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Begrenzte Aussagekraft

Immer neue juristische Winkelzüge des Bundesinnenministers bei den Afghanistan-Aufnahmezusagen, allerdings auch immer neue Strafanzeigen gegen ihn. Im Übrigen geht es in dieser Woche vorwiegend um Griechenland und darum, was Schutzsuchende und Schutzberechtigte dort erwartet, nämlich etwa unterlassene Seenotrettung, und, wenn man eine Frau ist, vielleicht Verelendung, vielleicht aber auch nicht. Das Bundesverwaltungsgericht verhandelt nächste Woche übrigens wieder einmal über eine Tatsachenrevision zu Griechenland, die allerdings keine Frau betrifft. Dass das mit den Tatsachenrevisionen ohnehin kein großes Erfolgsmodell ist, zeigt ein Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin, der dieser Art von Entscheidungen schon aus prinzipiellen Erwägungen nur eine begrenzte Aussagekraft zuspricht. Außerdem in diesem Newsletter: Fallstricke der Berufungszulassung wegen Divergenz, eine Abschiebung nach Tadschikistan, Flüchtlingsschutz für einen homosexuellen russischen Wehrpflichtigen und ein voller Terminkalender beim Bundesverwaltungsgericht.

  • Immer Ärger mit Alex (und den Aufnahmezusagen)

    Über die rechtlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen rund um die deutschen Aufnahmezusagen für afghanische Staatsangehörige hat der HRRF-Newsletter gefühlt bereits unzählige Male berichtet (im Juli hier, hier und hier, im August hier und hier, im September hier, hier und hier, zuletzt im Oktober hier). So richtig ruhiger wird es nicht, weil sich die Bundesregierung offenbar nicht damit abfinden will, dass sowohl das Verwaltungsgericht Berlin als auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg aus Ausnahmezusagen jedenfalls im Grundsatz auch einen Anspruch auf Visumerteilung ableiten. Stattdessen werden nun nämlich Aufnahmezusagen widerrufen oder zurückgenommen, und zwar sofort vollziehbar, und anscheinend auch in Verfahren, in denen die Bundesregierung zuvor zur Visumerteilung verurteilt wurde. Da solche Entscheidungen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg getroffen werden, ist für Klagen gegen Widerrufe und Rücknahmen in erster Instanz das Verwaltungsgericht Ansbach und in zweiter Instanz der Verwaltungsgerichtshof München zuständig. Vereinzelt wurden aus Ansbach und München schon vor dem Sommer Entscheidungen zum Widerruf von Aufnahmezusagen bekannt, jetzt wird über neue Entscheidungen berichtet, in denen die Widerrufe bzw. Rücknahmen für rechtswidrig erklärt wurden.

    Parallel dazu ist Bundesinnenminister Alexander Dobrindt wegen des Umgangs der Bundesregierung mit bereits erteilten Aufnahmezusagen Mitte Oktober erneut angezeigt worden, auch das passiert inzwischen mit einer gewissen Regelmäßigkeit (siehe etwa hier und hier und hier). Wer weiß, ob Dobrindt nicht zum deutschen Salvini wird – der italienische Politiker Matteo Salvini muss sich für sein Verhalten als italienischer Innenminister 2019, als er den Zugang eines Rettungsschiffs mit Flüchtlingen zu einem italienischen Hafen blockierte, auch Mitte 2025 noch vor Gericht verantworten, ihm drohen sechs Jahre Haft.

  • Griechenland schon wieder wegen unterlassener Seenotrettung verurteilt

    In seinem Urteil vom 14. Oktober 2025 (Az. 17622/21, F.M. u.a. gg. Griechenland) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland wegen der Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verurteilt. In dem Verfahren ging es um den Vorwurf unterlassener Seenotrettung, als bei einem Schiffsunglück in der Ägäis im März 2018 16 Menschen starben und die griechische Küstenwache trotz zahlreicher Notrufe und Positionsdaten über 24 Stunden lang untätig blieb. Die anschließenden strafrechtlichen Ermittlungen zu dem Vorfall durch die zuständige Staatsanwaltschaft am Marinegericht von Piräus seien außerdem unzureichend gewesen und hätten gravierende Mängel aufgewiesen.

    Es ist jetzt schon ein paar Monate her seit der letzten Verurteilung Griechenlands wegen der Verletzung der Menschenrechte von Schutzsuchenden auf See, aber ein Trost ist das nicht. Die Verurteilungen im März 2025, im Januar 2024 oder etwa im Juli 2022 zeichnen ein klares Bild und Muster von menschenfeindlicher und menschenrechtsfeindlicher Gesinnung bei griechischen Behörden, jedenfalls in den Jahren 2014 bis 2018, in denen sich die abgeurteilten Sachverhalte zugetragen haben. Dass es auch danach nicht besser geworden ist, zeigt zum Beispiel die Katastrophe von Pylos im Juni 2023 mit etwa 650 ertrunkenen Schutzsuchenden.

