Was tut die italienische Regierung mit einem leerstehenden Migrationszentrum in Albanien, in dem sie keine Schutzsuchenden unterbringen (d.h. inhaftieren) kann, weil die italienischen Gerichte Einwände haben? Sie widmet das Zentrum einfach in eine Abschiebungshaftanstalt um. Ärgerlich nur aus Sicht der Regierung, dass die italienischen Gerichte schon wieder Einwände haben, die diesmal auch ganz grundsätzliche Fragen zum Geltungsbereich des Europäischen Asylrechts aufwerfen; diese Fragen sind nun beim Europäischen Gerichtshof gelandet. Außerdem geht es in dieser Newsletter-Ausgabe mal wieder um die Situation von Schutzsuchenden in Griechenland, das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf, Justizkritik an Innenminister Dobrindt, schon wieder um Opt-Out-Rechte der Mitgliedstaaten bei der EU-Rückführungsrichtlinie, und um die Grenzen der Belehrungspflicht von Haftgerichten.
Italienisches Migrationszentrum wieder im Fokus
Das von der italienischen Regierung in Albanien errichtete Migrationszentrum (zu den Hintergründen siehe etwa hier) stand seit einiger Zeit leer, weil italienische Gerichte mit der Verbringung von Schutzsuchenden dorthin nicht einverstanden waren (siehe hier). Beim Europäischen Gerichtshof sind derzeit zwei Vorabentscheidungsverfahren anhängig, in denen es vordergründig um die Kriterien für die Einstufung von Staaten als sichere Herkunftsstaaten geht (siehe hier und hier), bei denen aber ein Zusammenhang zum Zentrum in Albanien besteht, weil für die Verbringung von Schutzsuchenden erforderlich war, dass sie gerade aus einem sicheren Herkunftsstaat stammen.
Die italienische Regierung hat zwischenzeitlich Migranten in das Zentrum verbracht, die keine Asylanträge in Italien gestellt hatten oder deren Asylanträge in Italien abgelehnt wurden, die aber nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden konnten. Nun hat der Kassationsgerichtshof in Rom mit Beschluss vom 20. Juni 2025 (Az. 23105/25) ein weiteres Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof initiiert: Er will wissen, ob diese italienische Praxis mit der EU-Rückführungsrichtlinie und mit der EU-Asylverfahrensrichtlinie vereinbar ist, unter anderem vor dem Hintergrund, dass sich die Betroffenen faktisch nicht mehr in der Europäischen Union aufhalten, Italien aber (nur) gegenüber Albanien zugesichert hat, sie so zu behandeln, als ob dies immer noch der Fall wäre. Konkret hat der Kassationsgerichtshof gefragt, ob die Inhaftierung von Migranten in dem Zentrum mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar ist, wenn keine Aussicht auf Rückführung ins Herkunftsland besteht, und ob nicht Migranten, die in dem Zentrum inhaftiert sind, nach Stellung eines Asylantrags wieder zurück nach Italien gebracht werden müssten.
Die Fiktion der Nichteinreise ist hinlänglich bekannt, nun kommt praktisch das Gegenteil hinzu, nämlich der fiktive Aufenthalt, und die Frage, ob so ein fiktiver Aufenthalt europarechtskonform sein kann. Alle Hintergründe zu diesem Vorabentscheidungsersuchen gibt es in dem ausgezeichneten Beitrag von Andreina De Leo im Verfassungsblog.
Schweizerisches Referenzurteil: Griechenland nicht pauschal sicher
Das erst- und letztinstanzlich für Klagen gegen Asylbescheide zuständige schweizerische Bundesverwaltungsgericht hat in einem Referenzurteil vom 12. Juni 2025 (Az. F-5298/2024) entschieden, dass sich die schweizerische Asylbehörde SEM vor geplanten Dublin-Überstellungen nach Griechenland nicht auf bloße Zusicherungen griechischer Behörden und auf eine Empfehlung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2016 stützen darf, dass dem Betroffenen Zugang zum Asylverfahren und zu einer geeigneten Unterkunft gewährt würden. Stattdessen müsse die Behörde die relevanten und aktuellen Tatsachen im Zusammenhang mit der Situation von Schutzsuchenden in Griechenland feststellen, bevor es ausdrücklich festhalte, ob vor Ort weiterhin systemische Mängel bestünden und eine Überstellung möglich sei. Die Vermutung, wonach alle Mitgliedstaaten des Dublin-Raums sichere Länder seien und das Non-Refoulement-Prinzip achteten, sei im Fall Griechenlands schon seit längerer Zeit hinfällig. Eine Überstellung nach Griechenland könne darum nur ausnahmsweise und nur nach einer individualisierten Prüfung rechtmäßig sein.
