201

Mehrere Monate

Müssen Ausländerbehörden bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse prüfen, obwohl sie dafür nach deutschem Recht gar nicht zuständig sind, oder bleibt es bei der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge? Ein EuGH-Urteil aus dem vergangenen Herbst sorgt jedenfalls bei mir für Verwirrung, und eine aktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg macht es nicht einfacher. Außerdem geht es in dieser Woche um rechtswidrige Leistungskürzungen, Dublin-Überstellungen nach Italien, die Missachtung einer verwaltungsgerichtlichen Eilentscheidung bei einer Abschiebung in Schleswig-Holstein, europarechtliche Anforderungen an die Länge von Rechtsbehelfsverfahren, rechtswidrige Abschiebungshaft in Bayern und um menschenrechtswidrige Aufnahmebedingungen für unbegleitete minderjährige Schutzsuchende in Griechenland und Ungarn.

  • Ausländerbehörden müssen drohenden Non-Refoulement-Verstoß (nicht) prüfen

    Bereits im Oktober 2024 hatten wir gemutmaßt, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 17. Oktober 2024 (Rs. C-156/23), wonach gemäß Art. 5 EU-Rückführungsrichtlinie zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, nämlich eine drohende Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, vor einer Abschiebung erneut geprüft werden müssen, in der Praxis der nationalen Rechtsanwendung viel Verwirrung stiften würde.

    Spätestens jetzt ist es soweit: Die Bundesregierung ist bereits im März 2025 zu dem Schluss gekommen, dass sich das tatsächlich so aus dem EuGH-Urteil ergibt und dass „[n]ach Unanfechtbarkeit einer Asylentscheidung [..] eine eigenständige Prüfpflicht der Ausländerbehörden bezüglich der Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung aus Artikel 5 der Rückführungsrichtlinie [besteht]“ (BT-Drs. 20/14923 vom 21. März 2025, S. 60). Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg dagegen will in seinem Beschluss vom 16. Mai 2025 (Az. 13 ME 32/25) differenzieren: Der Tenor des EuGH-Urteils stelle nur auf Konstellationen ab, in denen eine nationale Behörde einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ablehne und infolgedessen feststelle, dass der betroffene Ausländer sich ohne Aufenthaltsrecht aufhalte. Im konkreten Verfahren sei der Antragsteller jedoch schon im Zeitpunkt der Antragstellung ohne Aufenthaltsrecht gewesen, so dass die Voraussetzung des „infolgedessen“ nicht erfüllt sei und die Ausländerbehörde eben nicht prüfen müsse, ob eine Abschiebung gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde.

    Das Oberverwaltungsgericht gibt zu, dass die Entscheidungsgründe des EuGH-Urteils sich weitergehender als der Tenor des Urteils lesen, weil sie die zuständige nationale Behörde verpflichten, den Grundsatz der Nichtzurückweisung „in jedem Stadium des Rückkehrverfahrens“ einzuhalten. Es meint aber, dass doch jedenfalls die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dazu führen müsse, das nicht so wörtlich zu nehmen: Betroffene könnten ja schließlich einen Folgeantrag beim Bundesamt stellen.

  • Immer noch keine Rechtsverletzungen in Italien

    Nicht-vulnerablen, in Italien als schutzberechtigt anerkannten Personen droht bei einer Rückkehr nach Italien aktuell keine Verletzung ihrer durch Art. 4 GRCh gewährleisteten Rechte aufgrund der dortigen Lebensbedingungen, sagt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 4. Juni 2025 (Az. 10 LB 70/25). Das Gericht schließe sich nach eigener Prüfung den Schlussfolgerungen an, die das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren über die Tatsachenrevision zur Situation nicht-vulnerabler Schutzberechtigter in Italien gezogen habe (Urteil vom 21. November 2024, Az. 1 C 23.23). Es sei nicht erkennbar, dass sich die Umstände in Italien seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in entscheidungserheblicher Weise zum Nachteil dort Schutzsuchender oder anerkannt Schutzberechtigter verändert hätten.

