Die neue Textausgabe zum Deutschen Migrationsrecht ist da - jetzt herunterladen oder bestellen!
Ausgabe 181 • 31.1.2025

Gebotene Begründungstiefe

Fluchtgefahr darf von Haftgerichten nicht vorschnell und unreflektiert angenommen werden, sagen sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Bundesgerichtshof, und aktuelle Haftanträge einiger Ausländerbehörden deuten auf eine bevorstehende Afghanistan-Sammelabschiebung hin, sagen die Medien. Außerdem geht es in dieser Woche um die Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung bei bevorstehender Heirat, um die Gefährdung russischer Wehrpflichtiger, um die Anwendung außer Kraft getretenen Rechts und um Entschädigungen für zu lange Gerichtsverfahren. Ein Blick nach Österreich schließlich zeigt, wie rechte Parteien mit dem Rechtsstaat umgehen wollen, nämlich indem sie ihnen nicht passende Gerichtsentscheidungen offen ignorieren.

Materielles Flüchtlingsrecht

Keine Abschiebung von Wehrpflichtigen nach Tschetschenien

Russischen Staatsangehörigen droht in Tschetschenien die Zwangsrekrutierung zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, der sie sich nicht durch Aufenthalt in einem anderen Landesteil Russlands entziehen können, sagt das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Beschluss vom 14. Januar 2025 (Az. 10 L 54/25.A). Für eine Person, die von den tschetschenischen Behörden gesucht werde, sei in Russland kein Ort sicher, da die lokale tschetschenische Regierung eine Person außerhalb der Republik Tschetschenien leicht ins Visier nehmen könne. Vor diesem Hintergrund sei es auch unerheblich, ob der Kläger bislang einen echten Musterungs- oder Einberufungsbescheid erhalten habe oder nicht. Ähnlich sah das übrigens unlängst, wenngleich ohne den Tschetschenien-Aspekt, das Verwaltungsgericht Magdeburg (siehe HRRF-Newsletter Nr. 174), während das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im Sommer 2024 keinen Schutzbedarf für Wehrpflichtige aus Tschetschenien gesehen hatte (siehe HRRF-Newsletter Nr. 165).

Aufenthaltsbeendigung

Keine Abschiebungsandrohung bei bevorstehender Heirat

In seinem Beschluss vom 14. Januar 2025 (Az. 22 L 17/25.A) weist das Verwaltungsgericht Köln darauf hin, dass bereits eine bevorstehende Heirat zur Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung führen kann, wenn durch die Heirat familiäre Bindungen im Sinne von § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG familiäre Bindungen entstehen. Außerdem ist das Verwaltungsgericht offenbar der Ansicht, dass § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG, wonach Verwaltungsgerichte über Eilanträge gegen die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig oder offensichtlich unbegründet innerhalb einer Woche entscheiden müssen, gegen Art. 97 Abs. 1 GG verstößt und verfassungswidrig ist; zu einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG hat es sich freilich nicht hinreißen lassen.

Abschiebungshaft

Bundesverfassungsgericht rügt pauschale Anordnung von Auslieferungshaft

Das Bundesverfassungsgericht hält in seinem Beschluss vom 23. Januar 2025 (Az. 2 BvR 5/25) eine Anordnung von Auslieferungshaft durch das Oberlandesgericht Stuttgart wegen eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG für verfassungswidrig. Die Haftanordnung durch das Oberlandesgericht genüge nicht den Anforderungen an die verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe; so habe das Gericht etwa die Annahme einer Fluchtgefahr allein auf eine nicht näher erläuterte hohe Strafandrohung gestützt und lediglich pauschal festgestellt, dass mildere Maßnahmen als Haft nicht ersichtlich seien. Eine Abwägungsentscheidung, die erkennen lasse, dass das Gericht sich ernsthaft mit der Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung auseinandergesetzt habe, fehle in den Beschlüssen des Gerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat zu seiner Entscheidung auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

Abschiebungshaft

Keine automatische Fluchtgefahr bei teurem Schlepper

In seinem Beschluss vom 14. Januar 2025 (Az. XIII ZB 65/23) mahnt der Bundesgerichtshof an, dass bei der Anordnung von Abschiebungshaft Fluchtgefahr im Sinne von § 62 Abs. 3b Nr. 2 AufenthG nicht vorschnell angenommen werden darf, auch wenn der Ausländer zu seiner unerlaubten Einreise erhebliche Geldbeträge aufgewendet hat. Vielmehr müsse die Lebenssituation des Betroffenen zum Zeitpunkt der Anordnung der Haft berücksichtigt werden. Im entschiedenen Verfahren habe das Beschwerdegericht bei seiner Gesamtbetrachtung etwa nicht berücksichtigt, dass die Einreise des Betroffenen zum Zeitpunkt der Haftanordnung bereits über zehn Jahre zurückgelegen habe und der Betroffene in Deutschland einen nicht unerheblichen Zeitraum gearbeitet und ein Einkommen erzielt habe. Außerdem habe der Betroffene geltend gemacht, das für die Einreise aufgenommene Darlehen bereits zurückgezahlt zu haben. Durch die Nichtberücksichtigung dieser Umstände habe das Beschwerdegericht dem von ihm bejahten konkreten Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr ein zu hohes Gewicht beigemessen.

