In Anerkannten-Fällen ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverbund in den anderen EU-Mitgliedstaat zurückkehren würde, sagt das Bundesverwaltungsgericht in seinem in diesem Punkt erfreulichen Urteil vom 24. April 2024 (Az. 1 C 8.23). Das Gericht führt damit seine Rechtsprechung zur Rückkehr im Familienverband fort (siehe das Urteil vom 4. Juli 2019, Az. 1 C 45.18 zur Rückkehrprognose im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG) und widerspricht etwa dem Verwaltungsgerichtshof München, der in Anerkannten-Fällen in seinem Urteil vom 4. März 2024 (Az. 24 B 22.30376) gerade nicht auf den Familienverband abstellen will (siehe dazu ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 136).
Es geht dem Bundesverwaltungsgericht allerdings nicht darum, dass (nicht selbst auch klagenden) Familienangehörigen eines Klägers in dem anderen EU-Mitgliedstaat unmenschliche oder erniedrigende Lebensbedingungen drohen könnten, sondern lediglich darum, dass die aus der Anwesenheit von Angehörigen der Kernfamilie und der anzunehmenden Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten resultierenden Folgen für die Existenzsicherung des Klägers in die Gefahrenprognose einzubeziehen sein sollen. Der in der Vorinstanz mit dem Verfahren befasste Verwaltungsgerichtshof Mannheim (Urteil vom 7. Juli 2022, Az. A 4 S 3696/21) hatte das noch anders gesehen und die hypothetischen Lebensbedingungen der Kinder des Klägers betrachtet; unter anderem aus diesem Grund hat das Bundesverwaltungsgericht das Mannheimer Urteil aufgehoben und zurückverwiesen.
Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 AsylG gibt es nur für Familienangehörige eines Stammberechtigten, der gerade in Deutschland als Flüchtling anerkannt worden ist, meint das Oberverwaltungsgericht Münster in seinem Urteil vom 10. September 2024 (Az. 14 A 3506/19.A), dessen Volltext noch nicht vorliegt, über das es aber in einer Pressemitteilung berichtet. Dieses Ergebnis ergebe sich unter anderem aus der Systematik von § 26 AsylG, aus Regelungen des Aufenthaltsgesetzes und daraus, dass es sich bei der Vorschrift um eine nationale Sonderregelung handele. Grundsätzlich sollten Personen, denen ein anderer Staat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe (im entschiedenen Verfahren war das Bulgarien), in diesen anderen Staat zurückkehren, der dann auch für den Familiennachzug verantwortlich sei. Gehe ausnahmsweise einmal wie hier die Verantwortung für den Flüchtling auf die Bundesrepublik Deutschland über, so richte sich der Familiennachzug nach dem Aufenthaltsgesetz und erfordere nicht die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz. Das OVG Münster hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.
Das Verwaltungsgericht Hamburg ändert seine bisherige Rechtsprechung (siehe dazu etwa HRRF-Newsletter Nr. 146) und geht in seinem Beschluss vom 14. August 2024 (Az. 12 AE 3050/24) nunmehr davon aus, dass sogenannte Anerkannten-Folgeanträge zwar keine Folgeanträge im Sinne der EU-Asylverfahrensrichtlinie sind, weil sie nicht auf ein Asylverfahren folgen, in dem ein Schutzersuchen inhaltlich geprüft wurde, dass aber die §§ 29 Abs 1 Nr. 5, 71 AsylG auf solche Anträge dennoch anwendbar sind, nämlich im Wege der Analogie. Die Voraussetzungen für eine Analogie lägen vor, weil die EU-Asylverfahrensrichtlinie nicht den Fall regele, dass ein Schutzsuchender, dessen Asylantrag in einem Mitgliedstaat wegen der Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat bestandskräftig als unzulässig abgelehnt worden sei, im erstgenannten Mitgliedstaat einen erneuten Asylantrag stelle. Diese Regelungslücke sei auch planwidrig, weil davon auszugehen sei, dass der europäische Richtliniengeber diese Fallkonstellation bei Erlass der Richtlinie schlicht übersehen habe. Es sei nicht vorstellbar, dass der Richtliniengeber Anerkannten-Folgeanträge nicht ebenfalls in die Regelungen zu Folgeanträgen einbezogen hätte, wenn er sich ihrer nur bewusst gewesen wäre.
Das Oberverwaltungsgericht Münster bleibt in seinem Beschluss vom 26. August 2024 (Az. 11 A 1823/24.A) bei seiner bisherigen Rechtsprechung (siehe etwa den Beschluss vom 14. März 2023, Az. 11 A 298/23.A, ausführlich dazu HRRF-Newsletter Nr. 88), dass Asylsuchenden, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Litauen überstellt werden, auch dann nicht die Gefahr einer Inhaftierung droht, wenn sie dort ursprünglich illegal eingereist waren. Eine restriktive litauische Rechtsvorschrift, die die Gründe für die Inhaftnahme von Asylbewerbern bei Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands sowie bei Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern regelte, sei am 2. Mai 2023 aufgehoben worden.
