Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich am 4. Juni 2024 im Rahmen einer öffentlichen Anhörung mit den im Rahmen von zwei 2021 gegen Griechenland erhobenen Beschwerden (G.R.J u.a. gg. Griechenland, Az. 15067/21, und A.D. u.a. gg. Griechenland, Az. 24982/21) befasst, wonach Schutzsuchende in den Jahren 2019 und 2020 im Wege sogenannter Driftbacks von griechischen Behörden auf manövrierunfähigen Schlauchbooten ausgesetzt worden sein sollen, damit sie zurück in die Türkei treiben würden. Nichtregierungsorganisationen werfen Griechenland vor, diese Praxis routinemäßig anzuwenden, die griechische Regierung bestreitet das offenbar. Zu den rechtlichen Hintergründen und zu den Unwägbarkeiten dieses Verfahrens vor dem EGMR siehe etwa diesen aktuellen und instruktiven Beitrag von Constantin Hruschka.
Das Verwaltungsgericht Schleswig hält in seinem Beschluss vom 17. Mai 2024 (Az. 15 A 193/22) nichts von der Argumentation des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, dass im Gazastreifen derzeit eine vorübergehend ungewisse Lage im Sinne von § 24 Abs. 5 AsylG bestehe, so dass das Bundesamt seine Entscheidung über einen Asylantrag aufschieben könne. Abgesehen davon, so das Gericht, dass es die Einschätzung des Bundesamts zur Volatilität der Lage im Gazastreifen nicht teile, hindere § 24 Abs. 5 AsylG Gerichte ohnehin nicht daran, eine Sachentscheidung zu treffen und das Bundesamt zur Gewährung internationalen Schutzes zu verpflichten. Die gegenwärtige Lage im Gazastreifen überschreite die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, so dass subsidiärer Schutz zu zuzuerkennen sei (andere Verwaltungsgerichte sehen das übrigens ähnlich, siehe etwa HRRF-Newsletter Nr. 139).
Mit gesetzgeberischen Nachlässigkeiten im Rückführungsverbesserungsgesetz, nämlich in § 87 Abs. 2 Nr. 6 AsylG (im Leitsatz des Gerichts fälschlicherweise als § 87a AsylG bezeichnet), schlägt sich das Verwaltungsgericht Trier in seinem Beschluss vom 4. April 2024 (Az. 6 L 902/24.TR) herum. § 87 Abs. 2 Nr. 6 AsylG wurde durch das am 27. Februar 2024 in Kraft getretene Rückführungsverbesserungsgesetz eingeführt und regelt seinem Wortlaut nach, dass auf Personen, deren Asylantrag „bis zum 27. Februar 2024“ als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, § 30 AsylG über die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet in der „bis zu diesem Tag geltenden Fassung“ Anwendung findet. Das ist in der Tat widersprüchlich, und so geht das Verwaltungsgericht denn auch von einem gesetzgeberischen Versehen aus. Es gebe keine „bis zu diesem Tag geltende Fassung“, sondern eine vor diesem Tag und eine davon verschiedene, ab diesem Tag geltende Fassung. Deswegen sei die neue Fassung von § 30 AsylG auch auf genau am 27. Februar 2024 abgelehnte Anträge anzuwenden.
Will das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Asylverfahren gemäß § 33 AsylG wegen Nichtbetreiben des Verfahrens einstellen, so muss es im Rahmen des gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG geltenden Untersuchungsgrundsatzes ausreichende eigene Feststellungen zu einem mutmaßlichen Untertauchen eines Schutzsuchenden treffen und darf sich nicht lediglich auf eine Mitteilung einer anderen Behörde stützen, sagt das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 24. Mai 2024 (Az. 26 L 832/24.A). Von einem Untertauchen im Sinne von § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG könne das Bundesamt nur dann ausgehen, wenn es über hinreichende Kenntnisse des Sachverhalts verfüge; nur dann lasse sich beurteilen, ob der Ausländer tatsächlich für die Behörden nicht erreichbar sei. Lege die Mitteilung einer anderen Behörde ein Untertauchen nahe, ohne aber hinreichende Informationen über den tatsächlichen Sachverhalt zu enthalten, der Grundlage der Mitteilung sei, so sei das Bundesamt verpflichtet, sich diese zu beschaffen, wenn es nach § 33 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorgehen wolle.
