Häusliche Gewalt kann Verfolgung im Sinne der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU darstellen, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Januar 2024 (Rs. C-621/21). Das Übereinkommen von Istanbul (d.h. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011) binde die Europäische Union seit dem 1. Oktober 2023 und enthalte Verpflichtungen, die das gemeinsame europäische Asylsystem beträfen.
Unter diesen Umständen seien die Bestimmungen der EU-Qualifikationsrichtlinie unter Beachtung des Übereinkommens von Istanbul auszulegen, auch wenn dieses Übereinkommen nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sei. Gemäß Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens müsse Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, außerdem verlange Art. 60 Abs. 2 dieses Übereinkommens von den Vertragsparteien, sicherzustellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt würden und dass in Fällen, in denen festgestellt werde, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet werde, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus zuerkannt werde.
Dies bedeute für die Auslegung der EU-Qualifikationsrichtlinie, dass der Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt bezeichnen könne als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilten, und zwar im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen könne. Wenn eine schutzsuchende Person angebe, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, sei für die erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung ausreichend, dass eine Verknüpfung zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und dem Fehlen von Schutz durch die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Akteure festgestellt werden könne. Ein „ernsthafter Schaden“ im Sinne von Art. 15 der EU-Qualifikationsrichtlinie umfasse schließlich die tatsächliche Drohung gegenüber der schutzsuchenden Person, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden.