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Im Einzelnen bezeichnet

Häusliche Gewalt kann einen Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz begründen, die griechische Küstenwache darf keine Flüchtlinge erschießen und gerichtliche Eilanträge sollen Dublin-Überstellungsfristen jedenfalls in Italien-Fällen nicht unterbrechen. Außerdem geht es in dieser Woche um Anforderungen an gerichtliche Erkenntnismittellisten, ein naturschutzrechtliches Baumfällverbot und asylgerichtliche Statistik und gibt es mit der heutigen Ausgabe eine neue Rubrik „Anderswo im Internet“ im HRRF-Newsletter, die auf frei zugängliche Online-Quellen hinweist, die sich mit Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht beschäftigen. Den Auftakt machen diesmal Hinweise zu Blog-Beiträgen über die Missachtung der Rechte von Schutzsuchenden in Malta und Belgien sowie die Vorstellung der Dublin-Liste, einer Mailingliste, die ein Forum für den Austausch zu Dublin-Fällen bietet.

  • EuGH präzisiert Voraussetzungen für internationalen Schutz wegen häuslicher Gewalt

    Häusliche Gewalt kann Verfolgung im Sinne der EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU darstellen, sagt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 16. Januar 2024 (Rs. C-621/21). Das Übereinkommen von Istanbul (d.h. das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011) binde die Europäische Union seit dem 1. Oktober 2023 und enthalte Verpflichtungen, die das gemeinsame europäische Asylsystem beträfen.

    Unter diesen Umständen seien die Bestimmungen der EU-Qualifikationsrichtlinie unter Beachtung des Übereinkommens von Istanbul auszulegen, auch wenn dieses Übereinkommen nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sei. Gemäß Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens müsse Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, außerdem verlange Art. 60 Abs. 2 dieses Übereinkommens von den Vertragsparteien, sicherzustellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt würden und dass in Fällen, in denen festgestellt werde, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet werde, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus zuerkannt werde.

    Dies bedeute für die Auslegung der EU-Qualifikationsrichtlinie, dass der Begriff der „bestimmten sozialen Gruppe“ je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt bezeichnen könne als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilten, und zwar im Sinne eines Verfolgungsgrundes, der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen könne. Wenn eine schutzsuchende Person angebe, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, sei für die erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung ausreichend, dass eine Verknüpfung zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und dem Fehlen von Schutz durch die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie genannten Akteure festgestellt werden könne. Ein „ernsthafter Schaden“ im Sinne von Art. 15 der EU-Qualifikationsrichtlinie umfasse schließlich die tatsächliche Drohung gegenüber der schutzsuchenden Person, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden.

  • Menschenrechtswidriger Schusswaffengebrauch gegenüber Schutzsuchenden auf See

    Auch die griechische Küstenwache darf nicht einfach so Menschen auf Flüchtlingsbooten erschießen, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 16. Januar 2024 (Az. 3566/16, Alkhatib u.a. gg. Griechenland), zu dem das Gericht auch eine Pressemitteilung veröffentlicht hat. Bei dem Versuch, im September 2014 ein Flüchtlingsboot in der Ägäis zu stoppen, hatten Beamte der griechischen Küstenwache Schüsse auf das Boot abgegeben, ein syrischer Flüchtling erlitt einen Kopfschuss und starb später an den Folgen dieser Verletzung, ein Ermittlungsverfahren gegen die Beamten der Küstenwache wurde eingestellt. Griechenland, so der EGMR, habe das Recht des getöteten Flüchtlings auf Leben (Art. 2 EMRK) verletzt und übermäßige Gewalt angewendet, außerdem seien die Ermittlungen zu dem Vorfall unzureichend gewesen und hätten gravierende Mängel aufgewiesen. Der Witwe und den Kindern des Getöteten hat der Gerichtshof eine Entschädigung in Höhe von 80.000 Euro zugesprochen. Pro Asyl hat sich in einer Pressemitteilung ebenfalls zu dem Urteil geäußert.