„Referenzurteile“ des Bundesverwaltungsgerichts analysieren die Situation in einem bestimmten Land, die darin vorgenommene rechtliche Würdigung ist offenbar über den Einzelfall hinaus für eine Mehrzahl von Verfahren gültig. Das Urteil steht in einem gewissen Widerspruch zu den Griechenland-Urteilen des (deutschen) Bundesverwaltungsgerichts im April 2025; das (schweizerische) Bundesverwaltungsgericht hat zu seinem Urteil auch eine Pressemitteilung in deutscher Sprache veröffentlicht.
Keine unverhältnismäßigen Mitwirkungspflichten bei Rechtsbehelfen
Griechenland darf Schutzsuchenden nicht vorschreiben, dass sie persönlich erscheinen müssen, wenn über einen Rechtsbehelf verhandelt wird, den sie gegen die Ablehnung ihres Asylantrags eingelegt haben, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 3. Juli 2025 (Rs. C-610/23). Eine solche Vorgabe und die automatische Zurückweisung des Rechtsbehelfs im Falle des Nichterscheinens seien unverhältnismäßig und verstießen gegen EU-Recht, weil es weniger einschneidende Mittel gebe, um den mit der Vorgabe angestrebten Verbleib des Schutzsuchenden gerade in Griechenland sicherzustellen, etwa durch eine Meldepflicht bei Behörden. Die Vorgabe sei nicht zuletzt deswegen unverhältnismäßig, weil über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung von Asylanträgen ausschließlich in Athen verhandelt werde, so dass Betroffene je nach ihrem Aufenthaltsort in Griechenland weit reisen müssten. Der Gerichtshof hat zu seinem Urteil auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.
Die Argumentation des Gerichtshofs entspricht ziemlich genau der deutschen Grundrechtsdogmatik, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit praktisch universell anwendet, wenn (Grund-)Rechtspositionen durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt werden. Dieser Ansatz ist insofern naheliegend, weil der Gerichtshof auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bezug nimmt, nämlich auf Art. 47 GRCh, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf garantiert. Eine solche Bezugnahme ist wahrscheinlich umso relevanter, je unbestimmter (wie hier) das EU-Sekundärrecht formuliert ist.
BVerwG-Präsident kritisiert Dobrindt wegen Umgang mit Berliner Zurückweisungsbeschlüssen
Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin von Anfang Juni, in denen es Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der deutsch-polnischen Grenze in drei Verfahren für rechtswidrig hielt, hatten bekanntlich einen gewissen politischen Eskapismus des Bundesinnenministers zur Folge, der die Praxis der Zurückweisungen dennoch fortsetzen wollte (und fortsetzt). Diverse Medien (etwa hier oder hier) berichten nun über ein am 28. Juni 2025 veröffentlichtes Interview des Handelsblatts mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts (Paywall), in dem der Gerichtspräsident den Bundesinnenminister kritisiert und korrigiert. Das Verwaltungsgericht Berlin sei in Eilverfahren erst- und letztinstanzlich zuständig und sei gerade deswegen dazu verpflichtet gewesen, die Rechtslage „intensiv durchzuprüfen“, was es getan habe. Ein Minister müsse „das lesen und prüfen, ob er dann gleichwohl an seiner Auffassung“ festhalte.
Es ist durchaus ungewöhnlich, dass sich ein Gerichtspräsident öffentlich in eine Debatte um die Bedeutung verwaltungsgerichtlicher Eilentscheidungen einbringt, zumal wenn es sich gerade um den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts handelt. Man dürfte den Umstand, dass es so ein Interview mit solchen Aussagen überhaupt gibt, durchaus als Signal in Richtung des Bundesinnenministers verstehen dürfen.