  • Keine Divergenz bei divergenten Zeiträumen

    In seinem Beschluss vom 9. Oktober 2025 (Az. 9 LA 115/25) hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg einen Antrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stade aus dem Dezember 2024 abgelehnt, in dem das Verwaltungsgericht von der Verfolgung von Yeziden in der irakischen Region Shingal ausgegangen war und das Bundesamt zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet hatte. Die Zulassung der Berufung hatte das Bundesamt wegen Divergenz gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG beantragt, d.h. weil das Stader Urteil von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg zur Frage der Verfolgung von Yeziden im Irak abweiche. Tatsächlich liege aber keine solche Abweichung vor, so das Oberverwaltungsgericht, weil seine eigene Rechtsprechung aus dem Juli 2019 stamme, was einen zeitlichen Abstand von mehr als fünf Jahren zum Urteil aus Stade Ende 2024 bedeute. Grundsätzliche Aussagen zur Situation in Herkunftsländern könnten sich nur dann widersprechen, wenn sie jeweils für denselben Zeitpunkt oder Zeitraum aufgestellt worden seien.

    Das Verfahren ist aus Sicht des Bundesamts denkbar unglücklich gelaufen, weil das Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss klar darauf hinweist, dass es die Berufung gerne wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zugelassen hätte, dies aber nicht tun konnte, weil das Bundesamt diesen Zulassungsgrund nicht geltend gemacht hatte.

  • Griechenland-Entscheidungen kein Abänderungsgrund im Rahmen von § 80 Abs. 7 VwGO

    Ein bloßer Verweis auf die Tatsachenrevisionsentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts aus dem April 2025 zur Lage anerkannter Schutzberechtigter in Griechenland stellt keinen Abänderungsgrund im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO dar, meint das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss vom 2. Oktober 2025 (Az. 34 L 462/25 A), und hat einen entsprechenden Änderungsantrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. In dem Verfahren hatte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen Bescheid des Bundesamts im Dezember 2024 angeordnet, diese aufschiebende Wirkung wollte das Bundesamt nun beseitigt haben, weil es sich bei dem Kläger um einen erwerbsfähigen und gesunden jungen Mann handele, dessen Klage nach den Griechenland-Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts keine Erfolgsaussichten mehr habe. Das sah das Verwaltungsgericht anders, weil sich weder die Sach- oder Rechtslage noch die höchstrichterliche Rechtsprechung geändert habe noch eine umstrittene Rechtsfrage geklärt worden sei.

    Wenn ich die Argumentation des Verwaltungsgerichts richtig verstehe, dann läuft sie auch auf die Überlegung hinaus, dass die Klärung von Tatsachenfragen im Rahmen einer Tatsachenrevision nur eine „begrenzte Aussagekraft“ hat und das Verwaltungsgericht nicht von der Würdigung tagesaktueller, tatsächlicher Umstände entbindet, die einer dauerhaft verbindlichen letztinstanzlichen Klärung nur eingeschränkt zugänglich sind. Wenn es mit anderen Worten mehr oder weniger egal ist, was das Bundesverwaltungsgericht entschieden hat, dann kann das auch nicht für einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO reichen.

  • Frauen droht vielleicht Verelendung in Griechenland

    Nicht-vulnerablen, alleinstehenden, jungen und gesunden Frauen, die in Griechenland als Schutzberechtigte anerkannt sind, droht dort nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung, meint das Verwaltungsgericht Augsburg in seinem Beschluss vom 7. Oktober 2025 (Az. Au 1 S 25.35775). Immerhin würden vom griechischen Staat sowie von NGOs „zahlreiche, speziell auf Frauen zugeschnittene Programme“ angeboten, um die elementaren Grundbedürfnisse von weiblichen Schutzberechtigten zu decken. Anders sieht es dagegen das Verwaltungsgericht Aachen in seinem Beschluss vom 8. Oktober 2025 (Az. 10 L 851/25.A), weil weibliche Schutzberechtigte eben nicht mit männlichen Schutzberechtigten gleichgesetzt werden könnten.

    Die Rechtsprechung ist nicht nur in dieser Woche uneinheitlich, die Mehrzahl der Verwaltungsgerichte scheint aber bislang davon auszugehen, dass alleinstehende Frauen und Ehepaare nicht von der Griechenland-Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfasst werden.

