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Schablonenhafte Entscheidungsfindung

Es ist wohl keine große Überraschung, nicht einmal für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass Georgien kein sicherer Herkunftsstaat sein kann, und dass es in der Türkei rechtsstaatswidrige und willkürliche Strafverfahren gibt. Daneben geht es in dieser Woche um die juristische Aufarbeitung eines tödlichen Schusswaffeneinsatzes in der Ägäis im Jahr 2015, drohende Blutrache, die Berücksichtigung ausländischer Flüchtlingsanerkennungen „in vollem Umfang“, Sekundärmigration ukrainischer Staatsangehöriger, isolierte Titelerteilungssperren und Wohnungsdurchsuchungen.

  • Erhebliche Zweifel an Georgien als sicherem Herkunftsstaat

    Die 31. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin hat es schon wieder getan: Bereits im vergangenen Jahr hatte sie die Einstufung des Senegal als sicheren Herkunftsstaat angezweifelt und ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof auf den Weg gebracht (siehe ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 142 und Nr. 175), jetzt ist Georgien an der Reihe. In zwei Beschlüssen vom 11. März 2025 (Az. 31 L 473/24 A und 31 L 475/24 A), über die das Gericht auch in einer Pressemitteilung vom 21. März 2025 berichtet, werden erhebliche Zweifel daran angemeldet, dass Georgien vom deutschen Gesetzgeber Ende 2023 zu Recht als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 29a AsylG eingestuft wurde. Der Europäische Gerichtshof habe im Oktober 2024 (Urteil vom 4. Oktober 2024, Rs. C-406/22, siehe dazu ausführlich HRRF-Newsletter Nr. 166) entschieden, dass ein Staat nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden dürfe, wenn nicht sein gesamtes Staatsgebiet sicher sei. Dieses Urteil sei auch auf Georgien anwendbar, das keine Kontrolle über seine zwei Landesteile Südossetien und Abchasien ausüben könne. In beiden Gebieten sei die Menschenrechtslage, etwa in Bezug auf das Rückkehrrecht von Geflüchteten, mangelnde Freizügigkeit, politische und religiöse Freiheiten und ethnische Diskriminierungen, derart prekär, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die europarechtlichen Vorgaben für die Bestimmung als sicherer Herkunftsstaat dort erfüllt seien. Ob Georgien vor dem Hintergrund einer möglichen Verfolgung von LGBTIQ*-Personen die Vorgaben für die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat außerdem auch in personeller Hinsicht nicht erfülle, könne darum offenbleiben.

  • Rechtsstaatswidrige Strafverfahren in der Türkei

    Wenn ein Staat wie die Türkei nicht willens ist, in politisierten Strafverfahren rechtsstaatliche Grundsätze zu beachten, dann steht betroffenen Personen grundsätzlich Flüchtlingsschutz gemäß §§ 3 ff. AsylG zu, sagt das Verwaltungsgericht Köln in seinem Beschluss vom 20. März 2025 (Az. 22 L 550/25.A). Bereits der Umstand, dass eine Person einem nicht rechtsstaatlichen und willkürlichen Strafverfahren ausgesetzt werde, sei von flüchtlingsschutzrechtlicher Relevanz. In der Türkei sei eine „sehr lockere Anwendung“ des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu beobachten, was zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür führe, der das Wesen des Rechtsstaates gefährde. Die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern in der Ausübung ihrer Ämter werde tatsächlich durch einfachgesetzliche Regelungen und politische Einflussnahme unterlaufen, in der Folge komme es in konkreten Strafverfahren zu einer „schablonenhaften Entscheidungsfindung“ ohne Bezugnahme auf den konkreten Fall.

  • (Keine) Verletzung des Rechts auf Leben nach tödlichem Schusswaffeneinsatz auf See

    In seinem Urteil vom 25. März 2025 (Az. 22776/18) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Tötung eines minderjährigen Schutzsuchenden nach einem Schusswaffeneinsatz beim Aufbringen eines Flüchtlingsboots durch die griechische Küstenwache im August 2015 aufgearbeitet. Griechenland habe das Recht des Getöteten auf Leben (Art. 2 EMRK) verletzt, weil der Einsatz der Küstenwache nicht sorgfältig geplant worden und die Küstenwache nicht gut vorbereitet gewesen sei. Der Schusswaffengebrauch als solcher habe Art. 2 EMRK dagegen nicht verletzt, so die Mehrheit der Richterinnen und Richter, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass er über das „absolut Notwendige“ hinausgegangen und somit unnötig übermäßige Gewalt angewandt worden sei. Das wiederum kritisiert Richter Hüseynov in einem Sondervotum und schlägt eine Beweislastumkehr vor, wonach von einer Verletzung des Rechts auf Leben ausgegangen werden müsse, sofern nicht nachgewiesen werden könne, dass die angewandte tödliche Gewalt absolut notwendig gewesen sei. Dies müsse insbesondere in Fällen wie im entschiedenen Verfahren gelten, in denen die innerstaatliche Untersuchung der Anwendung tödlicher Gewalt mit schweren Mängeln behaftet gewesen sei.

  • Drohende Blutrache führt nicht zur Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe

    Eine Person, der in ihrem Herkunftsland Blutrache droht, weil sie einer Familie angehört, die in einen Streit vermögensrechtlicher Natur verwickelt ist, kann nicht allein aus diesem Grund als einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 der EU-Qualifikationsrichtlinie zugehörig betrachtet werden, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. März 2025 (Rs. C-217/23). Voraussetzung dafür sei zusätzlich, dass die Person in ihrem Herkunftsland nicht nur von den Angehörigen der in diese Blutfehde verwickelten Familien, sondern auch von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet werde, was durch konkrete Anhaltspunkte wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden müsse.

  • Ausländische Flüchtlingsanerkennung „in vollem Umfang“ zu berücksichtigen

    Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 24. März 2025 über seine drei noch nicht im Volltext vorliegenden Urteile vom selben Tag (Az. 1 C 5.24, 1 C 6.24, 1 C 7.24), in denen es in Anwendung der vom Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 18. Juni 2024 (Rs. C-753/22) (siehe dazu ausführlich auch HRRF-Newsletter Nr. 150) aufgestellten Grundsätze entschieden hat, dass sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen EU-Staat als auch die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Anhaltspunkte bei einem nachfolgend in Deutschland gestellten Asylantrag „in vollem Umfang“ zu berücksichtigen sind. Sofern eine solche Berücksichtigung nicht bereits im Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt sei, hätten die Verwaltungsgerichte eine entsprechende Prüfung vorzunehmen. Sofern sich dann die Einholung weiterer Informationen als erforderlich erweise, etwa seitens der Behörden des anderen Mitgliedstaats, müsse das Bundesamt daran mitwirken.

    Ohne Kenntnis der Volltexte dieser drei Urteile ist einigermaßen unklar, wie sich das Bundesverwaltungsgericht eine Berücksichtigung „in vollem Umfang“ genau vorstellt, gerade weil es die Berücksichtigung unter den Vorbehalt der Erforderlichkeit zu stellen scheint. Kürzlich hat etwa das Verwaltungsgericht Gießen gezeigt (siehe HRRF-Newsletter Nr. 187), wie man den an sich erforderlichen Informationsaustausch zwischen nationalen Behörden in der Praxis ignorieren kann, nämlich unter Rückgriff auf § 46 VwVfG.

  • Sekundärmigration ukrainischer Staatsangehöriger erlaubt

    Weder der Aufenthalt noch die vorläufige Schutzgewährung ukrainischer Staatsangehöriger in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft stehen einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG entgegen, meint das Verwaltungsgericht Darmstadt in seinem Beschluss vom 17. Februar 2025 (Az. 6 L 2667/24.DA). Es gebe bereits keine europarechtlichen Regelungen, die eine Weiterwanderung vorläufig Schutzberechtigter untersagten; die Anwendungshinweise des BMI zur Gewährung vorübergehenden Schutzes in der Fassung vom 30. Mai 2024 gingen in ihrer Ziffer 8.7 ebenso davon aus, dass eine Weiterwanderung zulässig sei.

  • Keine isolierte Titelerteilungssperre

    Das Bundesverwaltungsgericht berichtet in einer Pressemitteilung vom 24. März 2025 über sein noch nicht im Volltext vorliegendes Urteil vom selben Tag (Az. 1 C 15.23), in dem es die Zulässigkeit einer generalpräventiven Ausweisung trotz eines bestehenden Abschiebungsverbots bejaht hat, eine isolierte Titelerteilungssperre ohne Einreise- und Aufenthaltsverbot hingegen für rechtswidrig hält. Das hatte die Vorinstanz (siehe HRRF-Newsletter Nr. 114) bereits ähnlich gesehen.

  • Bloßes Betreten immer noch keine Wohnungsdurchsuchung

    Mit Beschluss vom 8. Januar 2025 (Az. 1 B 20.24) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. Februar 2024 (Az. 3 B 17/22) zurückgewiesen, in dem das Vorliegen einer Wohnungsdurchsuchung gemäß Art. 13 Abs. 2 GG beim Betreten eines Wohnheimzimmers verneint wurde. Es sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits geklärt, dass sich eine Durchsuchung nicht im bloßen Betreten einer Wohnung erschöpfe, sondern darüber hinaus ein ziel- und zweckgerichtetes Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen erforderlich sei (siehe dazu HRRF-Newsletter Nr. 100), so dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe. Mit Beschluss vom 13. Februar 2025 (Az. 1 B 3.25) hat das Bundesverwaltungsgericht auch eine Anhörungsrüge gegen seinen Beschluss aus dem Januar 2025 zurückgewiesen.

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ISSN 2943-2871