  • Eilanträge unterbrechen Überstellungsfristen in Italien-Fällen nicht

    Rechtsanwalt Marcel Keienborg weist in einem Blog-Beitrag auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. November 2023 (Az. 12 L 2970/23.A) hin, in dem das Gericht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. September 2022 (Rs. C-245/21 u. C-248/21), in dem es um die Auswirkungen der praktischen Unmöglichkeit einer Dublin-Überstellung wegen der Corona-Pandemie auf den Lauf der Überstellungsfrist ging, auf die aktuelle Situation von Dublin-Überstellungen nach Italien überträgt. Zwar beginne die Überstellungsfrist an sich erst mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung, etwa eines gerichtlichen Eilantrags, diese Regelung sei aber auf die derzeitige Situation zu Italien nicht anwendbar: Die Weigerung Italiens zur Aufnahme von Schutzsuchenden führe zu einer praktischen Unmöglichkeit von Dublin-Überstellungen, die den Lauf von Überstellungsfristen demnach (nämlich gemäß der EuGH-Rechtsprechung) gerade nicht unterbreche (so dass gerichtliche Eilanträge keine Auswirkungen auf den Fristablauf haben). Das VG Düsseldorf will ersichtlich auch die aktuellen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Dublin-Rechtsprechung in Nordrhein-Westfalen (siehe etwa HRRF-Newsletter Nr. 127) entkräften, und das mit einem gar nicht so schlechten Argument.

  • Anforderungen an gerichtliche Erkenntnismittellisten

    Der bloße Verweis auf die Website ecoi.net in der Ladung zur mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Asylverfahren genügt nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Einführung von Erkenntnismitteln, meint das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seinem Beschluss vom 8. Januar 2024 (Az. 9 LA 233/21). Erkenntnismittel seien „im Einzelnen bezeichnet“ zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, damit sich die Beteiligten dazu äußern könnten. Einem pauschalen Hinweis auf ecoi.net sei nicht zu entnehmen, um welche Erkenntnismittel es sich im Einzelnen handele, zudem sei unklar, auf welchen Zeitpunkt der auf ecoi.net veröffentlichen Erkenntnismittel das Gericht bei seiner Entscheidung abstellen wolle.

  • Naturschutzrechtliches Baumfällverbot zur Verhinderung einer Flüchtlingsunterkunft wohl rechtswidrig

    Das Verwaltungsgericht Berlin informiert in einer Pressemitteilung vom 11. Januar 2024 über seine Eilentscheidung vom 9. Januar 2024 (Az. VG 24 L 305/23), in dem es ein vom Bezirksamt Pankow von Berlin erlassenes, sofort vollziehbares generelles Fällverbot für Bäume, die dem Neubau einer Flüchtlingsunterkunft weichen sollen, für voraussichtlich rechtswidrig hält. Unter anderem sei sich das Bezirksamt vermutlich nicht über sein Ermessen im Klaren gewesen, habe den zugrundeliegenden Sachverhalt nicht hinreichend ermittelt (sondern sich lediglich auf ein von einer Anwohnerinitiative erstelltes Artenschutzgutachten verlassen) und die geplanten Fällungen auf unbestimmte Dauer untersagt und damit eine denkbar weitreichende Maßnahme gewählt, ohne weiter darzulegen, welche konkreten Maßnahmen zur Aufklärung und Bewertung des Sachverhalts es zu ergreifen gedenke und wieviel Zeit es hierfür benötige. Das Verwaltungsgericht weist in seiner Pressemitteilung auch darauf hin, dass das Bezirksamt am 10. Januar 2024, d.h. nur einen Tag nach der gerichtlichen Entscheidung, erneut ein sofort vollziehbares Fällverbot erlassen habe, wogegen sich die betroffene landeseigene Wohnungsbaugesellschaft in einem weiteren Eilverfahren (Az. VG 24 L 6/24) wende.