Langes Einreise- und Aufenthaltsverbot nur bei Kausalität
Die Opt-Out-Option des Art. 2 Abs. 2 lit. b) der EU-Rückführungsrichtlinie, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, die Vorgaben der Richtlinie auf bestimmte Ausländer nicht anzuwenden, erfordert nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion und der Rückkehrpflicht, sagt das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 2. Juni 2025 (Az. 6 MB 13/25). Fälle der Ausweisung auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung, wie der Wortlaut des § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG es nahelege, genügten dem nicht, wenn der Ausländer schon vor der Ausweisung rückkehrpflichtig war, ganz abgesehen davon, dass eine Ausweisung als solche schon keine Rückkehrentscheidung darstelle.
Das Opt-Out-Recht der Mitgliedstaaten in Art. 2 Abs. 2 der EU-Rückführungsrichtlinie ist in seiner praktischen Handhabung etwas sperrig, weil die Mitgliedstaaten sich nicht ausdrücklich darauf berufen müssen, sondern es sozusagen stillschweigend ausüben können, indem sie nationales Recht erlassen, das inhaltlich zum Opt-Out-Recht passt. Die Europäische Kommission fordert in ihrer Empfehlung für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“ von 2017, dass aus den nationalen Rechtsvorschriften „explizit oder implizit“ klar hervorgehen müsse, ob und in welchem Umfang ein Mitgliedstaat die Ausnahmeregelung anwende. Der deutsche Gesetzgeber macht das nicht besonders konsequent, so dass selbst das Bundesverwaltungsgericht manchmal rätseln muss (dort Rn. 54).
Keine allgemeine Belehrungspflicht des Haftgerichts
Der Bundesgerichtshof meint in seinem Beschluss vom 17. Juni 2025 (Az. XIII ZB 7/24), dass es vor der Einführung von § 62d AufenthG mit Wirkung zum 27. Februar 2024 keine aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgende allgemeine Pflicht des Haftgerichts gab, Betroffene über ihr Recht zu belehren, einen Bevollmächtigten zur Haftanhörung hinzuzuziehen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiere jedem Betroffenen zwar das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen, eine allgemeine Belehrungspflicht gebe es aber nicht.
Die Ansicht des Bundesgerichtshofs bewegt sich im Rahmen seiner bisherigen Rechtsprechung, die eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens nur annimmt, wenn das Haftgericht die Teilnahme eines Bevollmächtigten aktiv vereitelt hat. Wie praktisch für den BGH, dass § 62d AufenthG demnächst wieder abgeschafft werden soll.
Aktuelle Rechtsprechungsanalysen
Im Verfassungsblog bespricht Malak Harb den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12. Juni 2025, wonach die EMRK nicht vor Pullbacks schützt, und besprechen sowohl Matilde Rocca als auch Stefano Zirulia die Kinsa-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 2025, in der es um die Frage ging, ob Mitgliedstaaten es als Beihilfe zur unerlaubten Einreise unter Strafe stellen dürfen, wenn Schutzsuchende gemeinsam mit ihrer Obhut unterstehenden Kindern unerlaubt einreisen.
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Fiktiver Aufenthalt
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Restriktivere Handhabung
Mal wieder eine Dublin-Woche im HRRF-Newsletter, in der darum geht, ob die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils einem neuen Dublin-Bescheid im Wege steht (ja), ob Dublin-Überstellungsfristen durch gerichtlichen Eilrechtsschutz unterbrochen werden (man ist sich nicht einig) und ob Schutzberechtigten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen (man ist sich ebenfalls…
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Müssen Ausländerbehörden bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse prüfen, obwohl sie dafür nach deutschem Recht gar nicht zuständig sind, oder bleibt es bei der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge? Ein EuGH-Urteil aus dem vergangenen Herbst sorgt jedenfalls bei mir für Verwirrung, und eine…
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Refoulement by Proxy
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiß auch nicht mehr weiter und erklärt sich für unzuständig, wenn es um die Externalisierung von Pushbacks im Mittelmeer geht. Dafür scheint aber in der beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Schadensersatzklage gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex das letzte Wort noch nicht gesprochen zu…
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Der in dieser Einleitung zur Verfügung stehende Platz soll heute ausnahmsweise nicht dazu verwendet werden, um auf die (zahlreichen) wichtigen Entscheidungen der Woche hinzuweisen. Stattdessen geht es um die HRRF-Website, die in dieser Woche nicht nur sozusagen runderneuert wurde, damit sie noch mehr Inhalte und viele…