    An dem Beschluss ist weniger das konkrete Ergebnis interessant als die Art und Weise, wie das Oberverwaltungsgericht mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts umgeht. Eine formale Bindung an das Urteil gibt es nicht (siehe etwa den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Dezember 2024), darum schließt sich das Oberverwaltungsgericht der Bewertung durch das Bundesverwaltungsgericht nur „nach eigener Prüfung“ an. Worin diese eigene Prüfung bestand, sagt das Oberverwaltungsgericht nicht, sein Beschluss besteht im Wesentlichen aus einem länglichen Zitat des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts.

  • Bestandsschutz auch für AsylbLG-Leistungen

    Die Regelung des § 28a Absatz 5 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ist unmittelbar auf die Berechnung der Geldbeträge in §§ 3, 3a AsylbLG anwendbar, sagt das Sozialgericht Marburg in seinem Beschluss vom 23. Mai 2025 (Az. S 16 AY 8/25 ER). In dem Verfahren hatte die Leistungsbehörde die gezahlten Geldbeträge zum Jahresbeginn 2025 mit der Argumentation gekürzt, dass die Leistungen gemäß § 3a Abs. 4 AsylbLG in jedem Jahr anhand der Veränderung der Regelbedarfsstufen nach dem SGB XII neu zu berechnen seien und dass die Regelbedarfsstufen für 2025 nun einmal niedriger als im Jahr zuvor seien. Das sah das Sozialgericht anders, weil § 3a Abs. 4 AsylbLG auf die gesamte Regelung des § 28a SGB XII verweise und nicht nur auf einzelne Absätze, und weil der gemäß § 28a Abs. 5 SGB XII geltende Bestandsschutz darum auch für nach dem AsylbLG gewährte Leistungen gelte.

    § 28a Abs. 5 SGB XII sagt, dass die jährliche Neuberechnung (Fortschreibung) der Regelbedarfsstufen nicht zu niedrigeren Zahlbeträgen als im jeweiligen Vorjahr führen darf. Warum das für Leistungen nach dem AsylbLG gerade nicht gelten soll, konnte die hier beklagte Leistungsbehörde auch nicht erklären. Ein bloßer Verweis auf die Rechtsansicht der Bundesregierung reiche nicht aus, meinte das Sozialgericht, weil sie schon im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze finde. Das sozialgerichtliche Rechtsprechung scheint überwiegend derselben Meinung wie das Sozialgericht Marburg zu sein.

  • Keine freiwillige Ausreise im Dublin-Verfahren

    Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen stellt in seinem Beschluss vom 13. Juni 2025 (Az. L 8 AY 12/25 B ER) klar, dass der Verweis auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise in den zuständigen Dublin-Staat kein taugliches oder valides Argument ist, um eine Leistungseinstellung nach § 1 Abs. 4 AsylbLG zu rechtfertigen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge befürworte freiwillige Ausreisen im Rahmen des Dublin-Verfahren nur in Ausnahmefällen, dem Überstellungsverfahren sei damit das reguläre Institut der freiwilligen Ausreise unbekannt und die Überstellung erfolge stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens.

    Das Landessozialgericht steht mit seiner Einschätzung nicht alleine dar. Zahlreiche Sozialgerichte haben in den vergangenen Wochen und Monaten eine Anwendung von § 1 Abs. 4 AsylbLG abgelehnt, unter anderem wegen europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Bedenken. Rechtsanwalt Volker Gerloff berichtet in seinen Newslettern (zuletzt im am 16. Juni 2025 erschienenen Newsletter 5/2025) über eine Vielzahl solcher Entscheidungen.