  • Rechtsmittel eines tadschikischen IS-Mitglieds erfolglos

    Auch das Oberverwaltungsgericht Münster hat keine Einwände gegen die bevorstehende Abschiebung eines tadschikischen IS-Mitglieds nach Tadschikistan und berichtet in einer Pressemitteilung vom 9. Oktober 2025 darüber, dass es sowohl einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Münster aus dem August 2025 abgelehnt hat, in dem das Verwaltungsgericht den Widerruf eines Abschiebungsverbots für rechtmäßig gehalten hatte, als auch den Wegfall der aufschiebenden Wirkung der Klage des Betroffenen gegen eine Abschiebungsandrohung für rechtmäßig gehalten hat.

    Der HRRF-Newsletter hatte bereits im September 2025 über diese Verfahren berichtet, in denen es nicht zuletzt auch um die Frage ging, wie belastbar eine diplomatische Zusicherung Tadschikistans ist, den Betroffenen menschenrechtskonform zu behandeln.

  • Flüchtlingsschutz für homosexuellen russischen Wehrpflichtigen

    Homosexuellen Wehrpflichtigen droht in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine landesweite Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG durch Misshandlungen im Rahmen der Ableistung des Wehrdienstes, die an die sexuelle Orientierung und damit entsprechend § 3a Abs. 3 AsylG an einen Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpft, sagt das Verwaltungsgericht Schleswig in seinem Urteil vom 12. September 2025 (Az. 16 A 122/23).

    Flüchtlingsschutz für einen homosexuellen Mann aus Russland hatte zuletzt etwa auch das Verwaltungsgericht Potsdam in seinem Urteil vom 1. August 2024 (Az. 6 K 1975/22.A) zugesprochen. Dort ging es aber, anders als hier, nicht auch um die Ableistung des Wehrdienstes.

  • Heißer Herbst in Leipzig

    In der Terminsliste des Bundesverwaltungsgerichts finden sich für den Rest des Jahres drei Verhandlungstermine, die hier von Interesse sind:

    • Am 23. Oktober 2025 soll eine weitere Tatsachenrevision in einem asylrechtlichen Verfahren verhandelt werden, das Griechenland betrifft (Az. 1 C 11.25). Der Unterschied zu den zwei schon vorliegenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts über Tatsachenrevisionen zu Griechenland scheint darin zu bestehen, dass es jetzt um einen syrischen Schutzberechtigten geht, der in Griechenland Teil einer „zahlenmäßig starken Einwanderungsgruppe aus demselben Sprach- und Kulturkreis“ (nämlich Syrien) war. Da das Bundesverwaltungsgericht das Vorliegen systemischer Mängel in Griechenland für arbeitsfähige, gesunde und alleinstehende junge männliche Schutzberechtigte schon bisher nicht angenommen hat, ist nicht ersichtlich, was diese weitere Tatsachenrevision Neues bringen soll, aber vielleicht übersehe ich hier auch etwas (und freue mich in diesem Fall über sachdienliche Hinweise aus der Leserschaft).
    • Am 20. November 2025 wird im Rahmen einer Sprungrevision die Frage verhandelt, ob für die Bescheidung eines Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens betreffend eine Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG, beide im Asylverfahren erlassen, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder die Ausländerbehörde sachlich zuständig ist (Az. 1 C 28.24).
    • Am 18. Dezember 2025 geht es, ebenfalls im Rahmen einer Sprungrevision, um die Einbürgerung eines syrischen Staatsangehörigen (Az. 1 C 27.24), bei der das Verwaltungsgericht Düsseldorf in einem Urteil vom 18. November 2024 (Az. 8 K 1997/23) für die Identitätsklärung die Vorlage einer amtlichen syrischen Identitätskarte statt eines syrischen Reisepasses für ausreichend gehalten hatte.
  • Links zur GEAS-Reform

    Auch wenn die gedruckte Textausgabe zur GEAS-Reform 2024 natürlich unverzichtbar ist, gibt es doch auch Online-Quellen, die für die tägliche Arbeit mit der Reform und mit den Rechtstexten wichtig sind. Hier werden die wichtigsten Links gesammelt. Beschlossene EU-Rechtsakte Die folgenden…

  • Aktuelle EuGH-Urteile vom 1.8.2025

    Etwas zu spät für den HRRF-Newsletter an diesem Freitag hat der Europäische Gerichtshof heute Mittag drei Urteile zum europäischen Flüchtlingsrecht verkündet. Alle drei Urteile sind mittlerweile in deutscher Sprache verfügbar, zu zwei der drei Urteile gibt es außerdem deutschsprachige Pressemitteilungen…

  • Monatsübersicht Mai 2025

    Die HRRF-Monatsübersicht für Mai 2025 ist zum Download verfügbar und bietet auf zehn Seiten eine praktische Zusammenfassung aller im Monat Mai 2025 im HRRF-Newsletter vorgestellten Entscheidungen. Highlights dieser Monatsübersicht sind:

ISSN 2943-2871