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Ausgabe 175 • 13.12.2024

Personengruppenbezogener Aspekt

Sichere Herkunftsstaaten sind sicher das Thema der Woche, weil zum einen der Europäische Gerichtshof einige der bei ihm dazu anhängigen Vorabentscheidungen im beschleunigten Verfahren behandeln will und weil zum anderen das Verwaltungsgericht Berlin seine Ankündigung wahrgemacht hat und vom Gerichtshof die (dort ohnehin bereits anhängige) Frage geklärt wissen will, ob ein sicherer Herkunftsstaat auch für alle Personengruppen sicher sein muss. Dass der Gerichtshof die selten erfolgende Zulassung des beschleunigten Verfahrens ausgerechnet mit der von einem italienischen Gericht vorgelegten Frage begründet, ob es nicht europarechtswidrig sei, wenn sichere Herkunftsstaaten vom nationalen Gesetzgeber anstatt von nationalen Verwaltungsbehörden benannt werden, ist vor dem Hintergrund der deutschen Rechtslage besonders relevant. Außerdem geht es in dieser Woche um ein mittlerweile 16 Jahre (!) dauerndes Widerrufsverfahren, um die Übermittlung von Sozialdaten an Ausländerbehörden, um formlose Visumanträge, um einen Konflikt zwischen Strafrecht und Aufenthaltsrecht sowie, wie in jeder Woche, um die Reichweite des Beschwerdeausschlusses.

Asylverfahrensrecht

Europäischer Gerichtshof beschleunigt Verfahren zu sicheren Herkunftsstaaten

In seinem Beschluss vom 29. November 2024 (Rs. C-758/24 und C-759/24) hat der Europäische Gerichtshof entschieden, zwei von einem italienischem Gericht initiierte (und bereits verbundene) Vorabentscheidungsverfahren (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 168 und Nr. 171) im beschleunigten Verfahren zu behandeln. Inhaltlich geht es in dem verbundenen Verfahren um die europarechtlichen Anforderungen an die nationale Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten und dabei unter anderem um die Fragen, ob die EU-Mitgliedstaaten sichere Herkunftsstaaten bestimmen dürfen, ohne die zur Begründung herangezogenen Quellen zugänglich und überprüfbar zu machen, ob sie sichere Herkunftsstaaten unmittelbar durch Gesetz bestimmen dürfen (wie das etwa in Deutschland der Fall ist, siehe § 29a AsylG sowie Anlage II zum AsylG) und ob die EU-Asylverfahrensrichtlinie der Bestimmung eines Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat entgegensteht, wenn es in diesem Staat Personengruppen gibt, für die er nicht sicher ist, d.h. die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Bestimmung nicht erfüllt.

Eine der ihm gestellten Fragen, nämlich die Frage, ob der nationale Gesetzgeber selbst sichere Herkunftsstaaten bestimmen darf (oder ob dies offenbar durch Verwaltungsbehörden geschehen müsste), hält der Gerichtshof für grundlegend, weil sie das Verhältnis zwischen dem Unionsrecht und der in der verfassungsrechtlichen Ordnung eines Mitgliedstaats vorgesehenen Gewaltenteilung betreffe. Eine solche grundlegende Frage des innerstaatlichen Verfassungsrechts oder des Unionsrechts könne es wie hier in Anbetracht der besonderen Umstände einer solchen Rechtssache erforderlich machen, sie im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu behandeln. Der Hinweis des vorlegenden Gerichts auf das Bestehen einer „schweren institutionellen Krise, die in Italien durch erste Entscheidungen der Gerichte verursacht wurde, Haftanordnungen in Grenzverfahren nicht zu bestätigen“, mag die Entscheidung des Gerichtshofs beeinflusst haben.

In einem weiteren Beschluss vom 29. November 2024 (verbundene Rs. C-388/24 und C-389/24) hat der Gerichtshof dagegen die Durchführung des beschleunigten Verfahrens abgelehnt. In diesem Verfahren, denen ebenfalls Vorabentscheidungsersuchen italienischer Gerichte zugrunde liegen, geht es um sehr ähnliche Fragen zu sicheren Herkunftsstaaten, allerdings nicht auch um die Frage der Zulässigkeit einer Bestimmung von sicheren Herkunftsstaaten durch den nationalen Gesetzgeber.

