe zum Detail (und zum tatsächlichen Sachverhalt) müsste man doch erwarten können.

  • Schon wieder die Rechtskraft

    Auch das Verwaltungsgericht Münster meint in seinem Beschluss vom 8. Juli 2025 (Az. 2 L 747/25.A), dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung nicht einfach noch einmal denselben Bescheid erlassen darf, der vom Gericht zuvor aufgehoben wurde, wenn sich keine Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben hat, die eine Durchbrechung der Rechtskraft (ausnahmsweise) rechtfertigen könnte. Das hatte das Verwaltungsgericht Aachen unlängst genauso gesehen.

    Was (und wer) das Bundesamt zu einer solchen Herangehensweise verleitet hat, und warum, ist mir nicht so wirklich klar, und dem Bundesamt vielleicht auch nicht. Klar ist dagegen, dass Verwaltungsgerichte ziemlich humorlos sein können.

  • Vorübergehender Schutz auch bei Weiterwanderung aus Drittstaaten

    In der Rechtsprechung zur Gewährung vorübergehenden Schutzes für aus der Ukraine geflüchtete Menschen ist mittlerweile geklärt, dass Schutzberechtigte innerhalb der EU weiterwandern dürfen und dass vorübergehender Schutz auch in mehreren EU-Staaten gleichzeitig beantragt werden kann. Nicht klar war dagegen bislang, ob auch solche aus der Ukraine geflüchtete Menschen einen Anspruch auf vorübergehenden Schutz haben, wenn sie zunächst in einem Drittstaat außerhalb der EU Schutz gefunden haben und erst später in die EU weiterwandern. Nein, sagt das Bundesinnenministerium in seinem (vierten) Länderrundschreiben zum vorübergehenden Schutz vom 30. Mai 2024 (S. 23), weil sie nicht mehr als „vertrieben“ gelten könnten, wie das der Durchführungsbeschluss des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 jedoch voraussetze. Ja, sagt jetzt das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Urteil vom 18. Juni 2025 (Az. 24 K 7223/24). Weder die Richtlinie 2001/55/EG noch der Durchführungsbeschluss des Rates seien so auszulegen, dass die Länge des Aufenthalts oder eine eventuelle Schutzgewährung in einem Drittstaat eine Vertreibung ausschlössen.

    Das Urteil ist lesenswert, weil es Richtlinie und Durchführungsbeschluss ausführlich und unter Anwendung aller juristischer Auslegungsmethoden interpretiert.

  • Automatisches Aufenthaltsrecht nach Verantwortungsübergang

    Das Europäische Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge (EÜÜVF) regelt an sich nur, wann die Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge von einem Vertragsstaat auf einen anderen Vertragsstaat übergeht, nämlich wenn ein anerkannter Flüchtling zwischen zwei Staaten umzieht und der aufnehmende Staat das erlaubt oder über einen bestimmten Zeitraum duldet. Es ist in der deutschen obergerichtlichen Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt, wann so ein Verantwortungsübergang genau eintritt, und ob daraus vielleicht nicht nur ein Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises, sondern auch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels folgt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ist in seinem Urteil vom 5. Juni 2025 (Az. 13 LC 234/23) großzügig und meint, dass aus dem Übergang der Verantwortung auf Deutschland automatisch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis folgt, nämlich aus einer analogen, europarechtskonformen Anwendung von § 25 Abs. 2 AufenthG. Da andere Oberverwaltungsgerichte das anders sehen (etwa der VGH Kassel im November 2024), oder aber auch nicht (so der VGH München im Januar 2025), hat das Oberverwaltungsgericht die Revision zugelassen.

    Die Thematik des Verantwortungsübergangs auf Grundlage des EÜÜVF ist vergleichsweise komplex, aber im Kontext der Sekundärmigration anerkannter Flüchtlinge zwischen verschiedenen EU-Staaten praktisch häufig bedeutsam. Fragen des Verantwortungsübergangs stellen sich nicht nur im Rahmen des EÜÜVF, das ein völkerrechtlicher Vertrag ist, sondern auch im Rahmen des europäischen Asylrechts, und irgendwie sind die beiden an sich getrennten Rechtskreise des Völkerrechts und des Europarechts doch miteinander verbunden, etwa weil das Oberverwaltungsgericht bei der Anwendung des EÜÜVF sonst keine gerade „europarechtskonforme“ Auslegung des deutschen Rechts hätte vornehmen können. Die Lektüre des verständlich geschriebenen Urteils eignet sich zum Einstieg in diese Regelungsmaterie.

  • Verlegung der Haftanhörung nur bei erheblichem Grund

    Der Bundesgerichtshof meint in seinem Beschluss vom 27. Mai 2025 (Az. XIII ZB 71/24), dass bei der Anordnung von Abschiebungshaft kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vorliegt, wenn das Haftgericht einen kurz vor einem Anhörungstermin gestellten Verlegungsantrag eines Rechtsanwalts ablehnt, wenn dieser keinen erheblichen Grund für die beantragte Terminsverlegung genannt hat, und die Anhörung dann ohne den Rechtsanwalt erfolgt.

    Es ist eigentlich immer schon so gewesen, dass man einen Verlegungsantrag begründen muss und dass man dafür einen erheblichen Grund braucht, siehe §§ 32 FamFG, 227 ZPO. Warum der Bundesgerichtshof zu dieser Frage gerade jetzt eine Leitsatzentscheidung veröffentlichen muss, erschließt sich mir nicht.

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    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiß auch nicht mehr weiter und erklärt sich für unzuständig, wenn es um die Externalisierung von Pushbacks im Mittelmeer geht. Dafür scheint aber in der beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Schadensersatzklage gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex das letzte Wort noch nicht gesprochen zu…

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ISSN 2943-2871