Abschiebungshaft

Haftanträge offenbaren geplante Afghanistan-Abschiebung

Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 24. Januar 2025 (Paywall, alternativ etwa hier oder hier) über Haftanträge bayerischer Ausländerbehörden von Anfang Januar 2025, aus denen sich ergebe, dass für die kommenden Wochen eine Sammelabschiebung nach Afghanistan über einen regionalen „Schlüsselpartner“ geplant sei. Bayerische Ausländerbehörden hätten in den Haftanträgen bei Haftrichtern damit geworben, dass der Bund die geplante Abschiebung gegenüber dem Freistaat Bayern bestätigt habe, die spätestens am Tag vor der Bundestagswahl am 23. Februar stattfinden solle, und dass auf das Gelingen dieser Planung vertraut werden solle. Inzwischen sollen sich Betroffene auch in Baden-Württemberg in Abschiebungshaft befinden.

Aufnahmebedingungen

Kein Vertrauensschutz für Behörden

Rechtsanwalt Volker Gerloff berichtet in der aktuellen Ausgabe seines wie immer sehr lesenswerten Newsletters zum Migrationssozialrecht über den (von ihm erstrittenen) Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 18. Dezember 2024 (Az. S 44 AY 25/24 ER), in dem das Gericht der beklagten Landesaufnahmebehörde Niedersachsen erklären musste, dass sie außer Kraft getretenes Recht nicht mehr anwenden darf. Die Behörde hatte in einem im November 2024 erlassenen Bescheid eine Leistungsabsenkung mit dem bereits Ende Oktober 2024 außer Kraft getretenen § 1a Abs. 7 AsylbLG begründet und meinte, dass sie als Behörde Vertrauensschutz in Anspruch nehmen könne, unter anderem deswegen, weil sie ihre Entscheidung intern bereits im Oktober 2024 getroffen habe, als § 1a Abs. 7 AsylbLG noch in Kraft gewesen sei.

Sonstiges

Entschädigungszahlung wegen unangemessener Dauer eines aufenthaltsrechtlichen Gerichtsverfahrens

Einen Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß § 198 GVG hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 13. Januar 2025 (Az. 13 FEK 154/22) für ein Verfahren bejaht, in dem es um die Durchsetzung eines aus § 25 Abs. 5 AufenthG folgenden Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ging. Die Dauer des erstinstanzlichen Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg sei mit 55 Monaten unangemessen lang gewesen, weil das Verfahren lediglich 20 Monate hätte dauern dürfen. Das Verfahren sei zwei Monate nach Klageerhebung entscheidungsreif gewesen, ab diesem Zeitpunkt sei der zuständigen Kammer ein „richterlicher Überdenkens- und Entscheidungszeit- und zugleich -spielraum“ von 18 Monaten zuzugestehen gewesen, innerhalb derer sie zu beurteilen gehabt hätte, wie das Verfahren zu fördern und wann es zu entscheiden gewesen wäre. Soweit die Kammer darauf verwiesen habe, dass sie mit zahlreichen, oftmals abschiebungsrelevanten Eilverfahren im Asyl- und Ausländerrecht belastet gewesen sei, führe dies für den Entschädigungsanspruch nicht zu einer Rechtfertigung der Verfahrensverzögerung, weil es entweder Aufgabe des Präsidiums des Gerichts gewesen wäre, die zuständige Kammer zu entlasten, oder, bei einer Überlastung des gesamten Gerichts, Aufgabe des beklagten Bundeslandes, zusätzliche Richter einzustellen.

Sonstiges

Österreich: FPÖ will EuGH-Entscheidungen ignorieren

Einem Bericht im österreichischen Standard vom 25. Januar 2025 zufolge will die österreichische FPÖ in den laufenden Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP zur Bildung einer neuen Bundesregierung durchsetzen, dass Österreich Entscheidungen internationaler Gerichtshöfe nicht „blind“ befolgt, sondern dass die Entscheidungen „mit Augenmerk auf die Interessen der Österreicher“ ausgelegt werden. „Im Einzelfall“ sollten Entscheidungen internationaler Gerichte auch nicht umgesetzt werden, wobei als Beispiel ein „genereller Verfolgungsgrund für afghanische Frauen“ angeführt werde; damit ist sicherlich das EuGH-Urteil vom 4. Oktober 2024 (Rs. C-608/22, C-609/22) gemeint (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 166).

Sonstiges

HRRF-Monatsübersicht für Dezember 2024 verfügbar

Die HRRF-Monatsübersicht für Dezember 2024 ist zum Download verfügbar und bietet auf fünf Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Dezember 2024 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen.

Highlights aus dem HRRF-Shop

#3 • 28.10.2024

Deutsches Migrationsrecht November 2024

#2 • 07.06.2024

GEAS-Reform 2024

Die neuesten Newsletter

Die neuesten Monatsübersichten