  • Keine Rückholung im Eilverfahren

    Eine einstweilige Anordnung auf Rückholung eines rechtswidrig aus Deutschland abgeschobenen Ausländers würde die Vorwegnahme der Hauptsache einer parallel erhobenen Klage bedeuten, weswegen die Feststellung eines besonderen Interesses gerade an der vorgezogenen vorläufigen Regelung (nämlich einer einstweiligen Rückholung nach Deutschland) grundsätzlich voraussetzt, dass für den Antragsteller durch das Abwarten in der Hauptsache schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, sagt das Oberverwaltungsgericht Schleswig in seinem Beschluss vom 10. Juni 2025 (Az. 6 MB 16/25). Mit Blick auf das laufende Asyl-Folgeantragsverfahren sei dem Antragsteller zwar zuzustimmen, dass in einem längeren Aufenthalt in der Türkei ein Indiz für eine fehlende Verfolgungsgefahr bzw. Gefährdungslage gesehen werden könnte; insoweit handele es sich jedoch allein um eine verfahrenstaktische Erwägung für das Asylverfahren, weil der Antragsteller nichts dazu vorgetragen habe, dass seine individuellen Rechtsgüter beeinträchtigt würden, wenn er bis zur Hauptsacheentscheidung in der Türkei verbliebe.

    Mal wieder eine Abschiebung, bei der eine gerichtliche Eilentscheidung ignoriert wurde – das hatten wir zuletzt im Januar diesen Jahres. In dem Verfahren hatte das Verwaltungsgericht am 16. Januar 2025 die aufschiebende Wirkung der Klage des Betroffenen angeordnet und hatte das beklagte Bundesamt den Beschluss am 17. Januar 2025 an die Ausländerbehörde übermittelt, die den Betroffenen jedoch bereits am „Vormittag des 17. Januar 2025“ in die Türkei abgeschoben hatte. Da es sich um einen erneuten (weiteren) Asylfolgeantrag handelte, gingen Bundesamt und Ausländerbehörden offenbar von der Anwendbarkeit des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG aus, während das Verwaltungsgericht anscheinend § 71 Abs. 5 Satz 3 AsylG für einschlägig hielt. Alles etwas undurchsichtig.

  • Anspruch auf schnelle Rechtsbehelfsverfahren

    Der Europäische Gerichtshof meint in seinem Urteil vom 19. Juni 2025 (Rs. C-299/23), dass die REST-Richtlinie 2016/801/EU über Aufenthalte u.a. zu Forschungs- oder Studienzwecken die Mitgliedstaaten nicht zur Einrichtung besonderer gerichtlicher Eilverfahren zur Durchsetzung des durch die Richtlinie gewährten Anspruchs auf ein Aufenthaltsrecht verpflichtet, dass jedoch die Korrektur einer rechtswidrigen Behördenentscheidung innerhalb kurzer Zeit möglich sein muss. In dem Verfahren ging es um die Praxis belgischer Behörden, über Anträge auf Aufenthaltstitel für ein Studium in Belgien erst kurz vor Beginn des Studienjahres zu entscheiden, so dass es bei der Ablehnung eines Antrags meist nicht mehr möglich war, eine Überprüfung der Entscheidung zu erreichen, ohne das Studienjahr zu versäumen.

    Die Aussagen des Gerichtshofs lassen sich auch wegen der Bezugnahme des Gerichtshofs auf Art. 47 GRCh vermutlich verallgemeinern und auf alle europarechtlich determinierten Entscheidungen über die Erteilung von Aufenthaltstiteln übertragen. Nationale Verwaltungs- und Rechtsbehelfsverfahren müssen also in zeitlicher Hinsicht so ausgestaltet sein, dass sie Betroffenen nicht systematisch die Möglichkeit nehmen, ihre aus Europarecht folgenden Rechte tatsächlich auszuüben.

  • Pauschaler Haftantrag und Verstoß gegen Beschleunigungsgebot

    Bereits vor einigen Wochen hatte der Bundesgerichtshof den Vollzug von Abschiebungshaft in einem Verfahren ausgesetzt, in dem die Behörden das Beschleunigungsgebot missachtet hatten. Im selben Verfahren hat er nun entschieden (Beschluss vom 26. Mai 2025, Az. XIII ZB 12/25), dass die Haft nicht nur wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot rechtswidrig war, weil das bayerische Landesamt für Asyl und Rückführungen ein Amtshilfeersuchen der Ausländerbehörde fast drei Monate lang nicht bearbeitet hatte, sondern auch wegen eines zu pauschalen Haftantrags. Auf Grundlage der pauschalen Ausführungen, dass das Verfahren zur Passersatzbeschaffung für vietnamesische Staatsangehörige „mehrere Monate“ dauere, könne das Haftgericht die erforderliche Haftdauer nicht abschätzen und böten sich keine Anhaltspunkte für konkrete Nachfragen.

