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Innerer Widerspruch

Wer mag schon innere Widersprüche bei der Anwendung des europäischen Asylrechts? Das Verwaltungsgericht Düsseldorf jedenfalls nicht, das sie allerdings nur mit Hilfe einiger argumentativer Verrenkungen und nur um den Preis eines Widerspruchs zur einschlägigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster vermeidet. Außerdem geht es um Kasachstan, Russland, einen unsubstantiierten Asylbescheid, das Kindeswohl, eine falsche Klageart und erneut um den Asylrichter aus Gera.

  • Unzulässiger Asylantrag nach Gewährung subsidiären Schutzes in Dänemark

    In seinem Urteil vom 3. Juli 2024 (Az. 22 K 3139/23.A) meint das Verwaltungsgericht Düsseldorf, dass die Gewährung subsidiären Schutzes in Dänemark bei einem nachfolgend in Deutschland gestellten Asylantrag die Ablehnung dieses Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG rechtfertigt. Zwar nehme Dänemark nicht am gemeinsamen europäischen Asylsystem teil und habe das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 12. September 2022 (Az. 11 A 369/22.A) aus diesem Grund die Anwendbarkeit von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verneint, das sei aber falsch. Vielmehr sei bei Gewährung subsidiären Schutzes in Dänemark die Ablehnung eines danach in Deutschland gestellten Asylantrags als unzulässig möglich, weil der in Dänemark gewährte Schutz den unionsrechtlichen Schutzgehalten des internationalen Schutzes gemäß der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vergleichbar ausgestaltet sei.

    Das Verwaltungsgericht bezieht sich zur Begründung seines Ansatzes im Wesentlichen auf die drei Urteile des Verwaltungsgerichtshofs München vom 9. Januar 2024 (siehe HRRF-Newsletter Nr. 130), der Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der EU-Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU so interpretiert, dass der dort erwähnte „internationale Schutz“, den ein anderer Mitgliedstaat bereits gewährt hat, breiter zu verstehen ist als der „internationale Schutz“ im Kontext eines Folgeantrags gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d EU-Asylverfahrensrichtlinie: Man kann in Dänemark zwar keinen Antrag auf internationalen Schutz stellen, aber dennoch internationalen Schutz erhalten. Das Verwaltungsgericht sieht hier, wie auch der Verwaltungsgerichtshof, einen ansonsten entstehenden „inneren Widerspruch“ zur auch für Dänemark anwendbaren Dublin-III-Verordnung, der allerdings auch einfach daraus resultieren könnte, dass dem gewünschten Auslegungsergebnis ohne solche argumentativen Verrenkungen die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Wege stehen könnte, insbesondere sein Urteil vom 22. September 2022 (Rs. C-497/21).

  • Kasachstan: Abschiebungsverbot wegen Ausschluss von medizinischer Versorgung

    Das Verwaltungsgericht Magdeburg meint in seinem Urteil vom 24. April 2024 (Az. 3 A 391/21 MD), dass wegen der notwendigen Zuzahlungen für viele medizinische Untersuchungen und der häufig geforderten inoffiziellen Zahlungen in Kasachstan ein großer Teil der Bevölkerung, insbesondere Rentner, von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen ist. Dies könne bei entsprechenden Vorerkrankungen oder Vulnerabilitäten von Betroffenen eine konkrete erhebliche Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen.

  • Interner Schutz in Russland bei drohender Verfolgung in Tschetschenien

    Das Oberverwaltungsgericht Greifswald geht in seinem Urteil vom 17. Juni 2024 (Az. 4 LB 215/20 OVG) davon aus, dass bei drohender Verfolgung durch tschetschenische Sicherheitsbehörden regelmäßig interner Schutz in anderen Landesteilen Russlands zugänglich ist, so dass Betroffene keine Anerkennung als Flüchtling erreichen können. Die Macht der tschetschenischen Sicherheitskräfte sei außerhalb Tschetscheniens formal und faktisch durch den Herrschaftsanspruch der föderalen russischen Sicherheitsbehörden eingeschränkt, die sich zum Teil weigerten, mit den tschetschenischen Behörden zusammenzuarbeiten. Es sei darum nach wie vor davon auszugehen, dass Personen aus Tschetschenien in anderen Landesteilen Russlands internen Schutz in Anspruch nehmen könnten, solange sie nicht in besonderer Weise politisch in Erscheinung getreten seien und solange daher kein landesweites Verfolgungsinteresse der föderalen Sicherheitsbehörden anzunehmen sei, und solange ferner keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die tschetschenischen Sicherheitsbehörden ein besonderes Interesse an ihrer Ergreifung hätten und deshalb ihre Festnahme und Überstellung durch föderale oder lokale Behörden in der übrigen Russischen Föderation veranlassen oder sie auch außerhalb ihres örtlichen Zuständigkeitsbereichs inoffiziell verfolgen würden.

