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Unauflöslich widersprüchlich

Feiertag hin oder her, asylrechtliche Rechtsprechung gibt es bekanntlich immer, und darum auch in dieser Woche einen Newsletter. Es geht um vermeintlich sichere Herkunftsländer (Georgien und den Senegal), die Lage in Syrien (nicht mehr ungewiss), um Familienflüchtlingsschutz (gibt es auch ohne familiäre Lebensgemeinschaft), widersprüchlichen Vortrag (gefährlich), die Aufnahmesituation für schutzberechtigte Familien in Griechenland (nicht pauschal unsicher), Aufnahmezusagen für afghanische Staatsangehörige (beim Bundesverfassungsgericht gelandet) und die Dublin-Leistungsausschlüsse im Asylbewerberleistungsgesetz (mit einer Individualbeschwerde auf Grundlage des UN-Sozialpakts angegriffen).

  • Georgien immer noch kein sicheres Herkunftsland

    Dass Georgien kein sicheres Herkunftsland ist, hatte die 38. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin bislang nur wegen der nichtstaatlichen Verfolgung von LGBTI-Personen angenommen, während die 31. Kammer des Gerichts nur mit den nicht sicheren Landesteilen Abchasien und Südossetien argumentiert hatte. In ihrem Beschluss vom 17. September 2025 (Az. 38 L 324/25 A) führt die 38. Kammer nun beide Argumentationsstränge zusammen: Der Bestimmung Georgiens als sicherer Herkunftsstaat stehe sowohl die Lage von LSBTIQ-Personen in Georgien als auch die Lage in den Regionen Abchasien und Südossetien entgegen.

    Für die Ewigkeit wird diese Rechtsprechung nicht gelten, weil Art. 61 Abs. 2 der neuen EU-Asylverfahrensverordnung 2024/1348 es ausdrücklich erlauben wird, nur Teile eines Herkunftslands als sicher zu bestimmen, oder ein Herkunftsland nur für bestimmte Personengruppen als sicher zu bestimmen. Die neue EU-Asylverfahrensverordnung soll am 12. Juni 2026 in Kraft treten (siehe Art. 79 Abs. 2 der Verordnung), möglicherweise wird die Regelung zu sicheren Herkunftsländern (Art. 61 Abs. 2 der Verordnung) aber schon vorher in Kraft gesetzt werden, wie dies ein Vorschlag der Europäischen Kommission aus dem April 2025 zur Änderung der Verordnung vorsieht.

  • Senegal kein sicheres Herkunftsland

    Im April 2024 hatte das Verwaltungsgericht Berlin Zweifel daran angemeldet, ob der Senegal tatsächlich ein sicheres Herkunftsland ist, wie es seine Nennung in Anlage II zum Asylgesetz damals nahelegte (und heute immer noch nahelegt), und im November 2024 ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof gerichtet (Rs. C-839/24), weil nach europäischem Recht damals nicht klar war, ob für die Bestimmung eines Staats als sicheren Herkunftsstaat landesweit Sicherheit für alle Bevölkerungsgruppen bestehen muss und was eine solche Bevölkerungsgruppe ist bzw. unter welchen Voraussetzungen sie als nicht sicher anzusehen ist. Wie es heißt, hat das Verwaltungsgericht sein Vorabentscheidungsersuchen nach dem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu sicheren Herkunftsstaaten vom 1. August 2025 inzwischen zurückgezogen und geht es wohl davon aus, dass der Senegal kein sicheres Herkunftsland ist.

  • Keine ungewisse Lage in Syrien

    Eine die Anwendung von § 24 Abs. 5 AsylG und damit einen Entscheidungsaufschub für Asylanträge rechtfertigende „vorübergehende ungewisse Lage“ besteht in Syrien jedenfalls im September 2025 nicht mehr, meint das Verwaltungsgericht Düsseldorf in seinem Urteil vom 10. September 2025 (Az. 17 K 10322/24.A). Die neue syrische Regierung sei stabil an der Macht und übe die Kontrolle über weite Teile des Landes aus; staatliche Strukturen seien wiederaufgebaut und weiter verfestigt worden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge werde darum dazu verpflichtet, den Asylantrag des Klägers zu bescheiden.

    Das 17. Kammer des Verwaltungsgerichts hatte bei der Formulierung ihres Urteils offenbar denkbar schlechte Laune: Wenn das Bundesamt über Widerrufsverfahren für syrische Schutzberechtigte entscheiden könne, dann sei nicht ersichtlich, warum das im konkreten Verfahren (in dem eine Anerkennung im Raum stand) nicht auch gelten solle (Rn. 42). Außerdem halte die Kammer für die Festsetzung von Zwangsgeldern gegen das Bundesamt (§ 172 VwGO) nicht mehr an ihrer früheren Rechtsprechung fest, dass dem Bundesamt vor der Festsetzung eine Entscheidungsfrist von drei Monaten ab Rechtskraft des Urteils zuzubilligen sei (Rn. 56).