  • Vermischtes vom Bundesverwaltungsgericht

    Mit Beschluss vom 12. Dezember 2023 (Az. 1 B 45.23) hat das Bundesverwaltungsgericht eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 22. August 2023 (Az. 11 A 50/23.A) zurückgewiesen. In dem Verfahren ging es um die Zulässigkeit der Rückführung von in Bulgarien anerkannten Schutzberechtigten nach Bulgarien, die Revision hatte erfolglos versucht, unter anderem einen Verstoß gegen die Denkgesetze bei der Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das OVG geltend zu machen.

  • Bundesregierung zur asylgerichtlichen Statistik

    Mit Antwort vom 28. Dezember 2023 (BT-Drs. 20/9933) hat die Bundesregierung eine Kleine Anfrage im Bundestag beantwortet, in der es um Asylstatistik und asylgerichtliche Verfahren für das Jahr 2023 ging. Die Antwort enthält wie üblich zahlreiche Zahlenangaben zu asylgerichtlichen Entscheidungen, etwa zur durchschnittlichen Dauer von Klageverfahren für Herkunftsländer mit einer Gesamtschutzquote von unter 5 Prozent (12,9 Monate), die durchschnittliche Dauer von gerichtlichen Eilverfahren für Herkunftsländer mit einer Gesamtschutzquote von unter 5 Prozent (35,3 Tage), die Klagequote gegen ablehnende BAMF-Bescheide (88,3%) und die Verwaltungsgerichte mit den meisten anhängigen Verfahren: Spitzenreiter ist das VG Berlin mit 9.729 Verfahren, auf den beiden Plätzen dahinter das VG Düsseldorf mit 5270 Verfahren und das VG München mit 5.139 Verfahren.

  • Malta: Systematische Menschenrechtsverletzungen an Schutzsuchenden

    Im Blog Strasbourg Observers wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Oktober 2023 (Az. 12427/22, A.D. gg. Malta) in einem Beitrag ausführlich analysiert. In dem Urteil ging es (siehe HRRF-Newsletter Nr. 118) um die menschenrechtswidrige Inhaftierung eines minderjährigen Schutzsuchenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Malta, so der Beitrag, verletze seine aus der EMRK folgenden Verpflichtungen gegenüber Schutzsuchenden absichtlich und systematisch, und das seit über zehn Jahren.

  • Belgien: Systematische Menschenrechtsverletzungen an Schutzsuchenden

    Das Verfassungsblog bespricht, wie die belgischen Behörden eine Vielzahl von nationalen und internationalen Gerichtsentscheidungen systematisch missachten und ignorieren, wenn sie die Rechte von Schutzsuchenden auf Aufnahme und Unterbringung in Belgien betreffen (siehe etwa HRRF-Newsletter Nr. 48, 70, 72, 77, 98 und 105). Es handele sich um eine innenpolitisch motivierte bewusste Verweigerung der Gewährung von Grund- und Menschenrechten, die nicht nur gravierende humanitäre Folgen für die Betroffenen habe, sondern auch eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in Belgien konstituiere. Amnesty International setzt sich derzeit übrigens in einer Eilaktion für die Rechte von Schutzsuchenden in Belgien ein.

  • Newsletter-Hinweis: Dublin-Liste

    Der HRRF-Newsletter ist nicht allein auf dieser Welt. Ganz im Gegenteil existieren in den Weiten des Internets auch zahlreiche andere vorzügliche Informationsquellen, die über Rechtsprechung zum Flüchtlingsrecht berichten und die hier von Zeit zu Zeit kurz vorgestellt werden sollen. Den Anfang macht die Dublin-Liste, eine von Rechtsanwalt Dominik Bender (Frankfurt/Main) und Maria Bethke (Diakonie Hessen) betreute Mailingliste, die ein Forum für Akteure (nämlich insbesondere Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von NGOs und Kirchen sowie Ehrenamtliche) bereitstellt, die sich für Dublin-Betroffene einsetzen. In der Mailingliste findet ein Austausch zu Rechtsprechung und Verfahrensweisen in Dublin-Fällen statt, eine Anmeldung ist unter https://anwalt-bender.de/dublin-liste/ möglich.

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ISSN 2943-2871