  • Bundesamt muss Ablehnung eines Asylantrags begründen

    Die bloße Behauptung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dass ein Asylantrag offenkundig widersprüchlich und nicht substantiiert und damit gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG offensichtlich unbegründet sei, genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, sagt das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 4. Juli 2024 (Az. 28 L 1537/24.A). Sofern das Bundesamt in einem Bescheid ausführe, dass die Schilderungen des Betroffenen nicht glaubhaft oder „überzogen, konstruiert wirkend und höchst zweifelhaft“ seien, dürfe es zu einer solcher Einschätzung nicht ohne jegliche Begründung oder Darstellung der Anhaltspunkte kommen, aus denen diese Schlussfolgerung gezogen werde.

  • Keine Abschiebungsandrohung bei laufendem Asylverfahren eines Kindes

    Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hält in seinem Beschluss vom 27. Juni 2024 (Az. 4 LA 21/24) die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgeworfene Frage, ob der Abschiebung eines Ausländers, dessen Schutzbegehren negativ beschieden ist, auch dann im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG das Kindeswohl oder familiäre Bindungen entgegenstehen können, wenn der weitere Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds im Bundesgebiet nur gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist, für nicht grundsätzlich bedeutsam und hat die vom Bundesamt beantragte Zulassung der Berufung darum abgelehnt. Die Frage sei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits geklärt, der in seinem Urteil vom 15. Februar 2023 (Rs. C-484/22) allgemein darauf abgestellt habe, ob es zwischen einem Kind und seinen Eltern bzw. innerhalb einer schutzwürdigen familiären Gemeinschaft aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit zu einer Trennung kommen würde. Diese Situation könne aber auch eintreten, wenn der Aufenthalt des betreffenden Kindes bzw. des betreffenden Familienmitglieds in Deutschland nur gemäß § 55 AsylG zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet sei. Warum, wie das Bundesamt ausgeführt habe, nur ein dauerhafter rechtmäßiger Aufenthalt in der Bundesrepublik berücksichtigungsfähig sein solle, erschließe sich demgegenüber nicht.

  • Keine Verpflichtungsklage zum Duldungszusatz wegen ungeklärter Identität

    Der Zusatz zu einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b Absatz 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes stellt eine Nebenbestimmung zur Duldung dar, gegen die nur mit der Anfechtungsklage vorgegangen werden kann, sagt das Oberverwaltungsgericht Greifswald in seinem Beschluss vom 25. Juni 2024 (Az. 2 O 202/24 OVG). Das Rechtschutzziel bestehe in so einem Fall nicht in der Verpflichtung der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung, weil der Betroffene bereits über eine Duldung verfüge. Stattdessen bestehe sein Rechtschutzziel in der Aufhebung des Zusatzes „Duldung für Personen mit ungeklärter Identität“, bei dem es sich um eine Nebenbestimmung zur Duldung handele. Dieses Rechtsschutzziel sei mit einer Anfechtungsklage geltend zu machen.

  • Neues vom Asylrichter aus Gera

    Die gegen einen Asylrichter am Verwaltungsgericht Gera erhobenen Vorwürfe, über die etwa vergangene Woche im HRRF-Newsletter Nr. 152 berichtet wurde, haben jetzt zu ersten Konsequenzen geführt. Neuen Medienberichten zufolge (siehe hier und hier und hier) wird der Richter ab sofort keine asylgerichtlichen Verfahren mehr bearbeiten oder entscheiden, sondern stattdessen Verfahren unter anderem aus dem Straßenverkehrsrecht, dem sonstigen Wirtschaftsrecht und dem Telekommunikationsrecht, und wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet.

  • Bundesregierung zur asylgerichtlichen Statistik

    Mit Antwort vom 27. Juni 2024 (BT-Drs. 20/12124) hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage im Bundestag beantwortet, in der es um Asylstatistik für das Jahr 2023 ging. Eher am Rande geht es auch um asylgerichtliche Statistik, danach waren in Deutschland am 31. März 2024 etwa 122.216 Asylklageverfahren anhängig, darunter allein 24.558 Verfahren, die die Türkei als Herkunftsland betreffen.

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ISSN 2943-2871