Asylverfahrensrecht

Zweifel an Senegal als sicherem Herkunftsstaat

Bereits im April 2024 hatte das Verwaltungsgericht Berlin in einem Eilverfahren „erhebliche unionsrechtliche“ Zweifel an der Bestimmung Senegals als sicheren Herkunftsstaat gemäß § 29a AsylG geäußert (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 142), nun hat es im dazugehörigen Hauptsacheverfahren mit Beschluss vom 29. November 2024 (Az. Az. 31 L 670/23 A) tatsächlich ein Vorabentscheidungsersuchen vor dem Europäischen Gerichtshof initiiert und dazu am 11. Dezember 2024 eine Pressemitteilung veröffentlicht. Die vom Verwaltungsgericht vorgelegten Fragen ähneln den Fragen zu sicheren Herkunftsstaaten, die dem Gerichtshof unlängst von italienischen Gerichten vorgelegt wurden (siehe oben).

Das Verwaltungsgericht hat den Gerichtshof um Klärung gebeten, ob für die Bestimmung eines Staats als sicherer Herkunftsstaat landesweit Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen bestehen müsse und was eine solche Bevölkerungsgruppe sei bzw. unter welchen Voraussetzungen sie als nicht sicher anzusehen sei. Zwar habe der Gerichtshof unlängst (nämlich in seinem Urteil vom 4. Oktober 2024, siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 166) entschieden, dass ein Drittstaat nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden dürfe, wenn Teile seines Hoheitsgebiets nicht sicher seien. Offen sei jedoch, ob das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten auch einen „personengruppenbezogenen Aspekt“ aufweise, wonach ein Drittstaat auch dann nicht als sicher eingestuft werden dürfe, wenn lediglich bestimmte Personengruppen nicht sicher seien. Außerdem möchte das Verwaltungsgericht wissen, ob die Bestimmung eines Staats als sicherer Herkunftsstaat gerichtlich überprüfbar ist und wie dabei die Rechtsprechung von Gerichten in anderen EU-Mitgliedstaaten berücksichtigt werden muss.

Nach der Einschätzung des Verwaltungsgerichts sind im Senegal 25% der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren Opfer von Genitalverstümmelung, ist Zwangsheirat, besonders Minderjähriger, trotz Verbots auf dem Lande verbreitet und wird eine große Zahl von Kindern von ihren Familien in Koranschulen geschickt, wo die Kinder in vielen Fällen zum Betteln auf der Straße missbraucht werden. Außerdem sind gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen strafbar und werden mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet, zeigen Religionsgemeinschaften keine Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten und werden LGBTQI+-Personen in der Gesellschaft diskriminiert. Zudem sieht die senegalesische Verfassung zwar vor, dass alle Angeklagten das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren haben, und hat die Justiz dieses Recht im Allgemeinen durchgesetzt, geben willkürliche Verhaftungen und längere Inhaftierungen aber gleichwohl Anlass zur Sorge.

Asylverfahrensrecht

Widerrufsverfahren nach 16 Jahren vielleicht abgeschlossen

Das Oberverwaltungsgericht Greifswald hat in seinem Beschluss vom 3. Dezember 2024 (Az. 4 L 101/12) die Rechtmäßigkeit eines im Jahre 2008 erfolgten Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung einer togoischen Staatsangehörigen wegen des Wegfalls der Voraussetzungen durch eine veränderte politische Situation in Togo bestätigt. Der Betroffenen war 2003 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden, diese Zuerkennung wurde 2008 widerrufen. Eine Klage gegen den Widerruf wurde ebenfalls 2008 vom Verwaltungsgericht Schwerin abgelehnt, dessen Entscheidung 2011 vom Oberverwaltungsgericht Greifswald aufgehoben wurde. Diese Aufhebung hob das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 1. März 2012 (Az. 10 C 11.11) auf und verwies das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück an das Oberverwaltungsgericht. Dort wurde das Verfahren offenbar „mit Verfügung des Berichterstatters vom 18. Februar 2014 als statistisch erledigt“ abgelegt und vergessen, bis sich das Bundesamt im Januar 2023, d.h. neun Jahre später, nach dem Stand des Verfahrens erkundigte.