Der Umstand, dass der Ehemann einer Richterin am Verwaltungsgericht selbst Richter ist und am Oberverwaltungsgericht ausgerechnet über die Berufung gegen ein von seiner Ehefrau als Einzelrichterin gefälltes asylgerichtliches Urteil entscheiden muss, begründet noch nicht die Besorgnis der Befangenheit gegen diesen Richter, meint das Oberverwaltungsgericht Magdeburg in seinem Beschluss vom 03.09.2024 (Az. 2 L 89/24.Z). Dies gelte insbesondere, wenn über das eheliche Näheverhältnis hinaus nichts für eine Voreingenommenheit im konkreten Fall erkennbar sei, etwa dass der konkrete Fall zwischen den Eheleuten zumindest gesprächsweise thematisiert worden wäre. Außerdem entspreche der zu entscheidende Antrag auf Zulassung der Berufung nicht den Anforderungen an die Begründung von Zulassungsanträgen, so dass eine besonders tiefgründige Befassung mit der Begründung des angefochtenen Urteils ohnehin nicht angezeigt erscheine.
Eine von der tadschikischen Generalstaatsanwaltschaft gegenüber der deutschen Botschaft in Tadschikistan abgegebene diplomatische Zusicherung, einen tadschikischen Staatsangehörigen nach seiner Abschiebung aus Deutschland menschenrechtskonform zu behandeln, ist jedenfalls im entschiedenen Einzelfall nicht dazu geeignet, die beachtliche Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Tadschikistan auszuräumen, sagt das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in seinem Urteil vom 13. August 2024 (Az. 12a K 51/23.A). Zwar sei nicht ersichtlich, dass eine Zusicherung tadschikischer Behörden generell unbeachtet bleiben müsse, jedoch müsse die Zusicherung mit spezifischen Garantien verbunden sein, die eine Überprüfung der eventuellen Haftbedingungen des Klägers im Falle von dessen Inhaftierung und insbesondere den ungehinderten Zugang zu seinen Prozessbevollmächtigten erlaube. Gemessen an diesen Maßstäben sei die von der tadschikischen Generalstaatsanwaltschaft abgegebene Zusicherung ungeeignet, weil sie nicht sämtliche Sicherheitsbehörden wirksam verpflichte und auch inhaltlich hinter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Bundesverfassungsgericht formulierten inhaltlichen Anforderungen zurückbleibe.
Das Verwaltungsgericht hat gut daran getan, hier strenge Maßstäbe anzulegen, etwa vor dem Hintergrund des Schicksals von Abdullohi Shamsiddin, der nach seiner Abschiebung aus Deutschland im Januar 2023 in Tadschikistan zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.
In einer Kammerentscheidung vom 12. September 2024 (Rs. C-63/23) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass Art. 15 Abs. 3 der EU-Familienzusammenführungs-Richtlinie 2003/86/EG Mitgliedstaaten auch bei Vorliegen „besonders schwierige[r] Umstände“ nicht zur Erteilung von Aufenthaltstiteln im Rahmen einer Familienzusammenführung verpflichtet, dass allerdings aus Art. 17 der Richtlinie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten folgt, vor einer Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eine individualisierte Prüfung der Situation und eine Anhörung der Familienangehörigen vorzunehmen.
In einer weiteren Kammerentscheidung vom 12. September 2024 (Rs. C-352/23) hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass die EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU es Mitgliedstaaten nicht verbietet, Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen zu erteilen, sofern die Gründe dafür keinen Zusammenhang mit der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie aufweisen und sofern sich das gewährte Aufenthaltsrecht klar von dem nach der Richtlinie gewährten internationalen Schutz unterscheidet.
In Hessen (siehe HRRF-Newsletter Nr. 125) und Nordrhein-Westfalen (siehe HRRF-Newsletter Nr. 148) wurden die Zuständigkeiten für asylgerichtliche Verfahren in den vergangenen Monaten schon bei bestimmten Verwaltungsgerichten konzentriert (zu Kritik an dieser Konzentration siehe etwa hier), nun ist Niedersachsen an der Reihe. Durch Rechtsverordnung vom 15. Juli 2024 wurde mit Wirkung zum 1. September 2024 jeweils zwei Verwaltungsgerichten eine gerichtsbezirksübergreifende und somit in Summe landesweite Zuständigkeit für Verfahren zu bestimmten Herkunftsländern zugewiesen, nämlich den Verwaltungsgerichten Göttingen und Hannover für Albanien, Bosnien und Herzegowina, den Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien, den Verwaltungsgerichten Hannover und Lüneburg für die Elfenbeinküste, Ghana, Moldau und den Senegal, den Verwaltungsgerichten Lüneburg und Osnabrück für Georgien sowie den Verwaltungsgerichten Göttingen und Oldenburg für Kolumbien. Das Nachsehen haben offenbar die Verwaltungsgerichte Braunschweig und Stade.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fasst in einer Präsentation vom 23. Juli 2024 auf 25 Seiten aktuelle flüchtlingsrechtliche Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs sowie einige anhängige Verfahren zusammen und erläutert den Handlungsbedarf, der sich daraus ergibt - freilich (nur) aus der Sicht des Bundesamts.