Es verletzt das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG, wenn im Auslieferungsverfahren einem Vortrag zu möglichen Auslieferungshindernissen nicht nachgegangen wird, sagt das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 21. Mai 2024 (Az. 2 BvR 1694/23), zu dem es auch eine Pressemitteilung veröffentlicht hat. In dem Verfahren hatte der Beschwerdeführer, der in die Türkei ausgeliefert werden sollte, einen Suizidversuch unternommen und war weiter suizidgefährdet, das zuständige Oberlandesgericht hatte aus Sicht des BVerfG nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könnte, und außerdem die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht berücksichtigt. Mehrere ärztliche Stellungnahmen, so das BVerfG, hätten das Risiko eines erneuten Suizidversuchs aus fachlicher Sicht als hoch beurteilt und von einer Auslieferung des Beschwerdeführers in die Türkei dringend abgeraten. Soweit das Oberlandesgericht wiederholt auf die Möglichkeit einer psychologischen Betreuung in der türkischen Justizvollzugsanstalt Yalvaç verwiesen habe, bleibe schon ungeklärt, ob dies für eine adäquate Behandlung des suizidalen Beschwerdeführers genüge. Ein pauschaler Verweis hierauf sei jedenfalls aufgrund der Vorgeschichte im Fall des Beschwerdeführers nicht ausreichend. Die LTO berichtet ebenfalls über diese Entscheidung.
Ein Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft oder von Ausreisegewahrsam ist unbegründet, und eine gleichwohl angeordnete Haft rechtswidrig, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, von dem zwar nicht die antragstellende Behörde weiß, aber eine andere deutsche Behörde, die die Information über das Abschiebungshindernis nicht rechtzeitig weitergeleitet hat, sagt der Bundesgerichtshof (erneut) in seinem Beschluss vom 26. März 2024 (Az. XIII ZB 44/21), weil Versäumnisse anderer am Verfahren beteiligter deutscher Behörden der die Abschiebung betreibenden Behörde zuzurechnen seien. Hier hatte die pakistanische Botschaft das Bundesministerium des Innern am 5. November 2020 über eine Änderung seiner Rückführungspraxis informiert, die bereits geplante Abschiebungen unmöglich machte, diese Information hatte die am Verfahren beteiligte Ausländerbehörde aber erst 11 Tage später und damit aus BGH-Sicht zu spät erreicht. Die LTO berichtet ebenso über diese Entscheidung.
Abschiebungshaft ist rechtswidrig, wenn der Inhaftierte dabei einem Zwang ausgesetzt ist, der nicht auf das zur Gewährleistung eines wirksamen Rückkehrverfahrens unbedingt erforderliche Maß beschränkt ist, sagt der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 26. März 2024 (Az. III ZB 85/22). In dem Verfahren ging es um die Haftbedingungen in der Abschiebungshaftanstalt Hof (Bayern), die der BGH als nicht in Einklang mit den Vorgaben der EU-Rückführungsrichtlinie und des europarechtskonform auszulegenden § 62a AufenthG betrachtete, nämlich um Besuchszeiten von vier Stunden im Monat und um tägliche Einschlusszeiten von 19:00 Uhr bis 9:00 Uhr. Sei wie im entschiedenen Verfahren absehbar, dass ein Betroffener wegen struktureller Defizite beim Haftvollzug unter Verstoß gegen § 62a AufenthG in Verbindung mit der EU-Rückführungsrichtlinie inhaftiert werde, müsse der Haftrichter den Haftantrag ablehnen, so der BGH.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung will laut einer Pressemitteilung des Justizministeriums vom 29. Mai 2024 die Zuständigkeit für asylgerichtliche Verfahren zu bestimmten Herkunftsstaaten bei einzelnen nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichten konzentrieren, nämlich durch die Bildung sogenannter „Herkunftscluster“, und erhofft sich dadurch eine effizientere Bearbeitung asylgerichtlicher Verfahren. Mit Ausnahme der Verfahren zu den am stärksten vertretenen 22 Herkunftsstaaten soll jeweils nur noch ein Verwaltungsgericht für alle asylgerichtlichen Verfahren zu bestimmten Herkunftsregionen zuständig sein, nämlich das VG Gelsenkirchen für Südosteuropa, das VG Köln für Maghreb-Staaten, den Nahen Osten und für arabische Staaten, das VG Aachen für das östliche Afrika, das VG Minden für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, für Amerika, das südliche Afrika sowie für zunächst sechs Monate für den Irak, das VG Düsseldorf für Süd- und Südostasien und Georgien, das VG Münster für Indien, Bangladesch und Sri Lanka sowie das VG Arnsberg für das westliche Afrika. Eine ähnliche Zuständigkeitskonzentration hat unlängst bereits Hessen eingeführt.
