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Übergesetzlicher Gnadentatbestand

In dieser Woche erwartet Sie hier ein überaus buntes Bild aktueller migrations- und flüchtlingsrechtlicher Rechtsprechung. Es geht um systemische Mängel in Polen, einen Resettlement-Flug aus Kenia, die Lage in Syrien, mögliche Kampfeinsätze russischer Wehrpflichtiger, die Verlängerung einer Härtefall-Aufenthaltserlaubnis, Schleuserkriminalität und um Verfahrenskostenhilfe in Abschiebungshaftverfahren.

  • Systemische Schwachstellen in Polen

    Im polnischen Asylsystem gibt es derzeit systemische Schwachstellen, die eine Dublin-Überstellung von Schutzsuchenden in das Land generell ausschließen, jedenfalls wenn sie über Belarus nach Polen eingereist sind, sagt das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Urteil vom 15. Oktober 2025 (Az. 15 A 5036/24). Polen verweigere Dublin-Rückkehrern die Wiederaufnahme ihres Asylverfahrens und verweise sie stattdessen darauf, einen neuen Asylantrag in Form eines Folgeantrags zu stellen. Außerdem verweigere Polen aktuell landesweit die Annahme von Asylanträgen von Personen wie dem Kläger, die irregulär über Belarus nach Polen eingereist seien. Die daraus folgenden Bedenken würden nicht dadurch ausgeräumt, dass die polnischen Behörden sich gegenüber dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Wiederaufnahme des Klägers bereit erklärt hätten, weil diese Zusage bereits vor der Aussetzung des Rechts auf Asyl in Polen erfolgt sei und polnische Zusicherungen ohnehin nicht vertrauenswürdig seien.

    Dass der von der polnischen Regierung offen praktizierte Ausschluss von über Belarus eingereisten Schutzsuchenden vom Zugang zu einem Asylverfahren für Betroffene zur Annahme einer systemischen Schwachstelle im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO führen muss, liegt wohl auf der Hand. Die weitere Frage, ob man auch ansonsten vom Vorliegen einer systemischen Schwachstelle ausgehen muss, beantwortet das Urteil nicht ausdrücklich, sondern lediglich indirekt, indem es auf die polnische Praxis des Verweises auf die Stellung eines Folgeantrags hinweist (S. 9, 14f.). In dem überaus umfangreichen Urteil kam es auf den Zustand des polnischen Asylsystems eigentlich auch gar nicht an, weil die Behörden in dem Verfahren aus Sicht des Gerichts fälschlicherweise davon ausgegangen waren, dass der Kläger flüchtig war (und das Gericht darüber täuschen wollten, S. 20), die Dublin-Überstellungsfrist also längst abgelaufen war (S. 19f.). Gleichwohl zeichnet das Urteil ein umfassendes Bild der polnischen Asylpolitik der vergangenen Jahre (S. 10ff.), der heutigen Gesetzeslage in Polen (S. 13ff.) und der Unzuverlässigkeit von Zusicherungen polnischer Behörden (S. 16f.).

  • Informelle Bekanntgabe eines Aufnahmebescheids

    Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg geht in seinem Beschluss vom 29. Oktober 2025 (Az. OVG 3 S 113/25) davon aus, dass ein Resettlement-Aufnahmebescheid gemäß § 23 AufenthG auch anders als durch Aushändigung des schriftlichen Bescheids bekanntgegeben und damit wirksam werden kann, und hat die Bundesregierung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, der sich in Kenia aufhaltenden Klägerin die Einreise nach Deutschland zu ermöglichen. In der Behördenakte befinde sich ein unterschriebener und mit einer Rechtsmittelbelehrung versehener Aufnahmebescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Dieser Bescheid sei der Antragstellerin zwar nicht ausgehändigt worden, jedoch könne ein Verwaltungsakt nach § 37 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nicht nur schriftlich oder mündlich, sondern auch in anderer Weise, etwa durch konkludentes Verhalten, erlassen und auch bekanntgegeben werden.

    In dem Verfahren seien für die Antragstellerin ein Visumverfahren und ein Verfahren zur Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer eingeleitet worden, sei eine Gesundheitsprüfung durchgeführt worden und hätte die Antragstellerin an einem kulturellen Vorbereitungskurs für eine Aufnahme in Deutschland teilnehmen können. Dies hätte sie nur so verstehen können, dass die Aufnahmeentscheidung schon zu ihren Gunsten getroffen worden sei. Selbst wenn man dies anders sehen wollte, sei die Bekanntgabe der Aufnahmeentscheidung jedenfalls dadurch erfolgt, dass der Antragstellerin ein Flugplan übermittelt wurde, wonach sie am 8. Mai 2025 von Nairobi nach Deutschland geflogen werden sollte, und sie zu diesem Zweck Anfang Mai nach Nairobi geflogen worden sei. Die Mitteilung des Flugplans verbunden mit detaillierten Anweisungen zum mitzuführenden Gepäck und der nachfolgende Transfer nach Nairobi hätten nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt nur als Mitteilung der verbindlichen Entscheidung über die Aufnahme in Deutschland verstanden werden können.

    Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg argumentiert durchaus kreativ, wenn es die Bekanntgabe des Aufnahmebescheids begründet. In dem Verfahren ging es um eine aus dem Südsudan stammende chronisch kranke Frau und ihre Familienangehörigen, die Anfang Mai 2025 in Nairobi auf den Flug nach Deutschland warteten, bevor der Flug aus bekannten politischen Gründen kurzfristig abgesagt wurde. Dem Beschluss ist eine weite Verbreitung zu wünschen, wie dies etwa bereits hier geschieht.

  • Keine willkürliche Gewalt oder Verelendung in Syrien

    Das Verwaltungsgericht Düsseldorf informiert in einer Pressemitteilung vom 5. November 2025 über zwei in Verfahren des Eilrechtsschutzes ergangene Beschlüsse vom 4. November 2025 (Az. 17 L 3613/25.A und 17 L 3620/25.A), in denen es entschieden hat, dass Rückkehrern nach Syrien dort keine relevanten Gefahren mehr drohen. In den Heimatregionen der beiden Betroffenen, den Provinzen Damaskus und Latakia, sei das Ausmaß willkürlicher Gewalt nicht derart hoch, dass sie allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt wären. Sofern es noch Gewalt gebe, handele es sich um Einzelfälle, die in der Gesamtschau unbeachtlich seien. Ebenso wenig drohe Syrern bei Rückkehr nach Syrien eine Verelendung, weil Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen könnten, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschlössen.

    Die beiden Beschlüsse sind in Hinblick auf die Beschreibung und Bewertung der Situation in Syrien fast identisch, ansonsten unterscheiden sie sich lediglich darin, dass im Verfahren 17 L 3613/25.A zusätzlich noch die Frage im Raum stand, ob die Aufenthaltsgestattung eines Familienangehörigen nach § 55 AsylG dem Erlass einer Abschiebungsandrohung entgegensteht. Auch diese Frage verneinte das Verwaltungsgericht.

  • Grundsätzliche Bedeutung möglicher Kampfeinsätze russischer Wehrpflichtiger

    Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat in seinem Beschluss vom 18. Juli 2025 (Az. 2 A 541/24.A) die Berufung in einem asylgerichtlichen Verfahren im Hinblick auf die Frage zugelassen, ob wehrdiensttauglichen russischen Staatsangehörigen im wehrdienstpflichtigen Alter, die noch keinen Grundwehrdienst geleistet haben, auch und gerade im Falle einer tschetschenischen Abstammung bei einer Rückführung in die Russische Föderation die unmittelbare Einziehung zur Erfüllung der Wehrpflicht und der Einsatz zu Kampfhandlungen in der Ukraine droht. Die Frage habe grundsätzliche Bedeutung, weil sie in der erstinstanzlichen Rechtsprechung, nämlich bei den Verwaltungsgerichten Chemnitz und Dresden, unterschiedlich beantwortet werde.

    Der Antrag auf Zulassung der Berufung war vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt worden. Obergerichtliche Rechtsprechung gibt es etwa bereits vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, das im August 2024 einen Einsatz in der Ukraine im Fall einer Einberufung zum Grundwehrdienst für unwahrscheinlich gehalten hatte.

  • Perpetuierter Gnadenakt bei Aufenthaltsgewährung in Härtefällen

    Dass die in § 23a AufenthG geregelte Aufenthaltsgewährung in Härtefällen aufgrund des Ersuchens einer Härtefallkommission eine Art Gnadenrecht darstellt, das nicht eingeklagt werden kann, ist in der Rechtsprechung anerkannt. Was aber, wenn auf Grundlage von § 23a AufenthG ein befristeter Aufenthaltstitel erteilt wurde, der verlängert werden muss: Ist auch das ein Gnadenakt, der außerhalb rechtlicher Kontrolle steht und insbesondere von den Verwaltungsgerichten nicht überprüft werden kann? Im Prinzip ja, sagt jetzt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim in seinem Beschluss vom 20. Oktober 2025 (Az. 11 S 1807/25). Die Aufenthaltsgewährung in Härtefällen sei ein „übergesetzlicher Gnadentatbestand“, stehe gemäß § 23a Abs. 1 S. 4 AufenthG ausschließlich im öffentlichen Interesse und begründe keine eigenen subjektiven Rechte des Ausländers. An diesem Ergebnis ändere sich nichts, wenn es nicht um die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage von § 23a Abs. 1 AufenthG gehe, sondern um deren Verlängerung, weil nach Maßgabe des § 8 Abs. 1 AufenthG auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis dieselben Vorschriften Anwendung fänden wie auf die Erteilung, so dass die maßgebliche rechtliche Grundlage, die hier ausschließlich öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt sei, dieselbe bleibe.

    Wenn sich diese Rechtsmeinung durchsetzt, dann müsste man allen Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23a Abs. 1 AufenthG doch raten, möglichst rasch die Voraussetzungen für den Erhalt eines anderen Aufenthaltstitels zu schaffen: Jedenfalls mit einem solchen Zweckwechsel dürfte die Perpetuierung des Gnadenakts entfallen.