    Der Beschluss ist nicht nur deshalb interessant, weil er einen Einblick in die Welt einer offenbar ineffizienten Zusammenarbeit bayerischer Behörden bietet, sondern auch deswegen, weil der Bundesgerichtshof vor einigen Wochen in einem ähnlichen Verfahren nichts an einer sechsmonatigen Haft für einen vietnamesischen Staatsangehörigen auszusetzen hatte. Dort hatte die Behörde freilich, anders als hier, die nach dem deutsch-vietnamesischen Rückübernahmeabkommen durchzuführenden Bearbeitungsschritte im Einzelnen dargelegt.

  • Menschenrechtswidriger Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen in Griechenland und Ungarn

    In jeweils zwei Urteilen vom 19. Juni 2025 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ungarn (Az. 50872/18 u.a. und 39498/18) und Griechenland (Az. 11588/20 u.a. und 51980/19 u.a.) verurteilt, weil sie in den Jahren 2017 bis 2020 die Menschenrechte von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden verletzt haben. In allen Verfahren ging es um Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit und in einigen Fällen auch um Freiheitsentziehung.

  • HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist da

    Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist fertig und steht zum kostenlosen Download bereit. Auf zehn Seiten gibt es alle relevante migrationsrechtliche Rechtsprechung, über die der HRRF-Newsletter im Mai 2025 berichtet hat.

  • Neue EUAA-Rechtsprechungsübersicht veröffentlicht

    Die Europäische Asylagentur (EUAA) hat Ausgabe 2/2025 ihres vierteljährlichen, thematisch gegliederten Updates zur Asylrechtsprechung in der Europäischen Union veröffentlicht, das auf 46 Seiten den Zeitraum März bis Mai 2025 abdeckt.

Neueste Newsletter

  • Mehrere Monate

    Müssen Ausländerbehörden bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse prüfen, obwohl sie dafür nach deutschem Recht gar nicht zuständig sind, oder bleibt es bei der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge? Ein EuGH-Urteil aus dem vergangenen Herbst sorgt jedenfalls bei mir für Verwirrung, und eine…

    Weiterlesen..

  • Refoulement by Proxy

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiß auch nicht mehr weiter und erklärt sich für unzuständig, wenn es um die Externalisierung von Pushbacks im Mittelmeer geht. Dafür scheint aber in der beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Schadensersatzklage gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex das letzte Wort noch nicht gesprochen zu…

    Weiterlesen..

  • Verbleibende Spielräume

    Der in dieser Einleitung zur Verfügung stehende Platz soll heute ausnahmsweise nicht dazu verwendet werden, um auf die (zahlreichen) wichtigen Entscheidungen der Woche hinzuweisen. Stattdessen geht es um die HRRF-Website, die in dieser Woche nicht nur sozusagen runderneuert wurde, damit sie noch mehr Inhalte und viele…

    Weiterlesen..

  • Herausragende Bedeutung

    Das Bundesverfassungsgericht legt nach und rügt erneut einen Grundrechtsverstoß bei der Anordnung von Abschiebungshaft, während der Bundesgerichtshof bei der Anordnung von Abschiebungshaft in einem anderen Verfahren eher großzügige Standards anwendet. Daneben geht es in dieser Woche um eine willkürliche Kostenentscheidung eines Sozialgerichts, ein beim Europäischen Gerichtshof…

    Weiterlesen..

  • Rechtsstaatliche Gesichtspunkte

    In den HRRF-Newsletter haben es diese Woche gleich drei aktuelle Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts geschafft, in denen es um rechtswidrige Abschiebungen und verweigerte Akteneinsicht, um gerichtliche Benachrichtigungspflichten bei der Anordnung von Abschiebungshaft und um die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch in Eilverfahren geht. Der Verwaltungsgerichtshof München nimmt derweil…

    Weiterlesen..

ISSN 2943-2871