  • Familienflüchtlingsschutz auch ohne familiäre Lebensgemeinschaft

    Voraussetzung für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 26 Abs. 5 S. 1 und 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG ist nicht, dass ein minderjähriges Kind eines als Flüchtling anerkannten Elternteils mit diesem stammberechtigten Elternteil in der Bundesrepublik Deutschland in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt, sagt das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 23. September 2025 (Az. 2 LA 107/21).

    Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts besteht im Wesentlichen aus einer zitatweisen Wiedergabe des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Schleswig vom 27. Februar 2023 (Az. 1 LA 12/21), in dem argumentiert wurde, dass der auf Familienangehörige von international Schutzberechtigten entsprechend anzuwendende Wortlaut von § 26 Abs. 2 AsylG die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anerkennung eines minderjährigen ledigen Kindes eines Asylberechtigten als asylberechtigt abschließend nenne und keine ausreichenden Anhaltspunkte ersichtlich seien, die eine über diesen Wortlaut hinausgehende Auslegung (nämlich die Voraussetzung einer familiären Lebensgemeinschaft) zulassen würden.

  • Widersprüchlicher Vortrag ist gefährlich

    Das Bundesverwaltungsgericht nutzt in seinem Beschluss vom 4. September 2025 (Az. 1 B 12.25) die Gelegenheit, um die Anforderungen an die Glaubhaftigkeit des Sachvortrags im Asylverfahren in Erinnerung zu rufen. Antragsteller müssten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Unterstellung der Wahrheit ergebe, dass sie bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätten. Zu den Anforderungen gehöre auch, dass sie zu den in ihre eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu ihren persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung geben müssten, die geeignet sei, den behaupteten Schutzanspruch lückenlos zu tragen.

    Welche Konsequenzen ein widersprüchlicher und damit unglaubhafter Sachvortrag haben kann, erläutert das Gericht in seinem Beschluss auch. Tatsachengerichte müssen Beweisanträgen zum Verfolgungsgeschehen nicht mehr nachgehen (Rn. 4), das Berufungsgericht kann von einer erneuten gerichtlichen Anhörung der Kläger absehen (Rn. 9). Noch gravierender ist aber (Rn. 9), dass eine gerichtliche Anhörung auch insgesamt, d.h. auch vor dem erstinstanzlich zuständigen Verwaltungsgericht, entfallen kann. Ein Gericht dürfe sich nämlich auch ohne eigene persönliche Anhörung des Klägers allein aufgrund eines widersprüchlichen Vorbringens im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Überzeugung bilden, dass das behauptete Verfolgungsgeschehen nicht der Wahrheit entspreche. Das könne der Fall sein, wenn dem vom Bundesamt schriftlich festgehaltenen Vorbringen wegen gravierender unauflöslicher Widersprüche, erheblicher Ungereimtheiten oder des völligen Fehlens der erforderlichen Substantiierung jede Glaubhaftigkeit abzusprechen sei. Gerichte seien außerdem grundsätzlich nicht gehalten, die Kläger vorab auf derartige mögliche Ungereimtheiten und Widersprüche in ihrem Vorbringen hinzuweisen.

  • Schweizerisches Referenzurteil: Griechenland nicht pauschal unsicher

    Das erst- und letztinstanzlich für Klagen gegen Asylbescheide zuständige schweizerische Bundesverwaltungsgericht hat in einem Referenzurteil vom 11. September 2025 (Az. D-2590/2025) entschieden, dass die Aufnahmesituation von schutzberechtigten Familien mit Kindern in Griechenland nicht so unsicher ist, dass eine Überstellung nach Griechenland von vornherein nicht in Frage kommt. Von Familien dürften trotz der schwierigen Ausgangslage im Rahmen ihrer Möglichkeiten konkrete Anstrengungen erwartet werden, sich ein Leben in Griechenland aufzubauen, ihre Lebenssituation dort nachhaltig zu sichern und sich bei Bedarf an staatliche Einrichtungen oder Sozialbehörden sowie an karitative Organisationen zu wenden, um allenfalls notwendige Hilfe zu erhalten. Etwas anderes gelte nur, wenn Betroffene aufzeigen könnten, dass es ihnen trotz zumutbarer Anstrengungen nicht gelungen sei, sich in Griechenland eine menschenwürdige Existenz aufzubauen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zu seinem Urteil am 2. Oktober 2025 auch eine Pressemitteilung veröffentlicht.

    Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) kritisiert das Urteil in einer Pressemitteilung vom 2. Oktober 2025 als Verschärfung der in der Schweiz bislang angewandten Standards für die Beurteilung der Aufnahmesituation anerkannter Schutzberechtigter in Griechenland. Dass das Bundesverwaltungsgericht in der sehr wahrscheinlichen Obdachlosigkeit der in dem Verfahren betroffenen Familie nach ihrer Rückkehr nach Griechenland kein Hindernis für eine Abschiebung sehe, sei aus Sicht der SFH nicht nachvollziehbar, zumal minderjährige Kinder involviert seien. Die SFH habe bereits mehrfach kritisiert, dass das Bundesverwaltungsgericht in seinen Urteilen bei staatlichen Lücken auf die Möglichkeit der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen vor Ort verweise, der griechische Staat die Arbeit dieser Organisationen jedoch seit einigen Jahren massiv einschränke. In einem dem Bundesverwaltungsgericht bekannten Schreiben an die SFH aus dem Juli 2025 hätten 14 im Asylbereich tätige griechische NGOs ihre Bedenken in Bezug auf die entsprechenden Verweise des Bundesverwaltungsgerichts geäußert und auf ihre beschränkten Ressourcen hingewiesen.

  • Afghanistan-Aufnahmen beim Bundesverfassungsgericht

    Nach einer Zwischenstation beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ist jetzt eines der Verfahren um die Erteilung von Aufnahmezusagen und Einreisevisa an afghanische Staatsangehörige beim Bundesverfassungsgericht gelandet. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. berichtet am 30. September 2025 in einer Pressemitteilung über die von ihr unterstützte Verfassungsbeschwerde, in der auch ein Eilantrag auf Erteilung vorläufiger Einreisevisa für einen afghanischen Richter und seine Familie gestellt wurde. Eine Zusammenfassung der in der Verfassungsbeschwerde vorgebrachten Argumente gibt es ebenfalls.

    Vor dem Hintergrund der in Pakistan stattfindenden Abschiebungen afghanischer Staatsangehöriger wird dem Eilrechtsschutz in diesem Verfahren eine besondere Bedeutung zukommen, was die Zusammenfassung der Verfassungsbeschwerde (siehe oben) auch betont. Spannend ist, dass in dem Verfahren eine Aufnahmeerklärung gemäß § 22 S. 2 AufenthG erteilt wurde, die aus der Sicht des Oberverwaltungsgerichts (aus der Pressemitteilung des Gerichts vom 1. September 2025 geht hervor, dass es sich vermutlich um das mit Beschluss vom 28. August 2025 (Az. 6 S 47/25) entschiedene Verfahren handelte) einen „rein innerbehördlichen Charakter“ ohne jegliche Außenwirkung haben soll.

  • Dublin-Leistungsausschluss mit UN-Individualbeschwerde angegriffen

    Auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte sind einklagbare Menschenrechte, und in Deutschland geht das mit dem Einklagen seit Juli 2023 noch einfacher, weil da das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) in Kraft getreten ist und Individualbeschwerden gegen Deutschland möglich geworden sind. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. unterstützt jetzt eine solche am 29. September 2025 eingelegte Individualbeschwerde, in der es um den sozialrechtlichen Leistungsausschluss gemäß § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG bei Zuständigkeit eines anderen EU-Staats für die Durchführung des Asylverfahrens geht. Über die Beschwerde wird ein Ausschuss der Vereinten Nationen entscheiden, der Deutschland dazu auffordern könnte, die Praxis des Leistungsausschlusses einzustellen, sofern der Ausschuss sie als menschenrechtswidrig betrachten wird.

    Der in Thüringen lebende und wegen des auf ihn angewandten Leistungsausschlusses seit Februar 2025 obdachlose Beschwerdeführer hat bereits vor dem Verwaltungsgericht Meiningen, dem Sozialgericht Thüringen, dem Landessozialgericht Thüringen und, im Juni 2025, dem Bundesverfassungsgericht erfolglos versucht, gegen den Leistungsausschluss vorzugehen.

  • Textausgabe zur GEAS-Reform aktualisiert

    Wer schon mal einen Blick in den (neuen) Entwurf des deutschen GEAS-Anpassungsgesetzes geworfen hat (Links gibt es hier), dem wird vielleicht aufgefallen sein, dass die diversen EU-Rechtsakte dort stets nur mit ihren kryptischen Nummern (z.B. „VO 2024/1351“) bezeichnet werden. Grund genug, die Textausgabe zur GEAS-Reform zu aktualisieren, damit die Nummern dort auch auftauchen, und zwar auf jeder Seite. Man erinnert zwar nach einiger Zeit, welche Nummer denn für welchen Rechtsakt steht, aber sicher ist sicher.

  • Links zur GEAS-Reform

    Auch wenn die gedruckte Textausgabe zur GEAS-Reform 2024 natürlich unverzichtbar ist, gibt es doch auch Online-Quellen, die für die tägliche Arbeit mit der Reform und mit den Rechtstexten wichtig sind. Hier werden die wichtigsten Links gesammelt. Beschlossene EU-Rechtsakte Die folgenden…

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind noch nicht mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem…

  • Monatsübersicht Mai 2025

    Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:

ISSN 2943-2871