  • Keine grundsätzliche Bedeutung von Schleuserkriminalität

    Auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg meint in seinem Beschluss vom 23. Oktober 2025 (Az. 2 LA 83/24), dass „Schleuserkriminalität“ (§§ 96, 97 AufenthG) nicht automatisch den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderläuft. Wenn dem so wäre, so das Oberverwaltungsgericht, dann wären Schleuser wegen § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG immer von der Erteilung der Flüchtlingseigenschaft auszuschließen bzw. wäre diese zu widerrufen, ganz so einfach sei es aber nicht. Zum einen komme es ohnehin immer auf die Umstände des Einzelfalles an, weil die in §§ 96, 97 AufenthG unter Strafe gestellten Delikte so vielfältig und insbesondere auch unterschiedlich schwer seien. Zum anderen hätten die Vereinten Nationen zwar ein Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität mit einem Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg erlassen, darin finde sich aber keine eindeutige Aussage, dass die Schleusertätigkeit gegen die Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen verstoße; vielmehr ziele das Zusatzprotokoll auf den Schutz der eingeschleusten Migranten.

    In dem Verfahren hat das Oberverwaltungsgericht einen Antrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf Zulassung der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil der 2. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover vom 3. Juli 2024 (Az. 2 A 1297/24) abgelehnt, weil eine (allein geltend gemachte) grundsätzliche Bedeutung nicht erkennbar sei. In der Sache ähnlich hatte es zuvor in einem anderen Verfahren auch schon die 12. Kammer des Verwaltungsgerichts gesehen.

  • Kein unbedingter Anspruch auf Verfahrenskostenhilfe

    Das Recht auf ein faires Verfahren vermittelt einem bedürftigen Betroffenen, der sich gegen eine gerichtlich angeordnete Überstellungshaft wenden will, keinen unbedingten Anspruch auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe, um ihn von Gerichtsgebühren zu entlasten, die für die Übersendung der Gerichtsakten an seinen Verfahrensbevollmächtigten anfallen, meint der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 20. Oktober 2025 (Az. XIII ZB 84/22). Wolle der Betroffene das Risiko vermeiden, für den Fall mangelnder Erfolgsaussicht seiner Rechtsverfolgung die Kosten für die Aktenübersendung zu tragen, die mit der Prüfung der Erfolgsaussicht durch einen rechtlichen Beistand im Hinblick auf einen möglichen Verfahrenskostenhilfeantrag verbunden seien, so stehe es ihm gegebenenfalls frei, für diese Prüfung Beratungshilfe gemäß § 1 Abs. 1 BerHG zu beantragen. Werde Beratungshilfe gewährt, könne der Rechtsanwalt die für die Aktenübersendung angefallenen Kosten ebenfalls von der Staatskasse ersetzt verlangen.

    Hintergrund des Beschlusses ist der Umstand, dass es keine Verfahrenskostenhilfe für das Verfahrenskostenhilfeverfahren gibt. Wer also ein Kostenrisiko vermeiden will, muss den vom Bundesgerichtshof aufgezeigten Weg über die Beratungshilfe gehen, der freilich in Hamburg und Bremen nicht funktioniert (siehe § 12 Abs. 1 BerHG).

  • Initiative für besseren Zugang zu Gerichtsentscheidungen

    Wer kennt es nicht, gerade auch im Migrationsrecht: Da stößt man auf ein Aktenzeichen einer voraussichtlich spannenden und interessanten Gerichtsentscheidung, die aber entweder gar nicht veröffentlicht wurde oder nur in kommerziellen Datenbanken, zu denen man vielleicht keinen Zugang hat. Der HRRF-Newsletter fragt inzwischen stets bei den Pressestellen der Gerichte nach und bittet um Übersendung der Entscheidungen, was erstaunlich gut funktioniert, dieser Weg steht aber nicht allen offen. Abhilfe will nun die neue Plattform und Website Offene Urteile schaffen, bei der unter anderem openJur, FragDenStaat und Transparency International Deutschland zusammenarbeiten. Wenn das Aktenzeichen einer Gerichtsentscheidung bekannt ist, kann das in einem Online-Formular einfach eingetragen werden und die Plattform kümmert sich um den Rest, d.h. die Anforderung der Entscheidung beim Gericht und die anschließende Veröffentlichung auf openJur.

  • Textausgabe Deutsches Migrationsrecht (nach der GEAS-Reform)

    Es ist zu erwarten, dass der Deutsche Bundestag in den kommenden Wochen die beiden deutschen Umsetzungsgesetze zur GEAS-Reform von 2024 verabschieden wird, nämlich das GEAS-Anpassungsgesetz, und, gemeinsam mit dem Bundesrat, das GEAS-Anpassungsfolgengesetz. Diese Umsetzung wird zu umfangreichen Änderungen unter anderem…

  • GEAS-Reform 2024

    Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Mai 2024 wird den Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa verändern, zumindest in unzähligen Details, vermutlich aber jedenfalls auf einer faktischen Ebene auch im Grundsätzlichen. Die GEAS-Reform soll im Juni 2026 in Kraft…

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem deutschsprachige Pressemitteilungen…

ISSN 2943-2871