Über den im April dieses Jahres veröffentlichten und zumindest etwas eigentümlichen Jahresbericht des Verwaltungsgerichts Düsseldorf wurde an dieser Stelle bereits berichtet (siehe HRRF-Newsletter Nr. 140). In dem Bericht ging das Gericht ausführlich auf die aus seiner Sicht bestehenden „Probleme der Massenmigration“ ein; der Bericht wurde unlängst scharf kritisiert, weil er von einer fundierten und sachkundigen Auseinandersetzung weit entfernt sei, das Verwaltungsgericht vielmehr in die „rechtspopulistische Kakophonie“ einstimme. Nun legt der Präsident des Gerichts in einem aktuellen Interview gewissermaßen nach und beklagt, dass eine offene Debatte über den Umgang mit der „unbegrenzten Migration“ jedenfalls in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht mehr stattfinde, und zwar aufgrund deren „politische[r] Schieflage“. Für die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl durch Umwandlung in eine bloß institutionelle Garantie zeigt er sich offen, kommt aber immerhin zu der Erkenntnis, dass dies aufgrund des vorrangig anzuwendenden europäischen Rechts keine praktischen Auswirkungen hätte.
Medien- und NGO-Berichten zufolge (siehe hier und hier) geht das Deutsche Rote Kreuz Sozialwerk Berlin (DRK SWB) gerichtlich gegen die Tageszeitung „nd.DerTag“ (vormals Neues Deutschland) vor und will deren Berichterstattung über die mutmaßlichen Zustände im Ukraine-Ankunftszentrum Berlin-Tegel untersagen lassen. In der Berichterstattung hatten anonym zitierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ankunftszentrums mangelnde Hygiene, die Platzverhältnisse und den Umgang des Personals mit den Geflüchteten kritisiert. Vorwürfe gegen die Zustände im Ankunftszentrum waren auch vorher schon erhoben worden (siehe etwa hier und hier). Der Streitwert des zivilrechtlichen Eilantrags soll bei 120.000 Euro liegen, nd hat es abgelehnt, eine vom DRK SWB geforderte Unterlassungserklärung zu unterschreiben.
Die im Mai 2024 verabschiedete Reform des europäischen Asylsystems wird uns allen vermutlich noch viel Freude bereiten. So richtig zur Anwendung kommen wird sie erst in zwei Jahren, die Vorbereitungen für ihre Umsetzung starten aber bereits jetzt. Umso wichtiger, dass man weiß, was da eigentlich beschlossen wurde, und darum gibt es bei HRRF jetzt eine hübsche Textausgabe mit den zehn im Mai verabschiedeten EU-Gesetzen (AMM-Verordnung, Qualifikationsverordnung, Asylverfahrensverordnung, Aufnahmerichtlinie, Grenzrückführungsverordnung, Krisenverordnung, Resettlementverordnung, Screening-Verordnung, Screening-Konsistenz-Verordnung und EURODAC-Verordnung) sowie einer Einführung, und zwar unter anderem als kostenlosen Download.
Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf acht Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.