Aufenthaltsrecht

Übermittlung von Sozialdaten erwachsener Ausländer durch Jugendamt zulässig

Die Befugnis zur Datenübermittlung zwischen Jugendamt und Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X erfasst auch Sozialdaten erwachsener Ausländer und ist nicht auf Fälle beschränkt, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Jugendliche oder Heranwachsende im Raum stehen, meint das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 21. November 2024 (Az. 6 B 8.24). In dem Verfahren hatte die Ausländerbehörde im Rahmen einer Prüfung der nachträglichen Befristung der Ausweisung des ausländischen Klägers das Jugendamt um Auskunft zum Umgang des Klägers mit seiner deutschen Tochter ersucht und hatte das Jugendamt Informationen zur Umsetzung eines zwischen dem Kläger und der Kindsmutter geschlossenen gerichtlichen Vergleichs über das Umgangsrecht sowie eigene Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung übermittelt. Weder dem Wortlaut noch der Systematik des Gesetzes seien Anhaltspunkte für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 71 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d) SGB X auf jugendliche oder heranwachsende Ausländer zu entnehmen, so das Bundesverwaltungsgericht, auch wenn der Gesetzgeber die Fallgruppe der Ausweisung jugendlicher Ausländer vor Augen gehabt habe möge. Die Regelung sie vielmehr ganz allgemein darauf gerichtet, Ausländerbehörden im Rahmen ihnen obliegender Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, von denen auch Jugendliche betroffen sein können, Zugriff auf das Wissen und die Expertise der Jugendämter zu eröffnen.

Aufenthaltsrecht

Formloser Visumantrag per E-Mail möglich

Über gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Auswärtigen Amt und der Berliner Ausländerbehörde hatte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 5. Dezember 2024 (Az. 3 B 38/23) zu entscheiden, nämlich zu der Frage, welche formellen Anforderungen an die Stellung eines Visumantrags bei einer deutschen Auslandsvertretung zu stellen sind. Während das Auswärtige Amt eine formlos per E-Mail erfolgte Antragstellung für ausreichend hielt, sah die Ausländerbehörde das anders und verweigerte ihre gemäß § 31 AufenthV erforderliche Zustimmung zur Visumerteilung. Zwar habe das Gericht mehrfach entschieden, so das Oberverwaltungsgericht, dass eine sogenannte fristwahrende Anzeige ebenso wenig einen Visumantrag darstelle wie die bloße Registrierung eines Terminwunschs zur Antragstellung in der Botschaft, es bedürfe aber keiner Entscheidung, ob diese Rechtsprechung im Hinblick auf die Kritik an der Behördenpraxis zu überdenken sei. Das Gericht habe nämlich stets betont, dass die Stellung eines Visumantrags grundsätzlich auch formlos möglich sei, etwa durch ein Schreiben an die zuständige Botschaft, wenn aus diesem hinreichend deutlich hervorgehe, dass die Erteilung eines Visums beantragt werde. Die von der Rechtsanwältin der Kläger an die deutsche Botschaft gesendete E-Mail erfülle diese Voraussetzungen.

Aufenthaltsrecht

Vorrang aufenthaltsrechtlicher Auflagen vor strafgerichtlichen Weisungen

Eine aufenthaltsrechtliche Wohnsitzauflage hat im Prinzip Vorrang vor einer strafgerichtlichen Weisung zur Wohnsitznahme, sagt das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Beschluss vom 29. November 2024 (Az. 2 PA 310/24). Eine strafgerichtliche Weisung könne einem ausländischen Verurteilten nur zu einem Verhalten erteilt werden, das ihm ausländerrechtlich erlaubt sei, so dass eine Weisung gemäß § 56c StGB, an einem bestimmten Ort zu wohnen, nicht automatisch zum Wegfall einer kollidierenden ausländerrechtlichen Wohnsitzauflage führe. Die Ausländerbehörde müsse allerdings prüfen, ob sie ihre Wohnsitzauflage ändern wolle, um dem Ausländer die Erfüllung der strafgerichtlichen Weisung zu ermöglichen.

Aufenthaltsbeendigung

Doch kein Beschwerdeausschluss

Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in denen sich der betroffene Ausländer auf einen im Aufenthaltsgesetz geregelten Duldungsgrund oder einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beruft und die Aussetzung der Abschiebung begehrt, fallen nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Schleswig in seinem Beschluss vom 3. Dezember 2024 (Az. 6 MB 28/24) nicht unter den Beschwerdeausschluss des § 80 Var. 2 AsylG, und zwar auch dann nicht, wenn die maßgebliche Abschiebungsandrohung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Grundlage von § 34 AsylG verfügt wurde. Es sei jedenfalls nicht mit der gebotenen Deutlichkeit zu erkennen, dass § 80 Var. 2 AsylG die Beschwerde auch in Fällen ausschließe, in denen sich der betroffene Ausländer auf einen Anspruch auf Duldung berufe und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Aussetzung der Abschiebung begehre. Entgegen der vereinzelt vertretenen Auffassung, wonach dem Gebot der Rechtsmittelklarheit durch einen möglichst weit gefassten Beschwerdeausschluss entsprochen werden könne, sei nicht zuletzt wegen des mit § 80 Var. 2 AsylG verbundenen Systembruchs und als Ergebnis einer Anwendung der herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden im Gegenteil eine restriktive Auslegung richtig.

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