Mit einem bunten Strauß aktueller asylverfahrensrechtlicher Probleme beschäftigt sich das Verwaltungsgericht München in seinem Gerichtsbescheid vom 6. März 2024 (Az. M 10 K 24.30366) im Kontext der Wahrung von Familieneinheit nach Abschluss eines Asylverfahrens. Aus Europarecht ergebe sich zwar kein Grundsatz, wonach der Schutz des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG begründen könne, weil sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung von nationalem Recht nur auf solches nationales Recht erstrecke, das von Europarecht determiniert bzw. erfasst sei, was bei § 60 Abs. 5 AufenthG nicht der Fall sei. Zur Gewährleistung des Schutzes des Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK folge jedoch aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (Rs. C‑484/22) ein Anspruch auf das Wiederaufgreifen eines Asylverfahrens in Hinblick auf die Aufhebung von Abschiebungsandrohungen sowie der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote.
In zeitlicher Hinsicht dürfte dabei zum einen auf allgemeiner Ebene die tradierte Einschätzung, dass Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union per se keine Änderung der Rechtslage begründen könnten, wegen des Urteils des Gerichtshofs vom 8. Februar 2024 (Rs. C-216/22) wohl nicht mehr uneingeschränkt zutreffen (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 131). Zum anderen stelle jedenfalls der seit dem 27. Februar 2024 geltende § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. eine Rechtslagenänderung dar, die im Kontext des Wiederaufgreifens eines Asylverfahrens zu berücksichtigen sei.
In Hinblick auf die alternative Möglichkeit, statt eines Wiederaufgreifen des Asylverfahrens bei der zuständigen Ausländerbehörde eine Duldung aus Rechtsgründen (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG) wegen eines inländischen Abschiebungshindernisses geltend zu machen, sei eine Duldung schon begriffsmäßig nur eine befristete Aussetzung der Abschiebung, welche die Ausreisepflicht des Ausländers unberührt lasse, während mit einem Wiederaufgreifensantrag im Erfolgsfall die Ausreisepflicht insgesamt beseitigt werden könnte. Dabei sei eine „Duldung ohne Ausreisepflicht“, die sonst wohl nur als Folge einer Titelversagung in Fällen des § 25 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Satz 2 AufenthG bzw. § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ohne gleichzeitiges Vorliegen einer anderweitigen Rückkehrentscheidung vorkommen dürfte, zwar statusmäßig nicht per se höherwertiger als eine „Duldung mit Ausreisepflicht“, bringe aber eben doch einige weitere Vorteile mit sich. So wären bei einer Aufhebung der Abschiebungsandrohung nicht nur das hieran anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben, sondern auch bestimmte ordnungsrechtliche Verfügungen bzw. Beschränkungen dann nicht mehr möglich.
Ein auf die Aufhebung der Abschiebungsandrohung und der hieran anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbote gerichteter Wiederaufgreifensantrag sei auch nicht unzulässig. Es sei zwar richtig, dass nach der Vorstellung des Rückführungsverbesserungsgesetzes mit der neu geschaffenen Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG weiterhin zwischen der asyl- und ausländerrechtlichen Prüfzuständigkeit differenziert werden solle und hinsichtlich bestandskräftiger Altfälle die Ausländerbehörden als „sachnäher“ als das Bundesamt betrachtet würden. Eine trennscharfe Aufteilung zwischen asyl- und ausländerrechtlicher Zuständigkeit im neu geschaffenen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG sei für bestandskräftige Altfälle jedoch nicht ausreichend abgesichert worden und es existiere auch keine Übergangsregelung. Es spreche daher manches dafür, dass der Verzicht des Gesetzgebers auf Aufnahme einer Übergangsregelung zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. für bestandskräftige Altfälle sehenden Auges die Möglichkeit von Betroffenen in Kauf nehme, Wiederaufgreifensanträge an das Bundesamt mit dem Ziel stellen zu können, die vorgesehene Befassung der Ausländerbehörden im Kontext des § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zu umgehen.
Es bestehe eher das praktische Problem, dass Betroffene einer bestandskräftigen Abschiebungsandrohung nicht nur alternativ, sondern auch kumulativ im Weg der Geltendmachung eines Duldungsanspruchs bei der zuständigen Ausländerbehörde und beim Bundesamt im Weg des Wiederaufgreifens des Verfahrens nachträglich inlandsbezogene Sachverhalte geltend machen könnten. Da aber nach allem der Rückgriff auf die allgemeinen Regeln in § 51 VwVfG vom Gesetzgeber in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. mangels Aufnahme einer Übergangsregelung für bestandskräftige Altfälle nicht ausdrücklich ausgeschlossen worden sei, könne Betroffenen die Zulässigkeit eines Wiederaufgreifensantrags nicht mit dem Einwand abgesprochen werden, die Ausländerbehörden seien die sachnähere Behörde.